Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Als wir uns der Gegend näherten, fiel es mir recht aufs Herz, wie gut bekannt ich vor Zeiten daselbst gewesen war, wie gute Freunde ich auch dort gehabt hatte, und was nun alles zwischen den Kindertagen und dem heutigen Tage für mich lag.

Herrgott, und auch Störzer! fiel mir ein. Auch der! Und du wolltest wieder an ihm vorbeigehen? Der Gedanke kam mir wirklich zur rechten Zeit. Was ich nach der Nachricht vom Brummersumm her versäumt hatte, konnte ich ja jetzt noch nachholen und dem alten, treuen Freund einen Besuch abstatten. Er war in seinem Leben und Berufe fünfmal um die Erde gewesen, ohne von Hause fortgekommen zu sein: nun konnte ich, den seine Lebensfahrten so weit von Hause weggeführt hatten, doch noch einmal im Vorbeigehen bei ihm eintreten und ihm vielleicht überm untern Ende des Sarges die Hand auf die müden Füße legen.

Ich nahm den Arm meines Führers: »Heinrich, ich erinnere mich eben! Es sind kaum hundert Schritte weit. Da liegt sein Haus –«

»Wessen Haus?«

»Jawohl, du hast recht mit der Frage. Der Mensch kommt nie über den Egoismus weg, alles nur in seinen eigenen Gedankenzusammenhang hineinzuziehen. Eben fällt mir ein, daß der alte, selige Freund, mein alter Landstraßenfreund Fritz Störzer dort hinter dem Buschwerk liegt. Wenn es dir nicht ein zu weiter Umweg ist, Heinrich, so laß uns einen Augenblick abbiegen. Jetzt möchte ich dem alten zur Ruhe gelangten Wanderer doch noch einen Besuch machen. Was du nachher noch zu sagen hast, weiß ich ja noch nicht; aber sei deine Rätsellösung auch noch so grimmig, ich glaube, ich kann mir ein Stück beruhigender Anteilnahme jetzt am besten von dorther holen.«

»Wenn du meinst? Ei wohl, das ist sein Schornstein hinter den Baumwipfeln. Der brave Störzer! Nun, Zeit haben wir zu dem, was du meine Rätsellösung nennst, nachher immer noch, und ein großer Umweg zu dem alten, guten Kerl ist's gerade auch nicht. Ich bin ganz zu deiner Verfügung.«

So bogen wir ab von dem »Wall«, hatten aber gerade jetzt noch einem Ehepaar, das mit Töchtern seinen Abendspaziergang um ihn herum machte und den dicken Schaumann auch kannte, Rede zu stehen auf die verwunderte Frage: »Herrje, wie kommt denn das, daß man Sie einmal in der Stadt sieht?«

»Es macht sich eben so«, erwiderte Stopfkuchen gemütlich. »Ich weiß im Grunde eigentlich auch selber nicht, wie ich zu dem Vergnügen komme.«

Es war ein Glück, daß unser Weg zur Seite ab in das am wenigsten respektable Viertel der Stadt führte; die Herrschaften würden uns sonst wohl gern ein Stück weit drauf begleitet haben: diese Begegnung war doch zu interessant! –

Es gibt viele Unmündige in jenem, durchaus nicht nach dem Muster größerer Städte unfreundlichen, unheimlichen Stadtteile; und sie befanden sich um diese liebe Abendstunde natürlich alle in den Gäßchen und Sackgäßchen. Vollkommene Rührung überkam mich nun, wie ich daran dachte, wie lange und doch wie kurz es her sei, daß auch ich, und zwar unter den Augen Störzers, hier die Rinnsteine abgedämmt und den Leuten den Weg versperrt habe. Und noch immer standen die Mütter mit den Kleinsten auf dem Arm in den Haustüren, und noch immer roch es nach Eierkuchen und Ziegenställen, und noch immer wurde Salat gewaschen. Der symbolische Begleiter des Evangelisten Matthäus ist ja eigentlich ein recht schöner Engel; aber im Sankt Matthäusviertel, da war und ist das nicht der Fall. Da ist es das Schwein, das Haupt-Segens- und –Glückstier des »kleinen Mannes«, und man hörte es behaglich grunzen aus einem nähern oder fernern Stall. Es roch auch wohl nach ihm; aber – mir sollte einer im Viertel Matthäi am letzten mit Kölnischem Wasser und dergleichen kommen! zumal in einer Zeit, wo auch die türkische Bohne noch blühte – rot! das schönste Rot der Erde – ein Wunder von Schönheit und Nutzbarkeit, wenn sie sich zwischen den Häusern des kleinen Mannes über die Zäune hängt oder hinter denselben an ihren Stangen sich aufrankt. Man muß freilich eben für dies alles riechen, sehen und fühlen können; und wer das nicht kann, der gehe hin und werde Liebhaber-Photograph. Es ist aber nicht nötig, daß er sich selber photographieren lasse, ich habe ihn schon in meinem Album in Südafrika, und der dicke Schaumann hat ihn auch in dem seinigen auf seiner Schanze Quakatzenburg. –

Von der abendlichen Stille draußen im freien Felde habe ich schon geschrieben; aber die friedlichste Landschaft macht längst nicht den Eindruck der Ruhe wie so ein Gäßchen am Feierabend bei den »kleinen Leuten«, wie man sich heute ausdrückt; oder »an der Mauer«, nämlich an der Stadtmauer, wie man im Mittelalter sagte. Und ich hatte auch einst hier hineingehört, hinter dem Rücken meiner Eltern und unter der Protektion meines guten Freundes Fritz Störzer, und das Herz ging mir auf und zog sich wieder zusammen unter dem Gefühl: wie sehr das alles vergangen sei, und als was für ein Held und mit was für einem Sack voll Erfahrungen und Errungenschaften auf dem Buckel ich nun hier wieder ankomme!

Wir bogen jetzt um die Ecke, hinein in das Sackgäßchen, in dem das Haus, das ich noch so gut kannte, lag; und auch da fand ich auch heute wieder das, was ich in meiner Kinderzeit so oft hier mit schauerlichem, aber gar nicht unangenehmem Nerven- und Seelenkitzel mitgenossen hatte: ein Hineingucken auf einen Hausflur, wo ein Sarg steht.

Alles wie sonst! Nur alles noch ein wenig mehr zusammengeschrumpft: der kleine Platz enger, die Häuser niedriger, die Fenster zusammengedrückter, die Haustüren schmaler.

Und sie drängten sich alle wieder um eine Haustür; die Kinder und die Frauen mit Kindern auf dem Arme, die alten Frauen und zwei oder drei alte Männer, diese alle mit den Abendpfeifen im Munde: es stand ja wieder einmal ein Sarg auf einem Hausflur!

Sie drehten alle uns den Rücken zu und machten uns verwundert Platz, als wir ihnen über die Schultern auch mit in die Tür zu sehen wünschten. Sie verwunderten sich aber noch viel mehr, als wir gar in die Tür traten.

Es schien niemand zu Hause zu sein als der alte Störzer, und auch der schlief; lag ruhig in dem engen schwarzen Gehäuse, welches da auf drei Stühlen stand, mit den Lichtern, die morgen früh beim ehrenvollen Begängnis angezündet werden sollten, auf einem vierten Stuhle neben sich. Daß der liebe Freund, der getreue, müde Wandersmann, auch unter Blumen und Kränzen lag, verstand sich von selber. Das kostete um diese Jahreszeit im Matthäusviertel nichts, und die Nachbarschaft tat gern das ihrige hierin, ihre Teilnahme zu bezeigen.

Es stand noch ein Stuhl auf dem Flur, auf welchem die Hauskatze saß und ernsthaft auf die alten und jungen Gesichter sah, die in die Haustür guckten.

»Puh!« seufzte Stopfkuchen, »ich habe doch meine Energie ein wenig überschätzt. Schwül und heiß!« Er hob den Strohhut von der schweißglänzenden Stirn und trocknete sich den Kopf mit dem Sacktuch. »Entschuldige, Eduard«, sagte er, hob den Stuhl an der Lehne, ließ das Tier hinuntergleiten und setzte sich selber: »Einen Augenblick, Eduard, und ich bin vollständig wieder zu deiner Verfügung.«

Das oder dergleichen sagte er, während ich stand und augenblicklich wenigstens nichts zu sagen, sondern nur recht viel mit dem mehr oder weniger dunkeln Gefühl, das bei solchen Gelegenheiten die Oberhand gewinnt, zu tun hatte.

»Fritze Störzer! Der alte Störzer!« ... und ich tat, was ich vorhin mir vorgenommen hatte: ich legte die Hand auf den Sarg, dahin, wo die Füße ruhten, die, wie die Herren im Brummersumm ausgerechnet hatten, fünfmal um die Welt gewesen waren. Stopfkuchen fächelte sich immer noch mit dem Taschentuch kühlere Luft zu.

Der Mensch aber muß bei solchen Gelegenheiten irgend etwas sagen.

»Du konntest nichts dafür; aber du bist eben unter deiner Hecke liegengeblieben, Heinrich!« sagte ich. »Ich aber bin mit ihm gegangen, gelaufen, habe mit ihm seinen trefflichen Tröster, den Le Vaillant studiert! Und wenn mich ein Mensch von seinen Wegen auf die meinigen hingeschoben und mich nach Afrika befördert hat, so ist dieser hier, mein alter, guter Freund, mein ältester Freund Friedrich Störzer es gewesen. Möge er sanft ruhen!«

»Amen!« sagte mein Freund Heinrich Schaumann wieder aufstehend. »Jawohl! das kann ich ihm ja wohl auch wünschen – von unter meiner Hecke weg! Er gehörte nicht zu den schlimmsten Lebens- und Weggenossen. Er war ein halber Idiot, aber er war ein braver, ein guter Kerl. Na – denn ruhe auch meinetwegen sanft, grauer Sünder, du alter Weltwanderer und Wegschleicher! Nun laßt endlich aber auch mich aus dem Spiel und macht die Geschichte drüben unter euch dreien aus, ihr drei: Kienbaum, Störzer und Quakatz!«

Er hatte eine Faust gemacht; aber er legte sie so leise auf das Kopfende des Sarges, wie ich meine offene Hand auf das Fußende.

»Was?« fragte ich, zusammenfahrend, und Schaumann sagte: »Ja.«


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