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Einunddreißigstes Kapitel.
Herr und Frau Spiridon.

Jan hatte vergeblich versucht, sich den hartnäckigen Wünschen der menschenfreundlichen Baronin zu widersetzen, die ihn alle Augenblicke um Rat fragte und mit seiner Hilfe manche Einzelheit der Verwaltung ändern wollte. Natürlich hatte er Helene auf die Art öfters und näher gesehen. Er legte die Zurückhaltung, die er von Anfang an beobachtet hatte, aber nicht ab, und der einstige galante Flirt ward durch ernste Unterhaltungen über politische und soziale Fragen ersetzt. Wer die beiden gehört, hätte glauben können, das Schicksal Galiziens und der Bukowina liege ihnen weit mehr als ihr eigenes am Herzen.

»Und wenn ein neuer Aufstand ausbräche, würden Sie sich wieder mit hineinstürzen?« fragte Helene mit kühler Stimme.

»Ja, ohne Zögern, wenn es unsrer Sache zum Heil dienen könnte,« hatte er lebhaft geantwortet.

»Und Sie fürchten weder Tod noch Verbannung, nicht einmal die Verbannung, deren Folgen für das Vaterland so fürchterlich sind, da sie es seiner besten Männer beraubt?«

Jan war unbeugsam geblieben.

»Man erreicht nichts ohne Opfer. Um den Keim einer Idee aufgehen zu sehen, muß man ihn mit Blut düngen. Sie sind ja so gelehrt, gnädiges Fräulein, und wissen sicher, daß Peter der Große einer Idee seinen Sohn Alexis geopfert hat.«

Tante Aniela, die stets auf eine Erklärung lauerte, die das Schicksal der beiden jungen Leute entscheiden möchte, nahm mit Erstaunen ihr seltsames Gebaren wahr, und manchmal, wenn die beiden lange unter den blühenden Sträuchern des Gewächshauses im Tete-a-tete gesessen, fragte sie Helene neugierig, was sie denn miteinander geredet hätten.

»Heute – von der Lethargie Galiziens. Trotz all der sogenannten Freiheiten entwickelt sich das Land doch nicht.«

Die Oberstin machte große Augen und betrachtete das kühle Mädchen mit höchster Verwunderung: »Ach, davon haben Sie geredet?«

Wenn aber Jan Frau von Tornas Wünschen stets nachkam, so hatte er doch alle ihre Einladungen hartnäckig abgelehnt. – Weshalb nahm er nun plötzlich die Aufforderung zu einem Konzert an, womit die beiden Tornas den Jahrestag ihrer Hochzeit feiern wollten? War es eine Laune und hatte er sein Einsiedlerleben satt? Oder wollte er sich nicht eingestehen, daß Helenes Schönheit, die unverhohlene Sympathie, die sie ihm bezeigte, zuletzt doch über seine Kälte gesiegt hatten? Als er die große, glänzend erleuchtete Halle betrat, in der der ganze Adel der Umgegend zusammenströmte, waren die wilden Weisen einer Zigeunerkapelle an sein Ohr gedrungen, und auf einer schnell hergerichteten Estrade hatte er zehn Musikanten, Männer und Frauen, in dunkelfarbigen Dolmans mit Goldtressen bemerkt. Diese packende Musik, das schmachtende Singen und Klagen, die leidenschaftlichen Modulationen, die die Geigenbogen hervorlockten, weckten so unvergeßliche Erinnerungen, daß er sich tiefbewegt fühlte. Gewiegt von den bezaubernden Melodieen, ging er achtlos durch die Menge, und als er dem Hausherrn und der Hausfrau seine Verbeugung gemacht hatte, drängte er sich zwischen den Sitzen durch zu einem an Helenes Seite freigebliebenen Platz, während die Hörer den Musikanten wahre Ovationen bereiteten.

Plötzlich erschien ein Sänger vorn auf der Estrade. Ein prächtiger Kerl! Er überflog die glänzende Versammlung mit einem Ausdruck der Befriedigung in seinem flammenden Blick, lachte, so daß man all seine zweiunddreißig elfenbeinweißen Zähne sah, zwirbelte seinen famosen Schnurrbart auf, und von dem Orchester in der Surdine begleitet, begann er mit tiefer, schmetternder Stimme, die den Hörern heiß und kalt machte:

»Ich sah den frechen Janitscharen,
Entzündet von der Schlachten Gier,
Vergreifen sich an meiner Liebe,
Bedrohen Leib und Leben ihr –«

Frenetischer Beifall hatte dem Sänger gelohnt. »Da capo, da capo!« erscholl es, untermischt mit Hurra, Bravo und Stampfen.

Beim Anblick des Sängers war Jan alles Blut ins Gesicht gestiegen – er hatte in diesem Laffen da den Walachen erkannt, den Don Juan, den Frauenräuber Spiridon. Mit wildklopfendem Herzen war er aufgesprungen und wollte auf die Estrade zueilen, ihn ohrfeigen. Helene, die ihn beobachtete, erschrak, und unwillkürlich legte sie ihm die Hand auf den Arm. Inzwischen war der Sänger in die Kulisse zurückgetreten, und die Violinen jauchzten und schmeichelten wieder in leidenschaftlichem Wirbel.

Noch immer stehend, hatte Jan ein winziges Opernglas hervorgezogen, und mit erregtem Blick musterte er die Gruppe der Spieler. Da war sein dunkelrotes Gesicht aschfahl geworden, ein Stich war ihm ins Herz gedrungen ... Malva ... Malva war da! Sie, die er geliebt, angebetet, vor allen andern erwählt, als sein eheliches Weib betrachtet, der er freiwillig seinen Namen gegeben – und die ihn verraten hatte. Sie war da, die Treulose, die Verräterin, die Lügnerin, und saß ein wenig abseits von den andern in dieser gemeinen Gesellschaft. Er unterschied ihre feinen Züge, ihr blasses Gesicht. Malva! Er betrachtete sie mit verstörtem Blick, die Adern schlugen ihm mit unglaublicher Heftigkeit, alles drehte sich vor ihm. Zuletzt fragte er, ohne recht zu wissen, was er tat: »Wer sind diese Leute? Woher kommen sie?«

Helene blickte ihn an. Auch sie hatte gesehen und verstanden. Triumphierende Freude überströmte ihr Herz, und sie brauchte all ihre Selbstbeherrschung, um sich zu bemeistern.

»Haben Sie denn das Programm nicht gelesen?« sagte sie mit heller Stimme, die eine unbegrenzte Verachtung ausdrückte. »Es ist die Truppe von Spiridon und Frau, beliebige Zigeuner, die der Baron in Kolomea angetroffen und für heute engagiert hat. Sie kommen eben von einer mehrmonatlichen Tournee durch Galizien zurück.« Dabei stand sie auf, um die Estrade besser zu überblicken.

Dann wandte sie sich ostentativ dem jungen Manne zu, so daß ihre Gesichter sich fast berührten.

Jan streifte sie mit einem tragischen Blick. Was hatte sie gesehen oder erraten? Las sie auf seinem Antlitz seine Qual und Scham? Aber schon hatte sie ihre gleichgültige Maske wieder angenommen und fragte sehr ruhig: »Haben Sie etwas? Ist die Hitze Ihnen lästig?«

Ob er etwas hatte! Großer Gott, Schmerz und Demütigung marterten ihn; er hatte nur den einen Gedanken: dieser Hölle entfliehen.

»Ja,« sagte er, »ich fühle mich plötzlich nicht ganz wohl. Ich will lieber nach Hause gehen.«

Er drückte ihr die Hand, und ohne auf die Leute zu achten, die er anstieß, stieg er über Stühle und Bänke bis zur Tür.

In dem Augenblick, als er den Saal verließ, war auf der Estrade ein übrigens unbemerkter Zwischenfall vorgekommen. Man hatte eine der Spielerinnen, die plötzlich ohnmächtig geworden, weggetragen. – Das Konzert näherte sich seinem Ende. Der schöne Sänger trat wieder vorn auf die Bühne und verkündigte, daß er zu Ehren der edlen und mächtigen Gutsherren einige besonders für diese Gelegenheit bestimmte Strophen singen und die anmutige Frau Spiridon ihn auf ihrer Guzla begleiten werde.

Sofort sah man auch eine blonde, fesche junge Frau vortreten, die ein Saiteninstrument in der Hand hielt.

Ganz verblüfft betrachtete Helene sie. So war nicht Malva die Frau dieses Kulissenreißers?

Unwillkürlich drehte sie sich um, um sich zu vergewissern, daß Jan auch wirklich fort sei. Denn er hatte sich ebenso täuschen müssen wie sie.

Während der begeisterten Huldigungen des letzten Stückes standen die Gäste auf, um sich in den Salon zu begeben. Ganz verwirrt richtete Helene ihre Schritte nach einem Fenster, hob den Vorhang und sah hinaus, aber ihr starrer Blick nahm weder den bestirnten Himmel noch die Britschka wahr, in die Jan sich hastig geworfen hatte.

Sie fühlte sich eiskalt, und ihre Lippen waren trocken. Vielleicht hielt sie noch einmal Effendis Schicksal in ihren Händen. Sie kannte aber kein Zögern. Niemand konnte erwarten, daß sie Jan aufklären würde. Bei diesem naiven Gedanken lachte sie bitterböse.

Alle ererbte Härte und Grausamkeit erhob sich jetzt, wo es ihr eigenes Glück galt, vom Grunde ihrer Seele.

Sie hatte das Fenster halb geöffnet, und ein frischer Wind umfächelte sie. Da stützte sie sich auf den Sims, und hinter dem schweren Vorhang versteckt, taub gegen die nach ihr rufenden Gäste, versenkte sie ihre Blicke in die Sternennacht, durch die Jan schmerzverstört heimeilte.

Aber dieser Schmerz ließ sie gleichgültig, denn er war notwendig!

Es war das letzte Zucken eines Krampfes, der seinem Ende entgegenging.

Und sie dachte an die ganz winzige Ursache, die eine solche Umwälzung hervorgebracht hatte: drei Worte auf einem Programm – Herr und Frau Spiridon! – das genügte vielleicht, um sie eines Tages glücklich zu machen. An welchen Spinnenfäden hängt oft unser Schicksal! Und Jan würde sie am Ende doch noch lieben. Sie fühlte es, denn Liebe weckt Liebe. Er würde sie lieben, jetzt, wo er wußte, wo er Gewißheit hatte. O, sie würde Geduld haben ... würde lange warten ... lange ... würde die Stunde abpassen, wo der Schmerz sich abgestumpft hätte. Denn der Schmerz gleicht dem Kiesel im Dnjestr, es bedarf vieler Tränen, um ihn abzustumpfen. Sie überlegte noch, indem sie hastig die Zukunft überschlug, daß diese Heirat eine Wohltat, ein den Zenowitz' erwiesener Dienst sein würde. Hatte sie nicht verstanden, daß sie für die Familie die Erlöserin war, die ihren spießbürgerlichen Stolz von dem stets drohenden Alp dieser romantischen Heirat erlösen würde!

Diese Heirat würde auch ein Akt der Gerechtigkeit sein, da Helene dem durch ihren Vater ruinierten Manne die ihr von ihren Wohltätern großmütig aufgedrungene Mitgift zubringen würde.

Und diese Gedankenflut schwellte ihr Herz so, daß sie beide Hände darauf pressen mußte, um sein Klopfen zu stillen.

*


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