Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Etwas Besonderes ist auf dem Schiffe nicht vorgefallen und scheint auch nicht passieren zu sollen. Wir haben Sankt Helena angelaufen. Aber ich war schon einmal in Longwood und habe mir nicht zum zweitenmal die Mühe gegeben, die entsetzlichen Treppen zu steigen, um die abgebleichten, zerfetzten Tapeten zu sehen, auf welchen das Auge von den Pyramiden, von Austerlitz, Jena, Leipzig und Waterloo in seinen letzten Lebensfiebertagen und -nächten das Muster gezählt hatte. Ich gehe an Deck, wo der Kapitän den Kindern auf seinem Schiffe, natürlich aus der ersten Kajüte, den Kindern zuliebe, noch einmal einen Haifisch hat fangen lassen, aus dessen Bauche sich aber gottlob diesmal nichts dem Menschen allzu Greuliches entwickelt. Das Vieh hat naturgeschichtlich-ausnahmsweise keinen Menschen gefressen, hat kein halb verdautes Matrosenbein oder keine noch auf ein Brett gebundene Kindesleiche in sich. Es hat nur gegessen, was ihm sonst aus der Naturgeschichte als zu seiner Nahrung gehörig geboten wurde, und ich gehe bei ruhigstem Wogengang wieder hinunter in den Rauchsalon und lasse Stopfkuchen weiter erzählen.

Er tat's; denn die Unterbrechung an dieser Stelle meines Logbuches kam nicht auf seine Kappe. Er berichtete: »Am Morgen nach der Hochzeit traf natürlich nur das ein, was ich schon längst im voraus gewußt hatte. Ich lag auf der roten Schanze, wenn auch nicht an der Kette, so doch im beschlossenen Bezirk. Und daß der gefüllte Freßnapf dazugehörte, war für sämtliche Festgäste des vergangenen schönen Tages im mehr oder weniger behaglichen Nachverdauungsgefühl Glaubensartikel Numero eins im anteilnehmenden Hinblick auf mein ferneres Lebensglück. Ja, ich hatte es nun, was ich hatte haben wollen. Ich saß mitten drin in meinem Ideal, und ich war mit meinem Ideal allein auf der roten Schanze. Am Lendemain stand ich mit meiner jungen Rosigen auf dem Wall, der unser junges Glück umschloß, und sah auf Dorf und Stadt hinunter und in die schöne Natur hinaus und ließ mich recht unnötigerweise auf eine Verständigung ein. ›Kind‹, sagte ich, ›daß wir jetzt ins Weite gehen, geht nicht. Dazu habe ich mir doch nicht so große Mühe um dich gegeben. Wir haben annähernd den Papa wieder unter uns Menschen. Es war zwar nicht hübsch anzusehen, wie die Verbindung sich wieder herstellte; aber was hilft es? es muß doch unsere Sorge sein, daß sich der Zusammenhang nicht wieder löse. Also – pflegen wir den Vater weiter, wie ich angefangen habe! Solltest du später einmal Berlin, Petersburg, Paris, London, Rom und dergleichen doch zu sehen wünschen, so watschele ich natürlich mit, oder hinter dir drein. Aber Eile hat es damit nicht. Augenblicklich haben wir noch ganz andere Dinge und Herrlichkeiten vor der Hand.‹ Das hatten wir in der Tat. Die rote Schanze zu erobern, war verhältnismäßig recht leicht gegen die Aufgabe, sie zu erhalten und sich in ihr, und das letztere noch dazu mit Sack und Pack, mit Weib und Schwiegervater. Tinchen, es ist mein bester Freund, dem ich hiervon jetzt erzähle, und er kann alles hören.«

»Mich hast du freilich schon lange gewöhnt, alles von dir zu hören«, seufzte Frau Valentine Schaumann.

»Meinst du?« fragte ihr Mann. »Heute abend noch hoffe ich dir das Gegenteil zu beweisen. Wenn es irgend möglich ist, lasse ich dir morgen von andern zutragen, was ich dir heute abend noch sagen könnte.«

»O Gott, doch nicht in Sachen Kienbaums?«

»Ich war unbedingt der schwerwiegendste lateinische Bauer, den die Göttin der Geschichte der Landwirtschaft je auf ihre Waagschale gelegt hat, Eduard. Ich bestellte den Acker, von dem ich aß, aber ich sah auch die dazugehörigen schriftlichen Dokumente und sonstigen Papiere im Schreibschranke meines armen närrischen Schwiegervaters nach. Ich bestellte auch das Vermögen, welches er in Schuldverschreibungen, also nicht bloß in rund um die rote Schanze liegenden, nicht nur in paläontologischer Hinsicht fruchtreichen Gründen besaß. Des Volkes Stimme erklärte mich darob für den Schlauesten, aber auch Gewissenlosesten aus seiner Mitte. Es hat so was, wie du weißt, lieber Freund, von Zeit zu Zeit nötig, um sich selber vor sich selbst eine ethische Haltung zu geben. Du lieber Himmel, wie waren sie mit dem Andreas Quakatz, mit Kienbaums Mörder, trotzdem daß sie gar nichts von ihm wissen wollten, in Geldangelegenheiten intim umgegangen! Was alles hatte sich vertraulich, Zutrauen gegen Zutrauen setzend, an ihn gemacht mit schlechten und guten Aktien, mit Pfandscheinen, Hypotheken, Bürgschaften und was sonst im wechselnden Verkehrsleben vorkommt. Bei drei Feuerversicherungsagenten hatte der alte Herr die rote Schanze versichert, weil sie ihm versichert hatten, daß sie fest überzeugt seien, er habe Kienbaum nicht totgeschlagen. Ich gebe dir da einen Faden in die Hand, an dem du dich, soweit es dir beliebt, in das dunkle Labyrinth, in das ich den Tag einzulassen hatte, zurücktasten magst. Mir erlaß eine weitere Ausführlichkeit. Kurz und gut, der Fluch Adams, soweit er den Acker: das Graben, Hacken, Pflügen, die Kartoffel-, Heu- und Getreideernte angeht, war eine Erholung gegen das nächtliche Graben, Pflügen und Roden am Schreibtische. Uh je, Eduard, hätte ich da nicht das Tinchen, das Kind mit seinem Strickzeuge, seiner Welterfahrung, seinen am Abend öfters recht altklugen, aber am anderen Morgen manchmal zum Erstaunen schlauen Zuflüsterungen bei mir gehabt! und die beiden arbeitsharten Bauernpfötchen, wenn sie mir meine zwei weichen Bildungsmenschenhände von den fiebernden Schläfen sanft herniederzog: ›O Heinrich, du tust es ja mir zuliebe, und, sieh nun mal zu, den fehlenden Rest von Kleynkauers Schuld findest du vielleicht noch auf seinen Schwiegersohn, der den Ausspann drunten in der Stadt hat, und auf seine zugekaufte Wiese hinter seinem Hause ins Schuldbuch eingetragen!‹ – Eduard, auch du hast es im Kaffernlande zu einem Vermögen gebracht: bitte, überhebe dich nicht deiner Anstrengungen dabei! Sieh, da fängt das Kind zu guter Letzt auch noch an zu weinen, weil sie es mir überlassen muß, dir zum Schluß mitzuteilen, daß es uns – ihr und mir – gelungen ist, dem Vater ein bißchen von seinem Recht an der Lebenssonne in den Belagerungsaufwurf des Comte de Lusace, den Ofenwinkel hinein und auf das wirre Haupt und über die geschwollenen Knie und die tauben Füße leuchten zu lassen.«

»Ja, ja, ja, Herr Eduard!« schluchzte die Erbtochter der roten Schanze, Quakatzens Tochter; doch Heinrich Schaumann schien weniger denn je in diesem Logbuch des Lebens Sinn zu haben für solche Rührung. Er zog bloß die Augenbrauen etwas tiefer herunter und murrte (zum erstenmal in seiner Erzählung machte sich hier so etwas wie ein leises Knurren geltend) und murrte: »Ja, ja, ja! da sie mich zu grüßen hatten, so grüßten sie auch ihn wieder, und der Mensch ist so, Eduard! es machte dem greisen Sünder wirklich Spaß, es machte ihm das höchste Vergnügen, noch einmal seine Zipfelkappe vor der albernen Welt freundlich zum Gegengruß lupfen zu dürfen. Er ist hinübergegangen in der vollen Überzeugung, unter der Menschheit in integrum restituiert worden zu sein. Was für eine Ehrenerklärung ihm drüben, droben, vom allerallerhöchsten Thron und Gerichtssitz zuteil geworden ist, kann ich leider nicht sagen. Und nun – nun, Tinchen, altes, tapferes Herz, und du, Eduard, fernster, das heißt entferntest wohnender Freund meiner Jugend, nun werde auch ich ihm sein letztes Recht zuteil werden lassen. Wer weiß, ob der höchste und letzte Richter mich nicht bloß deshalb so fett und so gelassen in die hiesige Gegend abgesetzt hat? Was die Gelassenheit anbetrifft, soll er wirklich den Richtigen an mir gefunden haben. Also, wenn du nichts dagegen hast, begleite ich dich nachher ein Stück Weges auf deiner Rückfahrt nach Afrika!«

»Heinrich?!« rief die Frau, beide Hände zusammenschlagend.

»Frau Valentine Schaumann?« mimte der Gatte ihr den Ton alleräußerster Verwunderung nach.

»Herr Eduard«, rief die Frau, »er hat mir Rom, Neapel, Berlin und Paris und dergleichen nicht gezeigt, und ich hatte auch nie ein Bedürfnis danach; aber er hat selber auch nie ein Bedürfnis danach gehabt! Er hat seit unserer Verheiratung keine sechs Male den Fuß über unser Besitztum und seine Knochensucherei in der nächsten Nähe hinausgesetzt! In die Stadt geht er nur, wenn ihm die Behörde dreimal ein Mandat geschickt hat und zuletzt mit Gefängnis droht! Er macht mich schwindlig mit so einem Wort, wie er eben gesprochen hat!«

»So sind die Weiber!« seufzte Stopfkuchen. »In Paris, Berlin und Rom hatten wir eben nicht das mindeste zu suchen; aber in der Stadt dort unten haben wir heute abend ausnahmsweise noch ein Geschäft. Wir! Frau Valentine Schaumann, geborene Quakatz! Solltest dich doch auch heute abend noch einmal darauf verlassen, daß ich weiß, was für unsere Gemütlichkeit das zweckmäßigste ist.«

»Oh, Heinrich, das weiß ich ja!« rief die Frau, zitternd den Arm ihres Mannes fassend und ihm ängstlich in die Augen sehend. »Aber das ist heute abend doch ganz was anderes als wie sonst! Du erzählst freilich den ganzen Tag durch nach deiner gewöhnlichen Art das Schlimmste und das Beste, das Herzbrechendste und das Dummste, wie als wenn man einen alten Strumpf aufriwwelt; aber jetzt solltest du damit aufhören und Rücksicht auf mich nehmen: grade wenn du mich auch zu allen übrigen Frauen auf Erden rechnest. Es ist mein Vater, von dem du erzählst! es ist meine kümmerliche Kinderangst und Jugendnot, von der du so sprichst! Und – Herr Eduard, er stellt sich ja auch nur deshalb so albern, weil er es wieder nicht an die große Glocke hängen will, was er eigentlich Gutes an uns getan hat! Nun sieh mir in die Augen, bester Heinrich, bester Mann, und habe noch einmal Mitleid mit mir! Es ist des Vaters letzter, vollständiger Rechtfertigung wegen, weshalb du jetzt mit deinem Freunde in die Stadt willst; und – und du willst mich nicht dabei haben! O Mann, Mann, ich gehöre aber doch dazu, und du mußt mich dabei sein lassen. Nicht wahr, du nimmst mich mit dir in die Stadt?«

»Nehme ich dich mit in die Stadt?« murmelte der jetzige unbestrittene Herr auf der roten Schanze, trotz aller rührenden Bitten seinem Weibe nicht in die Augen blickend, sondern, nachdenklich und zweifelnd, nur nach oben sehend. Erst nach einer geraumen Weile sagte er: »Wie du willst, mein Kind. Hm, hm, wenn deine Küche – wenn du nicht meinst, daß du in deiner Küche – Eduard bleibt doch auch wohl zum Abendessen –«

»Mensch, Mensch«, rief aber jetzt ich, »Unmensch, ich bin satt! Jetzt hörst du endlich hiermit auf und quälst mir deine Frau in diesem Augenblick nicht länger! Was hast du ihr, was hast du uns zu sagen? Kannst du es denn wirklich nicht hier auf deiner Verschanzung, in dieser Stille, bei diesem Abendschein über unserer Erde mitteilen?«

»Du wünschest lieber hier im Freien mit dem Grauen zur Nacht zu speisen und dich zu sättigen mit Entsetzen, Eduard? Hm, hm, hm –«

Und jetzt nahm er zärtlich sein Weib in seine Arme und küßte es und streichelte ihm die Wangen und fuhr ihm kosend, beruhigend über das Haar: »Mein Herz, mein Kind, mein Trost und Segen, es ist so ein alberner, alter, abgestunkener Unrat, den ich aufzuwühlen habe, weil es am Ende wohl nicht anders geht. Wie gern hielte ich den letzten öden, faden Geruch, der davon aufsteigen wird, ganz fern von unserer Verschanzung, wie Eduard eben die Sache mit dem ganz richtigen Namen genannt hat! Das kann ich nicht; aber – ich kann dir davon erzählen in dieser Nacht, so nach Mitternacht, wenn wir beide die Nachtmützen übergezogen haben – ich kann dir dann auch besser, wenn alles still ist über Quakatzenburg – droben die Sterne und unten die Gräber, sagte der alte Goethe – die dazugehörigen Bemerkungen machen –«

»Ich bleibe zu Hause und warte wieder auf dich, Heinrich«, sagte die Frau. Sie weinte, sie war in großer Aufregung, und ihr Dicker war unerträglich für jeden andern, in seiner Art, sich zu geben und andere dran teilnehmen zu lassen; aber sie war nicht bloß eine gute, sondern sie war auch eine glückliche Frau.

»Siehst du, das war wirklich im Grunde meine Meinung, Tinchen! Da – hier dieser gute Freund, dieser Eduard, reist morgen – übermorgen oder in drei Wochen ab, und zwar zu Schiffe. Er geht, wie man das im hohen Ton nennt: aufs hohe Meer. Dort weht gewöhnlich ein frischer Wind, und der Mann sieht auch unterwegs nur lauter andere Gesichter, nicht wie wir hier immer dieselbigen. Dem glücklichen Kerl will ich frisch diesen Duft der Heimat von der Lagerstelle aus mit auf die Reise geben, und dann ist er gewissermaßen auch sogar dazu berechtigt. Er steckt persönlich viel tiefer mit drin, als er es sich jetzt noch vermutet. Ja, ja, guck nur, mein Junge! mach mir nur große Augen! Also, du willst wirklich nicht mit uns zu Abend essen? Na, dann unterhalte du jetzt meine Frau so lange, bis ich die nötige Toilette gemacht habe.«

Er erhob sich schwer stöhnend von der Bank auf dem Walle des Prinzen Xaverius, griff, die erloschene Pfeife in der Linken, mit der Rechten zärtlich seinem Weibe unters Kinn und sagte: »Ja, bleib du lieber hier oben in der guten, lieben Luft unserer Schanze, Herz. Es ist ein zu angenehmer Abend und zu hübsch still, nur noch mit den späten Lerchen in der Luft! Diesem Weltwanderer wird der Seewind und vielleicht so'n kleiner Schiffbruch mit interessanter Rettung und dergleichen den fatalen Geruch von da unten wieder aus der Nase fegen. Und dann sehe ich ihn leider vielleicht in meinem ganzen Leben, nach seiner Abreise natürlich, nicht wieder und habe ihm also auch nicht Beruhigung, Seelenruhe zuzusprechen und dummes Gespenstergesindel aus der Phantasie zu kehren. Aber mit dir – zwischen uns, mein armes Herz, ist das eben eine andere Sache. Dich habe ich nun einmal bei gutem und bei schlechtem Wetter, bei Zahn- und Leibweh und allen übrigen Lebensnöten und Gebresten auf dem Halse, und – zugleich die Pflicht, doch auch mich in jeglichem Verdruß und Elend, bei jedwedem Gespenstersehen aufrechtzuerhalten. Was willst du jetzt persönlich dein altes Näschen in den Olims-Blut-und-Verwesungsquark hineinstecken? Siehst du, ich bringe nur Eduard ein Stück Weges auf den Weg, und nachher – nach Mitternacht –; na, wie gesagt, Eduard, jetzt unterhalte du meine Frau ein bißchen: ich bin sofort wieder bei euch.«


 << zurück weiter >>