Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Keine Möglichkeit, heute weiterzuschreiben. Das Schiff stößt allzusehr. Hohle See. Kapitän unnahbar. Matrosen sehr beschäftigt und vernünftigerweise ungemein grob. Niggersteward besoffen. Passagier – »hol der Henker das Heulen! sie überschreien das Ungewitter und unsere Verrichtungen! Heigh, my hearts! cheerly, cheerly, my hearts! yare, yare!« – Siehe den Sturm, ein Zaubermärchen von William Shakespeare, aber sieh ihn – wenn es dir irgend möglich ist – ja nur von einem sichern Sperrsitz oder sonst behaglichen Theaterplatz aus mit an.

 

Zwei Tage und zwei Nächte durch hat das Unwetter gedauert. Die »Riesen ängsteten sich unter den Wassern«, und »die bei ihnen wohnen« auch. Wer wäre da nicht gern herausgegangen aus dem Kasten, wenn er's nur gekonnt hätte?! Wahrlich, der Herr hat mir wieder einmal große Wunder auf dem großen Meere gewiesen, und wie gemütlich ist's nun um so mehr jetzt, immer noch mit seinen kleinen und großen Heimatserinnerungen und -erfahrungen auf Quakatzenburg bei Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, zu Gast zu sein und den dicken Freund zu seiner Frau sagen zu hören:

»Aber, Kind, was geht dich und Eduard eigentlich deines Vaters und meine Spezialliebhaberei und die Petrefaktenkunde überhaupt an? Was geht es euch an, wie lange der Ozean über der roten Schanze gestanden hat, ehe die Möglichkeit vorhanden war, daß Kienbaum in ihrer Umgebung totgeschlagen werden konnte? Wieviel ergötzlicher ist es doch, davon zu reden, daß der Herr nach der Sintflut wieder aufgehen ließ Gras, Busch und Baum, und daß er Blüten gleich Weihnachtslichtern dransteckte und allerlei Früchte daranhing, lieblich dem Auge und angenehm dem Gaumen! Eduard, wie oft soll ich es dir sagen, daß man den edlen Namen Stopfkuchen nicht ohne die dazugehörigen Leistungen trägt? Welch ein Leben und Futter in dieser Hinsicht hier auf der Schanze! O Tinchen, o Valentine, und so mit dir unterm Busch, kauend und schmatzend, und der andern lächerliche, mühsame Papierdrachen über dem Herbstfelde im Blau!«

»O Heinrich«, unterbrach hier noch einmal die arme Frau, »bester Heinrich, ich bitte dich himmelhoch, mach dich nicht schlechter –«

»Gefräßiger willst du sagen –«

»Meinetwegen auch! aber bitte, bitte, mach dich doch in diesem schrecklichen Augenblick, wo mir alle Glieder beben von deinem Worte über Kienbaum, mach dich jetzt wenigstens nicht gräßlicher, als du bist. Bist du denn allein der Obstbäume und der Stachelbeeren wegen zu – mir – uns herausgekommen aus der Stadt?«

»Ganz gewiß nicht, Schatz. Die Speisekammer und die Milchkammer hatten auch ihre Reize. Nimm nur mal die frische Butter und das Bauernbrot an! Und euren Käse! Für mich hatte die ganze klassische und moderne Welt nur deshalb geschrieben und drucken lassen, um das nötige Einwickelpapier herzustellen. Nämlich, Eduard, ich stopfte mir nicht nur den Hals, sondern auch die Taschen voll.«

»Er ist unverbesserlich!« seufzte die Frau, sich zu mir wendend. »Ich habe es eigentlich auch schon von unserer ersten Bekanntschaft an aufgegeben, ihn zu bessern, und versuche es nur manchmal noch bloß des Anstands wegen vor fremden Leuten und liebem Besuch. Aber jetzt im Ernst, o Gott ja, im herzbebenden Ernst, ich rede nun wohl selber zu deinem Freunde ein Wort von unserm damaligen Verhältnis, wenn – wenn du uns nicht doch vorher sagen willst –«

»Nein, das will ich nicht. Wenn etwas heute gottlob Zeit hat, so ist es das! Du hängst und köpfst ihn nicht mehr, Schatz. Es ist zu spät. Es geht heute keiner mehr Kienbaums Mörder an den Kragen als der Totenrichter: und freilich, wer weiß, ob nicht gerade der uns drei heute hierherbestellt hat zu seinen Schöffen und Beisitzern?«

»Heinrich, meines armen Vaters Tag- und Nachtgespenst –«

»Laß es noch einen Augenblick, Kind. Sieh in das wonnige Blau über uns, blicke in Eduards dürres, aber wohlwollendes, wenngleich auch etwas verlegen gespanntes Kafferngesicht und bleib noch ein klein bißchen in unserem Idyll. Erzähle ihm meinetwegen auf deine Weise unsere Liebesgeschichte. Ich gebe dir mein Wort darauf: was das andere anbetrifft, so kommt es wahrhaftig nicht darauf an, ob du das Genauere ein paar Minuten früher oder später erfährst. Dein Vater, unser Vater ist mit unserer Hilfe in Frieden beruhigt hinübergegangen, und Kienbaums Mörder wird die Mitwelt und die Nachwelt auch nichts mehr anhaben können als mit dem ungewaschenen Maul. Und letzteres auch dann vielleicht nur, wenn ihr – du und Eduard – morgen den Mund darüber nicht würdet halten können.«

Die Frau schüttelte noch einmal über das bessere Wissen und Verstehen ihres Mannes den Kopf, dann legte sie die gefalteten Hände auf den Tisch und blieb ebenfalls noch bei ihrem und seinem Lebensidyll, und es kam freilich, trotz aller Melancholie und der Aufregung und Spannung der Stunde, herzig und lieblich heraus, wie sie – erzählte, ehe Stopfkuchen das Geheimnis der roten Schanze offenbarte.

»Ich kann es gar nicht sagen, wie lieb es mir war, daß der Junge zu uns kam«, sagte sie. »So wie mich weiß ich doch keinen in meiner Bekanntschaft, dem es als Kind so ergangen wäre als wie mir. Armes Volk in der Stadt und auf dem Lande muß auch wohl das Seinige ausstehen; aber wir hier auf der Schanze gehörten ja gar nicht zu dem armen Volk, und doch – wenn ich unter der Hecke geboren wäre und meiner Mutter aus der Kiepe in das öffentliche Mitleid gefallen wäre, hätte ich es besser gehabt wie als des Bauern von der roten Schanze einziges wohlhabendes Kind und seine Tochter! Daß ich bei meinen Erlebnissen und Erfahrungen im Dorfe, in der Schule, auf dem Felde, auf der Wiese nicht hundertmal mehr als mein armer seliger Vater ein wirklicher Mörder geworden bin, das ist nichts weiter als ein unendlich großes Wunder. Was ich habe sehen, hören und fühlen müssen, seit ich mich zuerst in die Welt finden mußte, das geht in gar kein Buch zu schreiben.«

»Hm«, murrte Stopfkuchen, »vielleicht lohnte es sich grade gegenwärtig mehr als manches andere.«

»Nein, Heinrich! es war doch zu häßlich.«

»Grade darum«, brummte Heinrich Schaumann, doch seine Frau rief jetzt: »Ich habe dich reden lassen, nun laß auch mir das Wort, da du mich doch einmal dazu aufgefordert hast. Und Herr – Herr –«

»Eduard –«

»Ja denn, wenn unser lieber Freund, Herr Eduard, so gut sein will, mit unsern kleinen Erlebnissen hier in der Einsamkeit heute vorlieb zu nehmen.«

»Einsamkeit?!« grinste Stopfkuchen. »Na ja, dem da wird es in seiner afrikanischen Wüste freilich wohl manchmal zu lebendig um ihn her. Wenn ich mir wo eine ewige Sabbatstille hindenke, so ist's grade die Gegend, die er sich ausgesucht hat, unser lieber Freund – Herr – Eduard.«

Ich bezwang mich und schlug den Dicken mit seinem lächerlichen Verständnis für mein Dasein und meine exotischen Errungenschaften nicht hinter die Ohren, ich nahm die Hand seiner Frau und sagte: »Lassen Sie alles, liebe Freundin, liebe Frau Valentine, und erzählen Sie mir für meine Einsamkeit von sich und dem Vater und der roten Schanze.«

»Ja, von uns dreien alleine weiß ich auch nur was. Ich bin niemals auf einer Insel im Meere gewesen, aber wie ich das mir vorstelle, so waren wir drei zusammen wie eine Insel im Meere.«

»Aber ein sauberer Brei, dickflüssig, graugelb mit grünen Schimmelflecken qualmte statt der blauen karibischen See drum herum und roch nach Pech, Schwefel und noch viel Schlimmerem!« brummte der Unverbesserliche.

»Können Sie sich, Herr Eduard, wenn Sie sich als ein gehetztes Tier und alleingelassenes Kind in der Welt finden, einen bessern Aufenthaltsort für sich denken, als wie diese unsere alte, vergessene Kriegsburg?«

»Ganz gewiß nicht, Frau Valentine.«

»War es nicht schlimm, daß ich selber als so junges Kind die Hunde habe mit bösartig gegen die armen Menschen machen müssen? Aber war es nicht gut, nach der Schule in Sicherheit da auf dem Walle zu sitzen und das Dorf und die Stadt und die bösen Blicke und bösen Worte und das Geflüster und Gucken auch der Besten und Vernünftigsten unter sich zu haben? O Gott, man sollte sich heute noch schämen, weil man so oft, eigentlich tagtäglich aus seiner letzten Schanze heraus die Zunge hat ausstrecken und mit Steinen werfen und die armen treuen Tiere hat hetzen müssen! Heinrich hat's eben erzählt, wie mein seliger Vater auch hinter ihm stand und kein Wort sagte. Großer Gott, so hat er ja immer hinter mir gestanden, seit ich ins Denken und Nachdenken hineingekommen bin! Es konnte mir ja auch nur ganz langsam ins Klare wachsen, weshalb er so wild auf die Menschen war und keinem gut als dann und wann einem Advokaten, der ihm nach dem Munde gesprochen hatte. Es ist schlimm, es als Kind von Kindern erfahren zu müssen, daß man allein sein soll in der schönen Gotteswelt! Und wenn ich auch tausendmal sagte und weinte und schrie: ›Lügner!‹, sie machten mir doch hinterm Rücken des Schullehrers immer dieselben Zeichen, wie als wenn man einem einen Strick um den Hals legt oder nach einem Schlachtochsen mit dem Beile ausholt. Wenn der Vater mir dann und wann über die Haare fuhr, wenn wir den Winterabend ohne ein Wort gesessen hatten, ich im Winkel und er im Winkel, und wenn er sagte: ›Ich kann nicht helfen, du Wurm, geh zu Bett und schlafe du, ich komme und sehe nach, ob du nichts mehr von dir weißt!‹ ja, dann hatte ich einen Trost, der mir das Herz in die Kehle trieb. Manchmal bin ich wieder in später Nacht aus dem Bette gekrochen und bin an die Stubentür auf nackten Füßen geschlichen und habe ihn dann noch ohne Schlaf sitzen sehen. Ach, Herr Eduard, es haben wohl wenige Leute so wenig geschlafen wie mein armer seliger Vater! Und dann die Dienstboten – die Knechte und Mägde: o wie hat es da an einem Haar gehangen, daß ich wirklich schlecht, wirklich vielleicht zu einer Mörderin oder Totschlägerin wurde! Sie brachten mir jedes Orgellied und alles, was sich sonst in der Art auf dem Jahrmarkte kaufen läßt, und sangen es mir, und pfiffen mir es und, wenn sie zueinander davon redeten und bloß nach mir dabei hinübersahen, so war's noch schlimmer. Auf jede grüne Wiese, wo andere Kinder Blumen pflücken und Ringelkränze von Kuhblumenstielen machen durften, wurde mir ein Galgen hingebaut; und mitten unter die Erdbeeren, die Heidelbeeren und Himbeeren im Wald ein Schafott. Der Hirte und der Pflugknecht im Felde, die Weiber und Mädchen beim Rübenjäten und Kartoffelroden hatten alle ihre Geschichten für mich und gaben sie mir mit nach Hause, auf den Wall von meines Vaters Schanze und nachts mit unter das Deckbett, das ich im heißesten Sommer oft über mich zog, auf die Gefahr hin, darunter vor Herzbeben und Grauen zu ersticken. O wie manche Nacht habe ich mich in den Kleidern ins Bett gesteckt, weil es mir, und nicht bloß beim Wintersturm, sondern auch im Sommermondschein davor zu arg graute, die Schuhe und die Röcke auszuziehen.«

»Du armes Kind«, murmelte ich unwillkürlich.

»Jawohl, du armes Kind, Eduard«, brummte Stopfkuchen. »Ich armes Kind habe mich natürlich in meiner Jugend so kläglich anstellen können, wie's mir beliebte: das machte auf niemanden einen bemerkenswerten Eindruck. ›Der Bengel wird von Tag zu Tag muffiger!‹ das war das einzige, was ich zu hören kriegte.«

Dabei fingen aber des Dicken Äuglein an, sonderbar zu leuchten, und er klopfte mir aufs Knie und fragte: »War es nicht Zeit, daß ich mich der Sache annahm? War es nicht das beste, was wir tun konnten, als unser Elend zusammenzuwerfen und unsern Jammer in einem Topfe ans Feuer zu rücken? Und ist nicht das Resultat erquicklich? Habe ich die hagere Wildkatze von Quakatzenburg nicht recht hübsch und rund und nett und fett herausgefüttert und sie behaglich mit dem gewöhnlichen und deshalb um so komfortableren Weiberstrickzeug in die behagliche Sofaecke niedergedrückt? Na, du solltest Mieze jetzt einmal beim Wintersturm und Sommermondschein drin spinnen – schnurren und purren hören!«

»Ich habe das Wort, Heinrich!« meinte lächelnd die liebe Frau.

»Das hast du, hast es immer. Und immer das letzte. Behalt es auch meinetwegen; ich wollte nichts weiter bemerken, als daß wir heute nicht mehr des Abends weder das große noch das kleine Malefizbuch lesen, Tinchen. Nämlich, Eduard, höchstens stört sie mir jetzt mit der Frau Davidis in der Hand das Nachdenken und paläontologische Studium, indem sie kommt und mit dem Zünglein um die Lippen neue Triumphe vorkostend die Frage stellt: ›Du, Alter, sollen wir uns mal an dieses Rezept wagen?‹ Ich, lieber Eduard, habe selbstverständlich auch für diesen Verdruß nur die eine Antwort: Dem Mutigen gehört die Welt. Heraus aus dem Kasten!«

Frau Valentine behandelte vernünftigerweise ihren Feinschmecker mit seinem berühmten Kochbuch als Luft und fuhr, gegen mich gewendet, in ihrem Recht, jetzt einmal selber zu erzählen, fort. Gottlob, wirklich wie aus der Sofaecke heraus, wenn auch mit einem feuchten Leuchten in den Augen und einem verschluckten Aufsteigen in der Kehle, gleich einem Kinde, das aus erlittenem, aber vergangenem Kummer in das Lachen der Gegenwart übergeht.


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