Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Der Kapitän behauptete, daß er so einen Menschen wie mich (er drückte sich englisch aus und sagte Gentleman), solange er fahre, noch nicht auf seinem Schiffe gehabt habe. Er war eigens meinetwegen heruntergekommen, um mich hinaufzuholen und auch mir die Berge von Angra Pequena auf unserer Leeseite zu zeigen, und ich hatte nur geantwortet: »Komme gleich«, und hatte vergessen zu kommen und hatte den braven Alten nicht einmal davon benachrichtigt, daß ich diese Berge bereits kenne. – Ich wollte nach seiner Hand greifen, nicht nach der des Kapitäns, sondern nach der Stopfkuchens, als er, Heinrich, mir warnend zunickte und mit dem Daumen kurz zur Seite deutete. Da sah ich, daß wir beide jetzt nicht mehr allein neben dem Sarge standen.

Es war eine Frau, auch mit einem Kinde auf dem Arme und einem anderen an der Schürze, aus der Stube gekommen und stand verweinten Gesichts, verlegen-verwundert, und sagte: »Guten Tag, die Herren! das ist doch zu gütig von Ihnen. Ja, da liegt nun der Vater! so ein guter Mann für uns! Sie kenne ich wohl, auch durch Ihre liebe Frau, Herr Schaumann; aber der andere Herr, der uns hier auch die Ehre schenkt in unserem Kummer, hat er ihn auch gekannt, unsern lieben Großvater?«

»Freilich, liebe Frau Störzer. Es ist ja recht, Sie haben erst nachher hier ins Haus geheiratet: dieser Herr hat seinerzeit den Schwiegerpapa ganz gut gekannt, wenn auch nicht so gut wie ich. Das ist wohl Ihr Kleiner da auf dem Arm – der Enkel? und hier am Rock die Enkelin?«

»Ja, ja, liebe Herren! und wir drei sind nun nur noch allein übrig und wissen heute noch nicht in unserer Verlassenheit, was aus uns werden soll, da der Großvater nicht mehr da ist. Wer hätte das so schnell für möglich halten sollen? Er war noch so rüstig zu Fuße! Er hätte gut noch manch liebes Jahr gehen können in seinem Amte! Es war ja immer eine Verwunderung hier im Viertel über ihn und sein Stolz dazu, daß er immer noch auf den Beinen sich hielt wie der jüngste.«

»Nun, das kann in einem Alter wie das seinige freilich nicht jeder von sich behaupten, und das ist doch auch ein Trost, liebe Frau; und das übrige wird sich ja auch wohl finden und machen. So eine rüstige, junge Frau – bloß mit einem auf dem Arm und einem an der Schürze! Man schlägt sich schon durch, und im Notfall helfen auch wohl andere. Was hat er denn für einen Tod gehabt, Frau Störzer?«

»Ja, Gott sei wenigstens dafür Dank! einen recht guten! ... Viel leiden hat er nicht müssen, sagt der Herr Doktor. Und das soll man ihm auch wohl gönnen; denn auf der Seele hat ihm wohl nichts zu schwer gelegen. Daß aber jetzt grade Sie so gütig sind und hier zu uns an sein letztes Ruhebett treten, das ist mir fast wie eine Schickung, Herr Schaumann. Nämlich grade bei Ihnen, Herr Schaumann, oder auf Ihrer roten Schanze ist er in seinen letzten Tagen und Stunden recht häufig anwesend gewesen. Er hat immerfort nach der Schanze hinausgewollt: da hätte er noch eine wichtige Sache und Bestellung. Davon hat er immerzu gesprochen und von einer Bestellung bei Ihnen, das heißt bei Ihrem seligen Herrn Schwiegervater, dem seligen Herrn Quakatz, dem man – nun Sie wissen ja und nehmen's wohl nicht übel – geredet. Wir mochten ihm zusprechen, wie wir wollten; er ist immer dabei geblieben, daß er nach der roten Schanze hinaus müßte: er hätte da noch etwas abzugeben gegen Quittung. Aber dies waren auch seine unruhigsten Einbildungen, und dabei ist er zuletzt, ohne daß es einer gemerkt hat, sanft eingeschlafen.«

Heinrich zuckte die Achseln, sah mich an und nach den Kinder-, Weiber- und Altmännergesichtern, die in der Haustür auf den Sarg gafften. Er deutete auch nach diesen hin und fragte: »Nun, was ist deine Meinung, Eduard? Seinen Schlaf störe ich nicht dadurch: soll ich jetzt die Welt da von der Gasse hereinrufen an sein Kissen? Soll ich nun selber von dieser Stelle aus ore rotundo das Geheimnis ihr kundmachen? Oder findet sich doch noch ein passenderes Organ der Mitteilung? Oder – vielleicht – wünschest du selber –«

Ich brauchte nicht zu antworten, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Der Mann von der roten Schanze nahm meinen Arm, sagte der Schwiegertochter des Seligen noch einige tröstende Worte, die sich auf den Gemüsegarten, den Butter- und Eierhandel von Quakatzenburg bezogen, tätschelte die Enkel auf die Köpfe, und so traten wir wieder hinaus in die Welt vor der Tür, schritten durch die Gaffer und brachten den Abendhimmel nicht zum Einfallen über dem Sankt Matthäusviertel.

Ja, ich selber! in der nächsten Gasse erst fragte ich, aus meiner Betäubung durch einen halben Welteinsturz erwachend: »Was nun? Wohin nun? Willst du mich in meinen Gasthof begleiten, Heinrich?«

»In deinen Gasthof? Hm! Wieder in ein Privatzimmer daselbst? Hm, hm! Weißt du, Eduard, ich bin so lange nicht aus dem Kasten gekommen, habe seit Jahren in keiner echten und gerechten Kneipe gesessen: ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht bei meinem alten Mädchen zu Hause, unter unsern Bäumen, hinterm Ofen, hinter unsern Wällen, kurz im Kasten! Aber jetzt spüre ich das Bedürfnis danach, die Ellbogen so auf so einen Tisch am Wege zu stemmen und das Leben durch die große Gaststube und auf der allgemeinen Landstraße vorbeipassieren zu sehen. Komm, Alter, wir sitzen vor deinem Abschied und deiner Abreise noch einmal im Goldenen Arm!«

Ich sah noch alles nur wie durch einen Schleier: die Gassen, die mit uns gehenden oder uns begegnenden Menschen, vernahm die Stimmen, das Wagengerassel wie im Traume und fand mich plötzlich wirklich an einem Fenstertisch im Goldenen Arm sitzend, indem ich Stopfkuchen pustend Platz nehmen sah und ihn aufatmend seufzen hörte: »So!« Und nach einer Weile: »Ja, ja, ja, ja, wer erschlug den Hahn Gockel?«


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