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Siebzehntes Kapitel.
Diotimas Namenstag.

Es war Malva eine süße Gewohnheit geworden, Jan jeden Morgen wie zufällig zu treffen, wenn sie aus der Stunde kam.

Jetzt wagte sie bereits, sowie sie ihn erblickte, ihn mit einem schüchternen Lächeln zu begrüßen.

Strahlend kam er heran. Sie gingen dann nebeneinander, und nach und nach zutraulicher werdend, erzählte sie von ihrem Landleben unter der Obhut des guten Spielmanns, und was sie erlebt hatte, seit sie mit ihrer Tante in die Stadt gekommen, um Musik zu studieren.

»Wozu das aber?« fragte Jan gespannt.

»Nun, um mein Brot zu verdienen. Mein Lehrer sagt, ich könne in Kirchen oder in einem Orchester spielen.«

Sie schien weder von dem einen noch dem andern einen rechten Begriff zu haben.

»Und Sie sind mit Ihrem Schicksal zufrieden, Fräulein Malva? Sie ersehnen nichts andres?«

Ihre Stirn hatte sich verdunkelt, doch sie verjagte die trüben Gedanken.

»Sie werden lachen, wenn ich's Ihnen sage. Aber – ich habe so oft den andern aufgespielt, daß ich einmal auch selbst – o nur ein einziges Mal – selbst tanzen möchte, mich drehen, drehen, bis ich umfalle.«

»Das lobe ich mir!« rief Jan lustig. »Solch ein Wunsch ist leicht zu erfüllen. Wir werden das mit Lina verabreden, und ich werde Ihr Kavalier sein.«

Als Malva eines Morgens leichtfüßig das Haus ihres Lehrers verließ und das strahlende Antlitz des jungen Mannes zu sehen hoffte, fand sie den Laubengang leer. Ganz bestürzt ging sie mit gesenktem Kopf weiter. Am nächsten Tage und an den folgenden Tagen war's ebenso.

Sie erfuhr zufällig durch ein Wort, das sie über den Hof auffing, er sei plötzlich abgereist. Ach, hätte er sie nicht benachrichtigen, ihr diesen Schmerz ersparen können? Aber freilich, er ahnte ja nicht, was sie empfand. Zwischen ihnen bestand ja nur eine innige Freundschaft.

Die Tage vergingen trübselig: zehn Tage, vierzehn Tage, und jeder nahm etwas vom Rot der Wangen Malvas mit fort. In ihrem armseligen Häuschen gestattete sie sich keine tollen Improvisationen mehr, sondern vergrub sich in die trockensten Übungen, und abends, wenn alles schlief, kniete sie lange zu Füßen ihres Bettes, und ihr Gebet endete in schmerzlichem Sinnen.

»Was beklagst du dich?« sagte ihr Gewissen, »hast du ihm nicht zuerst zugelächelt, als Thekla nach dem Ball der Rudowitz die Tür schließen wollte? Und als er dich im Laubengang angesprochen, hättest du ihn nicht abweisen sollen, wie du's anfangs getan? So hätten die schönen Fräulein gehandelt, die mit gesenkten Blicken an der Seite ihrer Mutter den Wagen verlassen und die Kirche betreten – und die du so beneidest! Du aber hast dich wie ein gewöhnliches Bauernmädchen benommen, das mit seinem Schatz umherzieht ... und er hat dich nach Gebühr behandelt, indem er sich über dich lustig gemacht.«

Als sie eines Nachmittags traurig ihre Variationen übte, und Thekla Rahm schlug für das große Fest bei Piks – Diotimas Namenstag sollte dort gefeiert werden –, kam Tymofte lärmend hereingestürzt: »Mein Vater ladet euch auf sieben Uhr zum Tee ein.«

Heftig errötend sagte Thekla, die sich durch alles gleich geschmeichelt fühlte: »Er ist äußerst liebenswürdig.«

Der Junge hatte sich hinter Malva geschlichen. »Effendi kommt heute zurück,« flüsterte er ihr ins Ohr.

»Was geht das mich an?« antwortete sie erbleichend.

»Stelle dich doch nicht dumm ... hab' ich dich vielleicht nicht mit ihm im Laubengang gesehen? Und wenn ich deiner Alten nichts davon gesagt habe, so geschah es aus Freundschaft. Aber bei mir, meine Liebe, ist nichts umsonst. Was gibst du mir dafür? Einen Kuß? O, ich kriege ihn schon noch.« Und er rannte fort.

Bereits um fünf Uhr nahm Thekla ihr sorgfältig zusammengelegtes schwarzes Taftkleid, das wohl an zwanzig Jahre alt war, aus dem Koffer; dazu eine große Goldbrosche, eine vergoldete Kette, einen gestickten Kragen, eine amarantfarbne Schleife und grüne, stockfleckige Handschuhe.

»Welch ein feiner Mann, dieser Pik,« sagte sie, »er betrachtet uns wirklich wie seine nächsten Anverwandten.« Und sie zog sich mit feierlicher Langsamkeit an, während Malva ihr weißes Kleid mit fieberhafter Hast zunestelte.

Überall bei den Piks drängten sich die Gäste.

Der mit dem pomphaften Namen »Kanzlei« bezeichnete Raum war den älteren Herren reserviert: Spekulanten und Geldmenschen, alte Insurgenten, die wieder heraufkommen wollten, Flüchtlinge vom Kriegsschauplatz etc. Kaum einige Juden waren darunter und nur solche, die durch Aufenthalt in den Großstädten zu Kosmopoliten geworden und die alten Talmudvorschriften ihrer Vorfahren nicht mehr beobachteten. Eine völlige Zwanglosigkeit herrschte unter den Geladenen. Auf den Spieltischen standen Batterieen von Rum- und Tokaierflaschen neben Schüsseln mit Braten und Aufschnitt. Alle aßen und schwatzten zugleich, und beim Eintreten sah man nur dichten Zigarettenrauch und die kleinen Pünktchen der Kerzen.

An einem der Tische versuchte ein alter Beau mit gefärbtem Schnurrbart und verlebten Zügen den Zuhörern durch die Eroberungen, die er bei den Damen während des letzten Aufstands gemacht, zu imponieren. »Ich hatte,« sagte er, »um über die Grenze zu kommen, mich als Frau verkleidet. Ein russischer Offizier verliebt sich in mich! Entdeckt werden bedeutete den Galgen. Glücklicherweise hat die reizende Frau des Obersten eine feinere Nase gehabt ... sie hat mich in einem Waschkorb verstecken können, und so bin ich nach Preußen geschickt worden.«

»Das ist lang her,« spotteten die andern.

Seit einem Augenblick war Jan Korab ins Zimmer getreten. Sogleich faßte Pik ihn vertraulich unter: »Mein lieber Effendi, ich möchte Ihnen Herrn Soroka, einen alten Insurgenten von dreiundsechzig, vorstellen, der in allen Sätteln gerecht ist. Heute macht er Sachverständigenaufnahmen. Vielleicht könnten Sie ihn bei der ersten Begutachtung von ›Grüntann‹ verwenden. Der arme Teufel hätte etwas Geld nötig.«

Inmitten der revolutionären Klubs von Konstantinopel aufgewachsen, war Jan von seinem Vater daran gewöhnt, die Stirn jedes Insurgenten mit einem Heiligenschein zu umgeben; er streckte dem schwarzbärtigen Individuum mit blauer Brille, auf das der Agent ihn zuschob, daher warm die Hand hin.

Warum erinnerte dieser eigentlich häßliche Mensch ihn an einen Mann, den er früher in Stambul gesehen, und dessen glänzende Schönheit ihm heute noch unvergeßlich geblieben? Er kam damals im Geheimen aus London und gab sich als einen Insurgenten aus, und alles, was er tat, hatte etwas Geheimnisvolles.

Was aber den kleinen Jan damals frappiert hatte, war die ungewöhnliche Kälte, mit der sein sonst so nachsichtiger Vater diesen Mann behandelte. Einmal hatten sie sich im Café von Pera getroffen, und als man zahlen sollte, hatte jener seinen Beutel ziehen wollen. Jans Vater warf dem Mann aber einen fürchterlichen Blick zu, und errötend hatte der andre mit einem so traurigen, demütigen Ton »Verzeihung!« gestammelt, daß Jan davon ganz gerührt wurde. – Am Abend hatte sein Vater ihn auf die Kniee genommen und, ihn in seine Arme drückend, gesagt: »Der Mann ist ein Elender – ich verachte und bemitleide ihn. Er macht falsche Bankscheine, um dem Lande zu nützen ... Aber mit solchen Mitteln wollen wir unser teures Vaterland nicht befreien.« Und Tränen standen ihm im Auge.

Wie tief mochte jener Mann heute gesunken sein, und welche Ähnlichkeit bestand zwischen ihm und dem Fremden, den man Jan soeben vorgestellt?

Während ihm das alles rasch durch den Kopf ging, fragte er, ohne weiter zu überlegen: »Sie waren nie in London?«

Der Mann ließ seinen irren Blick einen Moment auf Jan haften und antwortete dann langsam: »Nie, mein Herr!«

In dem Speisesaal, dem Reich der Damen und der jungen Leute, erdrückte man sich fast. Die Männer, die an die Wand gedrängt standen, verschlangen hastig eine Scheibe Schinken oder nagten ein im Fluge erwischtes Hühnerbein ab. Die jungen Mädchen, denen die Lebensfreude aus ihren frischen Gesichtern mit den prächtigen Augen strahlte, knabberten Süßigkeiten und flirteten dabei. Frau Pik, die am oberen Ende des Tisches in einem Lehnstuhl lag, hatte Thekla neben sich sitzen lassen. Welch ein seltsamer Kontrast, die bleiche, steife, aufgeputzte Bäuerin und die übersprudelnde Dame des Hauses mit ihren zahllosen Rüschen, Pompons und vielfarbigen Falbeln, die beim Essen wie beim Reden keine Minute verlor.

»Sieh doch, Thekla, unsre Nastunia, wie schön sie ist,« flüsterte Frau Pik und ergriff ohne Unterschied mit ihren runden, kostbar beringten Fingern die Datteln, Bonbons und Wurstscheiben, die auf dem Tische standen. »Graf Severin ist in sie verschossen ... er verschlingt sie mit den Blicken ... zuerst hatte ich an Effendi für sie gedacht, aber ich glaube,« setzte sie mit einem leichten Glucksen hinzu, »er ist anderweitig beschäftigt.«

Thekla sagte etwas unsicher: »Aber ... diese Herren ... gehören doch zum Adel ...«

Die schöne Orientalin machte die bekannte Handbewegung, in der morgenländischer Fatalismus sich so gut mit Gleichgültigkeit vereinigt.

»Wo kommst du her, meine Liebe? Du vergißt, daß in Österreich eine Postmeisterstochter sogar einen Erzherzog geheiratet hat. Heute ist sie eine große Dame, und unsre Nastunia, die weit hübscher ist, sollte weniger Glück haben? Ich sage dir, Thekla, eine Frau kommt nur durch Schönheit zu etwas. Das kannst du Arme freilich nicht verstehen ... Zwanzig Jahre, das ist das Alter der Liebe; wer so weit ist, soll's benutzen. Ich war erst sechzehn, als Pik mir den Hof machte. Deine kleine Malva wird das auch erfahren, warte nur – ja, vielleicht hat ihr Herz schon gesprochen ...«

Thekla erschauerte, und unwillkürlich suchte sie das junge Mädchen.

»Wenn ich so etwas glauben könnte, wären wir schon wieder im Dorf,« sagte sie mit fast tragischem Ton.

»Wirklich?« Und Diotima verschluckte eine Scheibe Mandelbrot, wobei sie von neuem gluckste.

Eine geschmeidige Hand legte sich auf die Schulter der Bäuerin: »O Sie alte Wichtigtuerin,« sagte Piks honigsüße Stimme – denn Pik machte es möglich, mit all seinen Gästen in Berührung, zu treten und überall zugleich zu sein –. »Sie tut gerade, als ob sie eine Prinzessin von königlichem Blut zu hüten hätte! Nun, ich habe mir ausgedacht. Ihnen Ihre Malva auf zwei, drei Tage aufs Land zu entführen, mit Lina, Nastunia, einer ganzen Gesellschaft.«

Thekla krauste die Stirn, doch die magischen Worte des kleinen Mannes bezwangen sie: »Solange sie unter Ihrer Obhut ist, Herr Pik, bin ich ruhig.«

In dem großen Salon hatte man bei dem schönen Frühlingswetter die Fenster geöffnet, und die ausgelassene Jugend hatte sich zum Blindekuhspiel dorthin geflüchtet. Mit tollem Übermut führte Lina die Sache an, während ein junger langhaariger Musiker mit hohlen Wangen wütend das Klavier bearbeitete. Das schöne Mädchen war ganz aufgeregt durch eine Liebeserklärung, die ihr völlig unverhofft der reiche Bankier Tedesco aus Jassy gemacht, ein älterer, etwas kahler Mann mit kunstvoll aufgedrehtem Schnurrbart.

Der Tumult war unbeschreiblich, Schreien, Lachen und Stoßen, alles durcheinander. Ganz verwirrt von diesem Höllenlärm, hatte Malva sich in eine dunkle Ecke geflüchtet. Vergeblich hatte sie bisher in dieser Menge den gesucht, den sie zugleich ersehnte und fürchtete. Sicher hatte Tymofte gelogen. Gerade in diesem Augenblick tappte der entsetzliche Bengel mit verbundenen Augen in der Saalmitte umher. Plötzlich kam er geradeswegs auf ihre Ecke zu und packte mit seinen rauhen Händen ihr zartes Gesicht, ihre seidenweichen Haare.

»Laß mich,« rief sie erschreckt.

»Malva, ach die spröde Malva!« rief Tymofte mit seiner blechernen Stimme. Dann nahm er das Tuch ab, drückte es dem Mädchen über die Augen und schleppte sie unter den Kronleuchter.

Dort drehte sie sich mit ausgestreckten Händen erschreckt im Kreise, da sie auf dem glatten Parkett zu fallen fürchtete. Und die Mitspielenden neckten sie, schwenkten sie herum. Der zog sie nach rechts, jener kniff sie in den Arm, ein dritter faßte sie bei der Taille. Plötzlich erbebte sie – ein Kuß auf ihrem Nacken! »Von Tymofte!« Aber der freche Wicht war schon weit weg. Ganz fassungslos, glaubte sie bereits, das würde so die ganze Nacht gehen. Da fühlte sie, daß sich ihr jemand absichtlich in den Weg stellte. Verschüchtert, wagte sie keine Bewegung mehr zu machen, als eine feine, weiche Hand ihr Handgelenk faßte und sie einen zarten, ihr so wohlbekannten Ambraduft wahrnahm.

Da hörte ihr Herz fast zu schlagen auf.

»Wollen Sie mich nicht wiedererkennen, Malva?« flüsterte eine einschmeichelnde Stimme ihr zu.

Vor Erregung konnte sie nicht antworten. Sie riß die Binde ab und sah Jan im vollen Licht vor sich stehen.

»Ein Pfand, ein Pfand!« rief es von allen Seiten.

»Sie sind mir eine Gunst schuldig, mein Fräulein,« sagte Effendi, »aber ich will großmütig sein.«

Er sah, wie ihre Lippen zitterten, und da der Musiker einen wilden Galopp spielte, umschlang er sie und riß sie im Tanze fort. Die ganze Gesellschaft folgte den beiden und stürmte durch die offenen Türen in den monddurchleuchteten Garten.

In einer Fensternische stand Pik und beobachtete. Die fröhlichen Paare tanzten den sanften Rasenhang hinunter und drehten sich unten weiter. Jan hielt Malva fest in den Armen. Atemlos blieben sie am Ende des Rasenplatzes stehen, und als ob der Trennungschmerz der letzten Tage sie plötzlich überwältigte, fielen sie einander in die Arme.

»Malva, ich liebe Sie!«

Sie antwortete nicht, nur Tränen überströmten ihr Antlitz. Zuletzt flüsterte sie: »Ich glaubte Sie für immer verloren!«

»O Malva, Sie hatten mir ja so streng Ihre Tür verboten, deshalb mußte ich fort, ohne Sie noch zu sehen. Aber nach diesem Geständnis erlauben Sie mir, mit Ihrer Tante zu sprechen, nicht wahr?«

Als ahne ihr Unglück, war sie erblaßt.

»Ich bitte Sie, was ist denn dabei so Schreckliches ... ich gebe Ihnen drei Tage, um Ihren Argus zu erweichen ... drei Tage,« wiederholte er lachend. Dann wieder ernst werdend: »Ich denke daran, ein Gut zu kaufen. Herr Pik hat die Unterhandlungen übernommen. Er hat mir versprochen, das Gut in den nächsten Tagen mit mir zu besichtigen, und er will die ganze Familie mitnehmen. Man hat mir versichert, daß auch Sie dabei sein würden.«

Langsam hatten sie den Weg nach der Villa wieder eingeschlagen, doch zu bewegt, um zu sprechen, lauschten sie nur den Schlägen ihres Herzens.

Einige Paare waren in den Saal zurückgekehrt, während andre, gefühlvollere sich unter den Bäumen ergingen. Unruhig darüber, daß sie Malva nicht erblickte, versuchte Thekla das Dunkel des Gartens zu durchdringen. Endlich glaubte sie Malva am Arm eines jungen Mannes zu entdecken, und sie fühlte, wie ihr der Atem stockte.

Wie kam es, daß Pik in diesem Augenblick an ihrer Seite stand und freundlich sagte: »Meine Frau wünscht Sie, liebe Thekla. Wollen Sie meinen Arm nehmen?«

Thekla schwankte zwischen ihrer Pflicht und dieser großen Ehre: »Wenn nur Malva ...« stotterte sie ...

»Ei, die ist im Garten mit ihrem Kavalier, wie Lina und Nastunia, und ich bitte Sie, meine Liebe, zu glauben, daß bei mir nur Ehrenmänner verkehren!«

Da ließ sie sich fortführen.

Wenige Augenblicke später verkündeten singende Geigenklänge ihr Malvas Rückkehr in den Salon, und sie atmete auf, da sie sie endlich unter Obhut ihrer Violine wußte.

*


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