Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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»Was ist denn das? Noch kein Licht hier?« sagte der erste Stammgast. »Bald sollen wir uns unsere Erleuchtung wohl selber mitbringen? Meta, Sie! wo stecken Sie denn?«

»Hier, Herr Staatsanwalt! o Gott, ja, gleich!« rief das Mädchen mit zitternder Stimme. Auch das angezündete Streichholz zitterte in ihrer Hand, und es gelang ihr nur nach wiederholt mißlungenen Versuchen, das Separatzimmer der besten Männer im Goldenen Arm in ein helleres Licht zu setzen.

»Siehe da, die Herren!« sagte der Staatsanwalt. »Was, Schaumann, und nun wollen Sie gehen, da wir eben kommen? Ei was, Stopfkuchen, alter dicker Freund, und du, Eduard, jetzt bleibt einmal sitzen wie in andern, schönern Zeiten. Was noch von der alten Korona in diesem Jammertal vorhanden ist, verzeiht es mir nie, wenn ich euch jetzt ruhig laufen lasse; den einen nach seiner roten Schanze, den andern nach seinem schwarzen Afrika. Meta, jedem Herren auch noch einen Schoppen! Kinder, das ist ja zu famos, das kann ja endlich mal wieder ein fideler Abend nach der guten alten Art werden. Na, ihr bleibt? was?«

»Wie gerne, wenn es ginge und mein Leibarzt es mir nicht untersagt hätte«, lachte Stopfkuchen. »Ach, wenn Sie nur eine Ahnung davon hätten, Schellbaum, wie streng mir der Mensch, der Oberwasser, geistige Aufregung jeder Art untersagt hat, Sie ließen mich wie in andern schönern Zeiten ruhig unter meiner Hecke.«

Wir nahmen unsere Hüte. Das Zimmer hatte sich jetzt schon mehr gefüllt; aber glücklicherweise mit Stammgästen, die nichts mehr von Josef wußten und den dicken Schaumann nur vom Hörensagen und von ferne kannten. So kamen wir glücklich endlich hinaus auf den Vorplatz, und dorthin kam die arme Meta, zitternd vor Aufregung, uns nach: »O Gott, o Gott, Herr Schaumann; aber ich habe ja alles mit angehört! ist es denn möglich? Und die Herren da drinnen! darf es denn jetzt jeder wissen? darf auch ich jetzt alles den Herren heute abend sagen?«

»Alles, mein Kind.«

 

Dem Kapitän wird die Sache immer unheimlicher. Eben sagt er: »Herr, daß das Trinkwasser auf dem Schiffe ausgeht, das passierte früher öfter, kann auch heute noch vorkommen und hat seine Unbequemlichkeiten; aber was sagen Sie, wenn ich Ihnen tränenden Herzens signalisieren muß: Sir, wir sind beim letzten Droppen Dinte angekommen? Well, da ist es ja ein wahres Glück, daß wir von morgen an nach dem Tafelberg ausgucken können.«

»Das ist es, old friend!«

Und der alte Seebär stieg wieder auf Deck, kopfschüttelnd und vor sich hinbrummend, daß so 'ne verdammte Schreiberei gottlob doch nur eine Ausnahme auf dem Wasser sei. Ich bin fest überzeugt, in drängender Not hätte er mich für den Unheilsvogel auf seinem Schiff genommen und ohne große Gewissensbisse über Bord in die tosende See befördert, um die übrige Ladung durch das sühnende Opfer zu retten.

Wir, Stopfkuchen und ich, aber standen wieder vor dem Goldenen Arm unter dem stillen, warmen, dunkeln Sommerabendhimmel, und ich trocknete mir die Stirn nicht weniger ab wie der erstaunliche dicke Freund. Er hatte die Geschichte von Kienbaums Morde nicht bloß mit seiner dröhnigen, langweiligen Redegabe von sich gegeben; er hatte sie auch ausgeschwitzt, sie durch die Poren aus sich herausgelassen. Ich aber, hatte ich darum draußen so viel zu Wasser und zu Lande erlebt, um in dem stillen Heimatwinkel vor Stopfkuchen und Storzhammel zu stehen wie vor etwas weder von mir noch von irgendeinem andern Menschen je Erlebtem?

Wer von beiden war mir nun der Unbegreiflichste, der Unheimlichste geworden? O dieser Störzer! O dieser Schaumann! – Mein alter, ältester Kinderfreund und Spielkamerad Kienbaums Mörder! Er, der mich im Grunde doch ganz allein auf die See und in die Wüste durch seinen Le Vaillant gebracht hatte, dem ich mein »Rittergut« am Kap der Guten Hoffnung einzig und allein durch seine Unterhaltungen auf seinen Weltwanderungen auf seinen Landstraßen und Feldwegen zu danken hatte. Es war nicht auszudenken: jedenfalls jetzt – augenblicklich nicht weiter darüber zu reden.

Stopfkuchen begleitete mich zu meinem Gasthofe, und an dessen Tür tat ich wenigstens noch eine Frage an ihn. »Willst du nicht noch einen Augenblick mit heraufkommen?«

»Lieber nicht«, meinte Heinrich. »Meine Frau hat sich schon seit Jahren nicht mehr um mich geängstigt. Um diese Tageszeit bin ich immer zu Hause. Nun, es ist freilich heute mal eine gerechtfertigte Ausnahme. Was tut man so einem lieben, alten, fremdgewordenen Freunde nicht alles zu Gefallen, um ihm das alte Nest wieder heimselig und vertraulich zu machen! Wir sehen dich doch noch einmal vor deiner Abreise, Alter? Du mußt dir doch noch das Gesicht ansehen, was meine Alte macht, nachdem sie auf die mir angemessenste Weise durch andere erfahren wird haben, was ich ihr – nach der sicheren Meinung der Welt morgen – schon längst selber hätte sagen sollen. Gute Nacht denn für diesmal, Eduard! Habe Dank für deinen Besuch: das war wirklich heute endlich mal wieder ein etwas ungewöhnlicherer Tag für die rote Schanze.«

»Gute Nacht, Heinrich«, sagte ich; augenblicklich nicht imstande, ihm noch etwas anderes zu bemerken, und er schien dieses auch für ganz selbstverständlich zu nehmen, denn er watschelte ruhig durch die angenehme Nacht seiner festen Burg im Leben zu, mich mit ihm, seiner Frau, seinem seligen Schwiegervater, mit Störzer und mit Kienbaum nun im »Hotel« allein lassend. Wenn ich ihn je in vergangenen Jahren, wie er sich ausdrückte, unter seiner Hecke seinen Gedanken, Gefühlen, Stimmungen, kurz sich selber allein als eigenster Austrägalinstanz anbefohlen hatte, so zahlte er mir das heute mit tausendfachen Zinsen zurück und ließ mich ihm nachgucken in die Nacht hinein, wie selten einem Menschen nachgeguckt worden ist.

Nun war ich unter meiner Hecke, in meinem heimatlichen Absteigequartier allein, und hatte die Nacht vor mir, um zu überlegen, was ich den Tag über erlebt hatte. Als aber die Morgensonne mir ins Fenster und auf die Bettdecke schien und ich das Fazit von Wachen und Traum zog, fand ich, daß ich mich sonderbarerweise eigentlich nur mit Frau Valentine Schaumann, geborener Quakatz, und verhältnismäßig recht wenig mit Kienbaum, Störzer, dem Papa Quakatz und mit Stopfkuchen beschäftigt hatte.

Die Gute! Die Arme und Gute! ...

Und konnte man es Stopfkuchen verdenken, daß er um sie und ihre rote Schanze, um deren Behaglichkeit willen, endlich auch die irdische Gerechtigkeit als das Gleichgültigere, das weniger in Betracht kommende angesehen hatte? So wahrscheinlich bald nach Mitternacht hatte ich mich ganz in des Dicken Stelle, das heißt seine Haut versetzt, das heißt, war in dieselbe hineinversetzt worden. Ich war zu seinem Leibesumfang angeschwollen und hatte mich auf die Höhe seiner behaglichen Weltverachtung erhoben und hatte gesagt: Dem dürren Afrikaner, diesem Eduard, wollen wir nun doch einmal aus dem alten Neste heraus imponieren und ihm beweisen, daß man auch von der roten Schanze aus aller Philisterweltanschauung den Fuß auf den Kopf setzen kann. Dem wollen wir einmal zeigen, wie Zeit und Ewigkeit sich einem gestalten können, den man jung allein unter der Hecke liegenläßt, und der da liegenbleibt und um die Seele auszufüllen nach Tinchen Quakatz sucht, und um den Leib bei Rundung zu erhalten die rote Schanze erobert, und in Mußestunden von letzterer aus auch den gestern vergangenen Tag als wie einen seit Jahrtausenden begrabenen Mammutsknochen ausgräbt.

Da überlegte ich mir in dieser Nacht, erst außerhalb des Wirtshausbettes und dann in demselben, den mir eben vergangenen Tag noch einmal von Stunde zu Stunde, von Wort zu Wort. Und mehr und mehr kam mir wieder zum vollen Bewußtsein der alte ganz richtige Satz vom zureichenden Grunde, wie ihn der alte Wolf hat: Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit; und wie es der Frankfurter Buddha übersetzt: »Nichts ist ohne Grund, warum es sey.« – Wie mich der Le Vaillant, übersetzt von Johann Reinhold Forster, in der Bibliothek des Landbriefträgers Störzer zu den Buren in Prätoria gebracht hatte, so hatte der Steinwurf aus Störzers Hand nach Kienbaums Kopfe den Freund zu Tinchen Quakatz geführt und ihn zum Herrn der roten Schanze gemacht. Und so, wenn Kienbaum nicht Kienbaum, wenn Störzer nicht Störzer, wenn Stopfkuchen nicht Stopfkuchen und Tinchen nicht Tinchen gewesen wäre, so wäre auch ich nicht ich gewesen und hätte gegen Morgen über dieser Mordgeschichte in den ruhigsten Schlaf versinken und daraus erwachen können mit den beruhigenden Gedanken an das »afrikanische Rittergut« und an mein Weib und meine Kinder daheim: »Nun, die Sache hat sich ja noch ganz erträglich gemacht.«

Fertig war ich freilich noch nicht mit ihr, der Sache nämlich. Das sollte ich sofort von dem Gesicht des Kellners ablesen, als ich die Zimmerglocke gezogen hatte und der Jüngling mich erst eine geraume Weile angaffte, ehe er meinen Wunsch nach frischem und nach warmem Wasser begriff. Und schon erschien Freund Sichert, der Wirt, selber hinter ihm und starrte mich gleichfalls an und rief: »Aber, Herr, ist es denn möglich? Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber Sie sind ja der erste aus der Stadt, der's ganz genau von Herrn Schaumann vernommen hat, wie es eigentlich gewesen ist! Und es sind auch schon einige von Ihren verehrten Herren Bekannten unten im Speisesaal gewesen und haben sich erkundigt, ob Sie noch nicht auf seien, und ob es sich denn wirklich so verhalte mit Kienbaum und mit Störzer.«

»Nun ja, lieber Sichert. Es wird es ja wohl.«

»Es ist doch nicht möglich! Ein Teil der Stadt ist ja freilich schon gestern abend, gestern nacht, vom Goldenen Arm aus darüber in die größte Aufregung geraten. Leider waren Sie bereits zur Ruhe gegangen, als die Überraschung auch noch zu mir drang, und ich nahm mir die Freiheit nicht –«

»Mich zu wecken und sofort um die genaueste Auskunft anzugehen. Ich danke Ihnen verbindlichst, lieber –«

»Aber, mein Gott, Sie verzeihen, bester, verehrtester Herr, Sie sind doch auch ein Stadtkind und gehören sozusagen noch zu uns, und womit man sich die langen Jahre so schwer und interessiert herumgetragen hat – wenn da nun mit einem Male eine so merkwürdige Aufklärung kommt! ... Und dieser alte Störzer! Es hielt ihn ja keiner für mehr als für einen guten, unschädlichen, alten Mann und Hammel! Und heute morgen begraben sie ihn, dem Arme der irdischen Gerechtigkeit vollständig entzogen! Und unser verehrter Herr Schaumann von der roten Schanze, der doch schon längst so viel zur völligen Aufklärung hätte tun können! der so viel dazu hätte tun können –«

»Uns noch eine letzte angenehm-unheimliche Aufregung zu verschaffen. Nee, nee, lieber Sichert, dazu war er eben zu dick, zu unbeholfen, zu schwerfällig oder wie Sie es sonst nennen wollen. Auch wohl ein wenig zu gutmütig und für seine Bequemlichkeit besorgt. Und dann – na, dann war es ja doch auch eine so alte Geschichte, eine so verjährte Sache, die im Grunde ja niemand was anging als vielleicht noch ein wenig seine Frau – Herrn Schaumanns Frau, eine geborene Quakatz. Ja, weshalb sollten die beiden und noch dazu von ihrer jetzigen ganz sichern Schanze aus um den alten, guten Störzer die hohe Justiz bemühen, ihr auf die Sprünge helfen, um sie eigentlich doch nur dadurch zu beschämen? Überlegen Sie das einmal.«

»Ich kann es doch nicht fassen!« seufzte mein Herr Wirt und ging kopfschüttelnd und durchaus nicht befriedigt von mir. Ich aber faßte mich an die Stirn: Du lieber Himmel, wie sehr hatte Stopfkuchen recht! Schon was ich jetzt über mich nur kommen sah, genügte vollständig, um mich nunmehr ganz in seine Situation während der Zeit nach seinem plötzlichen Aufmerken an dem schönen Sommermorgen beim Begräbnis seines Schwiegervaters zu versetzen. Sofort aber folgte auch die Überlegung: »Und nun kannst auch du mit ausbaden, was der Dicke hinter aufgezogener Zugbrücke der Welt so lange als möglich so schnöde als möglich vorenthalten hat! Und der Feistling ist auch jetzt noch imstande, seine Schanze um sich und sein Weib herum noch mehr in Verteidigungszustand zu setzen, die Bulldoggen, Fleischer- und Schäferhunde, die giftigen Spitze, kurz alle die bissigen Wächter seines seligen Schwiegervaters wieder aus der Gruft zu beschwören und dir, Eduard, es ganz allein zu überlassen, die Sache Störzer-Kienbaum gegen die Menschheit auszutragen!«

Daß der Mensch trotz seiner einladenden Worte noch einen zweiten Besuch von mir erwartete, glaubte ich nicht mehr. Und ich habe es schon gesagt: die rote Schanze war der letzte Ort der Heimat, dem ich noch einen Besuch schuldig gewesen war. Geschäfte hatte ich nicht mehr zu Hause. Alle lieben und alle schlimmen Erinnerungen hatte ich von neuem geweckt und konnte sie aufgefrischt mit nach Kaffraria nehmen. Wenn ich durchging vor den Manen Kienbaums, ließ ich kaum ein Bedauern, sondern nur höchstens eine kurzlebige Verwunderung über den raschen Aufbruch hinter mir zurück. Es war niemand von beiden Geschlechtern vorhanden, der mir den Rock zerrissen haben würde bei dem Versuche, mich »wenigstens noch ein paar Tage« zurückzuhalten.

Wie wäre es denn, wenn du den Kopf aus der Geschichte zögest, Eduard; und dein Teil daran sofort mit auf das Schiff nähmest?


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