Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Zuerst sah das Ding noch grade so aus, wie es vor Jahren ausgesehen hatte. Nur daß es heute in anderer Beleuchtung als an jenem Abschiedstage vor mir lag; nämlich im frischen, hellen Tagesschein, so um zehn Uhr morgens.

Noch immer derselbe alte Wall und Graben, wie er sich aus dem achtzehnten Jahrhundert in die zweite Hälfte des neunzehnten wohl erhalten hatte. Die alten Hecken im Viereck um das jetzige bäuerliche Anwesen, die alten Baumwipfel darüber. Nur das Ziegeldach des Haupthauses, das man sonst über das Gezweig weg und durch es hindurch noch von der Feldmark von Maiholzen aus gesehen hatte, erblickte man heute nicht mehr. Dieses brachte mich denn darauf, daß die Hecken doch wohl gewachsen und die Baumkronen noch mehr über der Quakatzenburg sich verdichtet haben müßten. Es mußte unbedingt im Sommer noch schattiger als sonst auf der roten Schanze geworden sein, und um dieses würdigen zu können, mußte man eben wie ich die Linie gekreuzt haben, um noch einmal nach Hause zu kommen und sonst auch überhaupt jetzt dort zu Hause sein, wo es durchschnittlich im Jahre recht heiß ist, und wo der Schatten manchmal ganz bedenklich mangelt.

Ich sah hin, die Hände vor dem Leibe übereinandergelegt; und ich sah mir alles, da ich ja Zeit hatte und niemand auf der weiten Flur mich störte und die Lerchen in den Lüften nicht störten, sehr genau an, ehe ich den Graben des Grafen von der Lausitz überschritt.

Da fiel mir denn bald noch ein anderes auf. Wie es innerhalb der roten Schanze aussehen mochte, außerhalb derselben, so weit ihr Reich ging, erschien mir das Ding verwahrloster denn je.

Sonst sah man es doch, trotz aller Verfemung, dem Dammweg sehr an, daß der kriegerische Aufwurf im fetten Ackerboden dieser Landschaft zu der Umwallung eines friedlichen Bauernhofes geworden war, daß Menschen und Vieh darüber ein- und ausgingen, daß Mist- und Erntewagen darüberhin fuhren, daß der Mensch, trotzdem daß Kienbaum von hier aus totgeschlagen worden war, auch hier noch seiner Nahrung und seinem Behagen nachging.

Dem schien jetzt nicht mehr so zu sein. Eine Römerstraße, auf der vor, während und nach der Völkerwanderung Tausende totgeschlagen worden waren, konnte im laufenden Säkulum nicht mehr überwachsen und von Grasnarbe überzogen sein, wie die alten Radgleise und Fußspuren, die über den Graben des Prinzen Xaverius von Sachsen auf dem Dammwege des Bauern zu der roten Schanze führten. Es leitete jetzt nur noch ein ganz schmaler, schmaler Fußpfad, ohne Radgleise, Huf- und Klauenspuren daneben, durch das hohe Gras. Quendel, blaue Glockenblume, Löwenzahn, Thymian und was sonst im Grunde das meiste Recht hier hatte, brauchte sich nicht mehr scheu wegzuducken oder sich von Huf, Klaue und Schuhsohle alles gefallen zu lassen.

Nun soll es mich doch wundern, dachte ich. Es ist doch wirklich, als ob das Gras auch hinter Ihm wieder aufgestanden sei! Und damit setzte ich den Fuß auf den Damm und in den engen Pfad, der zu Stopfkuchen hinüberführte, wie er vordem zum Bauer Andreas Quakatz hinübergeführt hatte, und – hielt noch einmal an. Es war noch ein Drittes jetzt hier am Eingange anders geworden als sonst: wo steckten die Hunde?

Ja, wo waren die Hunde der roten Schanze? Die Wächter der Quakatzenburg? Wo war die durch stille Winter- und Sommernächte, vorzüglich wenn in ihnen der Vollmond am Himmel stand, weithin ins Land ob ihrer guten, aber lauten Wacht bekannte und berüchtigte Wachtmannschaft?

Wir haben im Kaffernlande auf unsern Gehöften ihrer auch und haben sie nötig; aber nun war es mir wieder ganz deutlich: ich war nie in der Welt auf bösere Hunde getroffen als die der roten Schanze, und ich hatte nie ein Gebell böser Hunde – selbst wo ich wieder an es zurückdachte – so vermißt wie hier am Eingangstor dieses deutschen Bauernhofes.

Die nächsten Schritte gegen die Quakatzenburg belehrten mich, daß diese Wache abgelöst, aber keineswegs aufgegeben worden sei. Eine andere Mannschaft hatte sie bezogen, und der Empfang durch dieselbe sprach wahrlich für friedlichere Zustände als die von vergangenen Zeiten.

Wir kennen alle die alten hübschen, behaglichen Bilder, auf welchen am Tor mittelalterlicher Städte der Stadtsoldat auf der Bank unter dem letzten Edikt seines Senatus populusque, die Brille auf der Nase, den Bierkrug zur Rechten, die feuerschloß- und steinlose Flinte zur Linken, in idyllischer Ruhe und Beschaulichkeit an seinem Strumpf strickt. Ich habe selber solch ein Bild, Spitzweg gezeichnet, draußen zu Hause, drunten in Afrika, an der Wand über dem Sofa und Sofatisch meiner Frau (es mutet mich dann und wann um so mehr an, weil unter dem letztern, dem Sofatisch meiner Frau nämlich, ein Löwenfell zum Fußteppich dient), und ich fand es nicht ohne Behagen wieder, hier zu Hause, am Tor der roten Schanze. Nur wurde von dem jetzigen Wachtinhaber des weiland Prinzen Xaverius von Sachsen und Kienbaums Mörder, des Bauern Quakatz, nicht gestrickt.

Es wurde gesponnen.

Er saß nicht an, sondern auf dem rechten Torpfeiler, der jetzige Wachtmann der roten Schanze. Er saß mit Würde da in der Morgensonne und sah ruhig, gelassen, zu mir herüber – und er spann dabei. Sein Spinnen hinderte ihn aber nicht, auch den Schnurrbart zu streichen, ja, er fuhr sich mit der wehrhaften Faust sogar über die Ohren (was beiläufig in seiner Kompanie bedeutet, daß Besuch kommt) und strich sich die Nase und nieste dabei. Ich war ganz dicht bei ihm, als er einen Satz tat, und langsam, stattlich und über die Schulter gleichmütig nach mir zurücksehend, mir voranging, hinein in Quakatzenhof: der »Kapitän Hinze«, der »weiße Mann«, der wirklich fleckenlos weiße Kater – der Hauskater der Schanze des Comte de Lusace.

Er blieb noch einmal stehen und schlenkerte erst die rechte, dann die linke Pfote ab; denn es hing da immer noch etwelcher Tau am Grase, wo der Lindenschatten noch auf letzterm lag. Er sah mich noch einmal an und ging langsam wieder weiter, als wolle er mir den Weg zeigen: er betrachtete mich unbedingt nicht als Feind und ging auch wahrlich nicht mehr, um die Hunde zu holen und Tinchen Quakatz mit einem Feldstein in der Kinderfaust und den Vater Quakatz mit dem ersten besten Prügel oder gar der Mistgabel oder der Holzaxt! Es gab wohl nichts Einladenderes als ihn, den Hauptmann Hinze; und das, wozu der neue Wachtkommandant der roten Schanze einlud, winkte ebenfalls nicht ab und riet zu schleuniger Umkehr und eiligem Rückzug.

Ganz Stopfkuchen!

Stopfkuchen, wie er sich selber wohl tausendmal in seinen schönsten, elegischsten Jugendträumen als Ideal gesehen hatte.

O welch ein Frühstückstisch vor dem Binsenhüttchen, das heißt dem behaglichen, auch auf Winterschnee und Regensturm behaglich zugerichteten deutschen Bauernhause, vor dem Hause, am deutschen Sommermorgen, zwischen hochstämmigen Rosen, unter Holunderbüschen, im Baumschatten, mit der Sonne drüber und der Frau, der Katze, dem Hunde (jetzt ein ruhiger, verständiger, alter Spitz), den Hühnern, den Gänsen, Enten, Spatzen und so weiter und so weiter, rundum! Und solch ein grauer, der Jahreszeit angemessener, jedem Recken und Dehnen gewachsener Schlaf- oder vielmehr Hausrock! und solch eine offene Weste und solch eine würdige lange Pastorenpfeife, mit dem dazugehörigen angenehmen Pastorenknaster in blauen Ringeln in der stillen Luft!

»Stopfkuchen!«

Es gab nur ein Wort, und dieses war es, was ich murmeln konnte, wie ich jetzt stand und, wie der Marquis von Carabas, dem Kapitän Hinze meine weitere Einführung in die Behaglichkeit überließ.

»Stopfkuchen!« murmelte ich, während ich stand und darauf wartete, daß man, just aus seinem Wohlsein heraus, noch einmal in meinem Leben Notiz von mir nehme auf der roten Schanze.

Selbstverständlich war's die Frau, welche die Störung zuerst bemerkte, zu dem Fremden hastig aufsah und ihren Mann anstieß: »Aber, Heinrich? Ein Herr! Da ist ja wer!«

Ich habe es nicht gehört, aber ich bin nicht nur fest überzeugt, sondern ich weiß es gewiß, daß ihr Heinrich nichts weiter als: »Na?!« gesagt hat, als er, wenig erfreut, die Zeitung sinken ließ und die Nase erst seinem Wachtkapitän zu, sodann nach seinem Toreingang hin und zuletzt dem Eindringling in seinen Morgenfrieden entgegenhob.

»Entschuldige den Störenfried, lieber Alter. Eduard nanntest du, freilich vor langen Jahren, einen Freund, wenn er auch kein junger Baron war, sondern nur aus dem Posthause da unten stammte, Schaumann«, sagte ich, wie vollständig aus dem heißen Afrika in seine wonnige Kühle hinein ihm näher tretend. Die Frau legte das Strickzeug auf den Kaffeetisch, der Mann legte beide fleischigen Hände auf beide Lehnen seines Gartenarmstuhls, wand sich langsam in die Höhe, in seiner gediegenen Breite nun noch mehr zur Erscheinung kommend, und – sprang vor. Er tat einen Sprung! Es war der Sprung eines überfetten Frosches, aber ein Sprung war es!

Das Wort nahm ihm jedoch noch einmal die kleine, zarte Frau vom Munde weg.

»Jesus, Heinrich«, rief Valentine Schaumann, geborene Quakatz, »es ist wirklich und wahrhaftig dein Freund Eduard!«

»Halte doch mal meine Pfeife, Tinchen«, sagte Stopfkuchen, und dann nahm er mich wenn auch nicht in seine Arme, so doch an meinen beiden Oberarmen, hielt mich so eine Weile fest, aber doch von sich, besah mich ganz genau und – fragte: »Bist du es? Bist du es wirklich doch noch einmal? Die Möglichkeit ist es ja!« setzte er hinzu.

»Es ist die Wirklichkeit, alter Heinz; und ich freue mich, dich – die rote Schanze – nein, dich und deine Frau so wohl zu sehen! Du hast...«

»Dich gar nicht verändert. Bleibe mir, an jedem warmen Tage im Jahre wenigstens, mit der verruchten Redensart vom Wanste. Der andere Hohn: Mensch, aber wie dick bist du geworden! kommt ja doch gleich hinterdrein. In der Beziehung könnt ihr alle –«

»Schaumann, ich freue mich so sehr, dich so, gerade so wiederzufinden.«

»Na, na, im Schatten geht es ja wohl noch an. Da zerfließt man seinem besten Jugendfreund nicht sofort als ein Schemen in den Armen. Er ist es wirklich, Tinchen! Er hat wahrhaftig die Freundlichkeit gehabt, sich auch unserer noch zu erinnern.«

»Stopfkuchen?!«

»Das Wort schmeckt wenigstens noch ein bißchen nach andern jüngern Tagen und lebendigeren Gefühlen; aber die Tatsache bleibt dessenungeachtet bestehen. Geehrter, weshalb kommst du jetzt erst auch zu uns? Soweit lesen wir die Zeitungen hier oben auf Quakatzenburg noch, daß wir aus der Gasthofsliste wissen, wie lange du dich da unten bereits aufgehalten und natürlich einer Menge anderer das Vergnügen, dich wiederzusehen, geschenkt hast. Nu denn, das ist denn ja sehr freundlich von dir.«

Wie jeder, der mit Recht wegen einer Versäumnis am Ohr genommen wird, suchte ich nach einer Ausrede und fand diesmal folgende: »Das Beste erspart sich der verständige Erdenbewohner stets bis zuletzt. Dieses war, wie ich mich ungemein deutlich erinnere, auch dein Grundsatz in den Tagen unserer Kindheit und Jugend, lieber Heinrich.«

»Davon bin ich völlig abgekommen«, erwiderte Stopfkuchen. »Seit einigen Jahren schon nehme ich das Beste zuerst, lieber Eduard, und verlasse mich nicht mehr darauf, daß man ja Zeit habe und das Butterbrot sicher und fest in beiden Fäusten halte. Na, lassen wir die Komplimente! Das Glück ist dir diesmal wenigstens noch günstig gewesen: einen fetten Happen hast du dir an mir aufgehoben! was?«

»Nun, nun, bester Schaumann –«

»Und du – wie stehst du denn so dumm da, Mieze? Quakätzchen? Da der Mann sich als Mensch, Bruder und Freund wenigstens annäherungsweise legitimiert hat nach Menschenbrauch, so biete ihm wenigstens einen Stuhl und noch eine Tasse Kaffee an, wenn der noch warm ist. Setze dich wenigstens einen Augenblick, Eduard, wenn du Zeit hast; und dann – du, sieh sie dir einmal an! – Das ist sie! Tinchen; Tinchen Quakatz. Na, was meinst du, Eduard? Über mich hast du deine Meinung, dir unbewußt, durch Blick, Mundaufsperren, Hand- und Fußmimik bereits geäußert. Jetzt sage es mir dreist aufrichtig, wie du sie im Fleisch findest?«

Die Handbewegung, der Blick und was sonst zu dieser Vorstellung der Frau Valentine Schaumann gehörte – nichts ist davon zu beschreiben. Auch von dem Ton nicht, mit dem das Wort »Mieze« gesprochen wurde.

Und Quakätzchen?!

Eine geborene Quakatz, die Tochter von Kienbaums Mörder, Andreas Quakatz, die sich bei ihrem Eheherrn zu einer »Mieze«, ja, wie ich nachher merkte, sogar zu einem »Müschen«, mit längster, zärtlichster Dehnung auf dem ü ausgewachsen hatte und jetzt mir Platz im Sommermorgen und am Frühstückstisch auf der roten Schanze machte, die muß doch beschrieben werden!


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