Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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»Ja, es war schlimm. Und es war die höchste Zeit, sowohl für meinen Vater wie für mich, daß wir endlich einen Kameraden kriegten – einen, den unsere Hunde über unsern Graben und Dammweg passieren ließen, ohne daß sie ihm an die Kehle fuhren und ihm unser häuslich Glück und Behagen entgegenkläfften und -heulten. Anfangs konnte ich es doch nicht wissen, daß der Junge aus der Stadt auch für meinen Vater brauchbar war. Zuerst war er ja nur für mich gegen die Dorfkinder eingetreten und hatte sich die Nase blutig schlagen lassen. Da nahm ich ihn auch nur meinetwegen zwischen den Hunden durch mit auf die Schanze und brachte ihn an den Brunnen, daß er sich wenigstens ein bißchen wieder waschen konnte. Aber es wies sich zum Segen für Vater und Kind, für die rote Schanze aus, daß es doch mehr mit ihm an sich hatte durch Gottes Güte. Nicht wahr, Heinrich?«

Das letzte Wort war ein Fehler von der Frau. Damit hatte sie ihrem dicken Haupt und Herrn vollständig wieder das Heft in die Hand gegeben. Glücklicherweise hatte er aber eben etwas zerstreut den Wolken seiner Pfeife in die Baumwipfel nachgesehen und brummte nur: »Hast immer recht, Alte! Was war es denn eigentlich – wo warst du stehengeblieben? Ja, so! Na, Eduard, gewinnst du bald die Überzeugung, daß wir drei, Vater Quakatz, sein Tinchen und der faule Schaumann aus der Stadt, hier – hier keinen Vierten zwischen uns gebrauchen konnten?«

»Nein, den brauchten wir damals nicht!« rief Frau Valentine Schaumann, ohne meine Meinung über die Sache abzuwarten. »Wenn meinem Vater und mir der liebe Gott nur einen gab, so war das völlig genug! Aber dem mußte ebenfalls alles andere gleichgültig oder zuwider sein: nur wir und die rote Schanze nicht! Der mußte alles mögen, was der Bauer Quakatz und sein kleines Mädchen geben konnten, ohne sich vor dem Mord- und Schinderkuhlengeruch, der dran hing, zu ekeln und zu fürchten. Und, Herr Eduard, dazu, dazu hatte der Stadtjunge, der mich vor den Dorfjungen und -mädchen in seinen Schutz genommen hatte, unter der Hecke da drüben auf der städtischen Feldmark gelegen! Und dazu hatte er auch genug Latein, daß er es meinem Vater in seinem dicken Wörterbuch nachschlug und übersetzte für seine Schriften und Akten, wo der selbst seinem Advokaten nicht mehr traute. Herr Eduard, bitte, achten Sie jetzt gar nicht auf meinen Mann! Er mag nachher, bis er mit Ihnen als angehender Student hier stand und von uns Abschied nahm, in seinen Schulzeiten noch etwas mehr gelernt haben – das kann ich nicht beurteilen, aber für die rote Schanze war er damals genügend mit allen Kenntnissen ausgestattet. Er brachte nicht bloß die Hunde zur Ruhe, er brachte auch meinem seligen Vater ruhigere Stunden.«

»Nu höre sie, Eduard! Ja, ja; aber sie hat recht: die Klugen haben wahrhaftig lange nicht soviel Behaglichkeit in die Welt gebracht und so viele Glückliche drin gemacht wie die Einfältigen.«

»Ganz sicher, Heinrich! Mein seliger Vater meinte das wenigstens auch. Er drückte sich nur etwas anders aus. ›Tinchen‹, sagte er, ›ich will nichts dagegen sagen, daß dieser dicke, stille Junge sich an uns herangemacht hat. Wenn du mit ihm auskommen kannst, soll es mir recht sein. Mich stört er nicht, und man hat doch einen in der Stube, der nicht zu den anderen gehört.‹«

»Das war ein großes Wort von deinem verstorbenen Herrn Vater, Frau Valentine Stopfkuchen!« grinste Heinrich Schaumann unverbesserlich drein.

»Es war nur das Wort von einem Manne, der seinen Kopf und sein Herz seit Jahren, Jahren, Jahren mit beiden Händen hatte zusammenhalten müssen, auf daß ihm beides nicht in Wut und Angst und Grimm und Scham zerspringe. Wenn einer damals nicht zu den andern gehörte, Herr Eduard, so war das mein Mann. Nicht etwa weil er grade so was Besonderes an sich gehabt hätte, sondern grade vielleicht weil er das nicht hatte und auch an uns in unserer Verscheuchung und Verschüchterung nichts Besonderes fand und mit uns wie mit ganz gewöhnlichen sonstigen Menschen in Verkehr und Umgang kam!« –

Frau Valentine hatte natürlich nicht im geringsten eine Ahnung davon, welch ein wunderbar Zeugnis und Lob sie jetzt meinem Freunde ausstellte, und wie sehr sie mich zu den ganz Gewöhnlichen, den ganz Gemeinen, an jedem Wege Wachsenden warf: zu denen, die nur dreist in die Welt hinaus und nach Afrika laufen mochten, um ihre trivialen Abenteurerhistorien zu erleben. Mein dickster Freund grinste wieder nur, war sich aber sicherlich klar über alles.

Die Frau fuhr fort. »Er saß mit meinem Vater in der Stube, und er lag mit mir auf unserm Wall gegen die Menschheit unterm Busch. Ja, gegen die Menschheit, Herr Eduard; denn jetzt warfen sie mit ihren Steinen auch nach ihm über den Graben; aber nicht lange. Ihre jungen Herren Kollegen und Schulkameraden haben doch nicht ganz genau gewußt, was mein Mann damals war –«

»Alte!« lachte Stopfkuchen.

»Ach ja! ich drücke mich wohl wieder falsch aus. Nun denn: sie wußten nicht ganz vollkommen, was du alles in dir hattest, Heinrich, und was du alles tun und sagen konntest, wenn dir ein Erdkloß, der eigentlich doch nur für Kienbaums Mörder bestimmt war, an deinen Kopf flog. O Herr Eduard, Ihr damaliger Freund konnte sich damals schon in den ersten großen Sommerferien als den Herrn der roten Schanze betrachten. Er hatte sie, und zwar für mich mit, einem schlimmen Feinde abgewonnen; und nun, da ich mich nun nicht mehr nachts so arg vor andern zu fürchten brauchte, lag ich manchmal ganz wütend und fragte mich, weshalb ich es eben von ihm litte?! Denn, Herr Eduard, er behandelte mich eigentlich gar nicht gut bei seinem Ritteramt! Dumme Gans war noch der mildeste Ehrentitel, den er mir zukommen ließ. Und wehe mir, wenn ich es merken ließ, daß auch ich meinen Vorrat von Kosenamen zur Hand hatte aus meinem Verkehr und Krieg mit den andern Kindern! Und wenn ich mich durch Tränen wehren wollte, da war's noch schlimmer. Da hieß es höchstens: ›Sie hat den besten Platz in ganz Deutschland, und sie mault! Mädchen, sitze du mal auf meinem –‹«

»Podex«, riet Freund Heinrich.

»Platz in der Schule«, fuhr Frau Tine fort, doch lieber einen zartern Ausdruck für das Ding wählend. »Freilich, es mochte ihm, was den anbetraf, manchmal zu Hause und in der Schule auch nicht zum besten gehen. Nun, auf der roten Schanze saß er denn mit seinen Sünden ebenso sicher als wie ich. Beim Mordbauern Quakatz tat ihm keiner noch mehr was drum zuleide, sondern im Gegenteil! Er war mir vielleicht auch darum grade recht und zu meinem und meines seligen Vaters Umgang passend, weil auch er recht häufig was auf dem Gewissen hatte und noch mit den Tränenspuren auf den Backen zu uns herauskam und dort von der Wallbrüstung auf die ganze Stadt und die ganze Schule ungestört hinunterbrummeln und -grummeln und -schimpfen konnte. Schrecklich faul muß er damals gewesen sein, Herr Eduard.«

»Meine jetzigen süßen Daseinsbedingungen in dieser Hinsicht läßt sie gelten, Eduard. Aber ich imponiere ihr doch auch ein wenig durch meine Petrefakten und die gelehrte Korrespondenz, die sich dran knüpft. Man kann schon seinem Weibe was unter die Nase halten, wenn man Mitglied von einem halben Dutzend paläontologischer Gesellschaften ist. Und eines blüht ihr noch. Meine Abhandlung über das Mammut und seine Beziehungen zu der roten Schanze, dem Prinzen Xaver von Sachsen und dem Bauer Andreas Quakatz nebst angehängtem Exkurs über das Megatherium wird ihr unbedingt gewidmet. Wer weiß, ob das Riesenfaultier ihr nicht noch den Kranz der Unsterblichkeit auf die Haube – wollt' ich sagen die Locken drückt?«

»Gott soll mich bewahren!« lachte Frau Valentine, fügte aber hinzu: »O Gott, wohin bringt er mich und uns durch seine Art und Weise, Herr Eduard! Er weiß es, wer Kienbaum totgeschlagen hat, und hier sitze ich und rede alles dumme Zeug durcheinander, bloß weil er's so haben will. O mein armer, armer Vater! Und wenn er, meinen Mann meine ich, mit dem Ärmel um die Augen Staub und Feuchtigkeit durcheinandergerieben hatte –«

»Dreck und Tränen willst du sagen, Herze.«

»Jawohl, und mit dem Jackenärmel! Und wenn er dann zuweilen noch nach dem – Rücken griff und sich zwischen den Schulterblättern rieb, dann sagte mein seliger Vater: ›Geh hin und schneid ihm erst ein ordentliches Butterbrot und gib ihm ein ordentliches Stück Wurst dazu. Der hat auch das Seinige ausgestanden und weiß in seinen jungen Jahren schon, was an der Welt ist.‹

Nun, das tat ich denn auch, und dann gingen wir zu den Käsen, den Stachelbeeren, den Birnen, Äpfeln und Pflaumen und was sonst so die Jahreszeit zu seinem und meinem Troste gab. Ja, Herr Eduard, in dieser Hinsicht war die rote Schanze vom sächsischen Prinzen ganz für ihn geschaffen. Oh, was er aber auch durch seinen Herrn Schwartner von ihr alles wußte! O Gott, wie ich sie noch sitzen sehe, ihn und meinen armen Vater, wie sie die Geschichte vom Siebenjährigen Kriege traktierten und wie es so schade sei, daß die arme Stadt da unten damals nicht ganz in Klump geschossen worden sei!«

»Das Wort traktieren hat sie von mir, Eduard«, schmunzelte Stopfkuchen, doch Frau Valentine lächelte und seufzte weiter: »Ich hielt ihn schon damals für den gelehrtesten und weisesten aller Menschen. Daß ich ihm das aber damals schon auf die Nase band, konnte keiner von mir verlangen; denn dazu war er doch noch zu dumm, und ich zu sehr in der Wildheit und Wut gegen alles aufgewachsen. Er brachte mir, ohne daß ich es ihn merken ließ, von so vielen Dingen ein Verständnis und an so manchen Sachen Geschmack bei –«

»Das Wort Geschmack hat sie von mir, Eduard.«

»Und da kam er mit meinem Vater zu der Überlegung, daß kein Hahn mehr nach dem hochberühmten Herrn Prinzen von Sachsen und seinem Mordkriege krähe, und daß auch einmal nach dem Herrn Oberlehrer Blechhammer und uns andern und – und – und Kienbaum auch kein Hahn mehr krähen, kein Hund mehr bellen und kein Mensch mehr die Nase verziehen werde, und daß es bei allem auf der Erde nur ankomme auf ein gutes Gewissen und Genügsamkeit –«

»Genügsamkeit hat sie von mir.«

»Natürlich! Alles habe ich von dir!« rief Frau Valentine jetzt wirklich etwas zittrig, aufgeregt, ärgerlich. »Nun, da ist es ja noch ein Trost, daß du mir wenigstens das gute Gewissen als mein eigenstes Eigentum läßt! Und wenn ich denn einmal die Genügsamkeit auch von dir haben soll, so hat doch gewiß wenigstens etwas davon auch schon in mir gelegen, und du hast mir nur –«

»Das Verständnis aufgeknöpft. Da hat sie recht, Eduard. Ich sage dir, Eduard, du hast in der Hinsicht gar keinen Begriff davon, was und wieweit alles in ihr verstöpselt lag und darauf wartete, daß ich komme und den Korkzieher mitbringe. O Alte, Alte, liebste, beste, alte Alte: wie hätten wir zwei auch sonst so gut zueinander gepaßt. O Tine, Tine – du und ich, des Gottes schöne Trümmer – na, haben wir denn nicht von Anfang an zueinander gehört, und halten wir nicht beieinander bis zum allerletzten? Du vom alleräußersten Ende von Afrika, du, Eduard, was ist deine Meinung?«


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