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Elftes Kapitel.
Tante und Nichte.

Kaum konnte Malva nach der qualvollen Lustbarkeit, bei der sie in ihrer traurigen Aufgabe, dem Vergnügen anderer zu dienen, die ganze Herbigkeit der menschlichen Selbstsucht ermessen lernte, einige Stunden unerquicklichen Schlafs finden. – Jäh von der blendenden Sonne erweckt, läßt sie ihre müden Blicke über den dürftigen Hausrat ringsum schweifen. In der Küche besorgt Thekla die Wirtschaft. Niemals ist Malva ihr Heim so jämmerlich erschienen, nie hat sie so stark unter der Niedrigkeit ihrer Stellung gelitten.

Zum ersten Male bedrückt sie das alles, und als sie an Theklas mürrische Haltung dem Effendi gegenüber denkt, steigen ihr Tränen des Ärgers ins Auge.

Ein liebliches Vögelchen, inmitten von Blumen und Liedern erwachsen, hat sie bisher die dunklen Seiten des Lebens kaum gekannt, doch jetzt, seit die Bewunderung für diesen Mann sich verräterisch in ihr unschuldiges Herz geschlichen hat, empfindet sie es scharf, daß die beste Zeit ihres Lebens unwiderruflich vorbei ist.

In Jans unerwartetem und freundlichem Dazwischentreten sieht sie plötzlich nur Gefahr und Hinterlist. Dann empört Helenes unverschämtes Wort: »Haben Sie überhaupt einen Namen?« sie aufs neue. Einen Namen? Sie trägt den gleichen wie Thekla, Danyl, die Großmutter. Ist er nicht ihr eigen? Jedesmal wenn die brennende Frage ihrer Herkunft, wie neulich von Spiridon, erörtert wurde, umgab Thekla sich mit feindseligem Schweigen. Irgend ein Geheimnis steckt sicher dahinter ... vielleicht gar eine Schuld? Und sie sinnt eifrig, das Dunkel ihrer Vergangenheit zu ergründen, zermartert sich den Kopf, um eine Spur zu finden. Aber sie kann nur immer wieder zwei rätselhafte Bilder, die in der Tiefe ihres Gedächtnisses ruhen, von neuem wachrufen. – Das erste ist ganz hell: junge, frohe, lachende Gesichter, die sich in einem unbestimmten Glanz von Licht und Blumen über sie beugen. Man erdrückt, küßt sie, reißt sich um sie, und das Gefühl davon ist ihr unvergeßlich eingegraben. – Das andre Bild hingegen ist gedämpft und friedlich: ein ernstes Antlitz, Augen, die sie zärtlich anblicken, ein sehr weicher Bart, worein sie ihr Gesichtchen schmiegt, starke Arme, die sie umfassen, wiegen. Und das ist alles! Aber niemals hat ihr Thekla diese einzigen Erinnerungen, die mehr Traumbildern gleichen, auch nur mit einem Worte erklärt.

Es läutet Mittag von der nahen Kirche. Thekla hat die dampfende Suppe auf den Tisch gestellt: eine vorzügliche Bouillon, wo Gerste und Pilze in Rahm schwimmen. Die wird dem Kind gut tun. Dann sagt sie mit zugleich feierlichem und zärtlichem Ton: »Dem Fräulein ist der Tisch gedeckt.«

Malva erscheint, und mit gefurchter Stirn, mit zitternder Lippe sagt sie: »Fräulein wer?« Ihre Stimme ist seltsam.

Und leidenschaftlich fügt sie hinzu: »Gestern hat Helene von Rudowitz mich zu fragen gewagt, ob ich überhaupt einen Namen hätte?«

»Nun,« antwortet Thekla vermittelnd, »da hast du ihr doch gesagt, daß du Lada heißt?«

»Lada ist nicht mein Name. Hast du nicht neulich gesagt – und das ist beweisend –, daß ich keine Papiere habe? Wer keine Papiere hat, hat auch keinen Namen.«

Und kampfbereit bleibt sie stehen.

»Na, was fällt dir denn ein?« ruft die alte Thekla ganz baff.

»Was mir einfällt? Ach, ich bin all der Geheimtuerei satt, ich will Klarheit haben, um Fräulein von Rudowitz und andern antworten zu können, wenn sie mich beschimpfen.«

»Klarheit worüber? Wo du geboren bist? Nun, in Paris, da wo unser Vetter Lada wohnt.«

»Nun, dann schwöre mir bei deiner Mutter, daß dies mein Name ist! ... Siehst du, du willst nicht. Höre, ich bin es überdrüssig, wie ein fünfjähriges Kind behandelt zu werden. Ich will die Wahrheit wissen, und da du sie mir verweigerst, werde ich die Leute fragen, den Amtmann auf dem Dorf, den Pfarrer, alle Welt, und ich werde es schon herausbekommen, ob ich ein Findelkind oder vielleicht ein gestohlenes Kind bin.«

Das war zu viel. Ein Schrei der Empörung kam von Theklas Lippen.

»Undankbare, Undankbare!« rief sie mit ihrer schrillsten Stimme und erging sich mit der den slavischen Bäuerinnen eigenen Überschwenglichkeit in Klagen und Vorwürfen.

»Ich, die dich wie mein Auge behütet habe, ich, die seit deiner Geburt über dich gewacht, ich, die gearbeitet, gelitten, mich abgerackert habe, um dich besser als eine Bäuerin zu halten, während ich doch das Recht gehabt hätte, mich auszuruhen, und das ist mein Lohn ... gestohlen! ... Gott im Himmel!«

»Statt dich so aufzuregen,« sagte Malva hartnäckig, »sag mir lieber die Wahrheit.«

Aber Thekla preßte von neuem die Lippen zusammen. Unwissend und starr, Sklavin einer eingebildeten oder aufgezwungenen Pflicht, blieb sie absolut unzugänglich.

Sie hatte sich auf einen Schemel fallen lassen und murmelte: »Das Geheimnis ist eine Last, so schwer, daß ich manchmal denke, sie erdrücke mich. Aber ich muß es bewahren, bis meine Lippen entsiegelt werden ... Ja, und mögen Danyl und Mutter sagen, was sie wollen ...«

Da neigte Malva den Kopf. Brennende Tränen rieselten gleich einem feurigen Regen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, fielen auf ihr wundes Herz, und ihr schien, als verfinstere die Sonne sich langsam, als würden ihre Jugend, ihre Hoffnungen nach und nach von der ehernen Hand eines verhängnisvollen Schicksals geknickt.

Sie setzte sich zu Tisch, berührte aber kaum die für sie hergestellten, so einladenden Gerichte.

»O, Liebchen,« sagte Thekla, »kann man sich so quälen! Willst du nicht dein Leben in Ruhe genießen? Wir haben doch unser Brot. Du wünschtest Stunden bei einem guten Lehrer ... du hast sie. Was willst du noch mehr?«

Thekla hatte recht. Was wollte sie noch mehr?

Gestern noch verlangte sie vom Leben nur das Recht, fröhlich zu sein, und ihre Zukunft war ihr gleichgültig. Warum war heute alles anders?

Sie stand auf, nahm Hut und Mantel.

»Ich muß zur Stunde,« sagte sie.

Thekla sah sie von der Seite an und erwartete ein Liebeswort, eine jener ungestümen Zärtlichkeiten, womit Malva jedem Zwist ein tränenreiches Ende zu machen pflegte.

Malva schien aber ganz verwandelt. Etwas hatte in ihrem Herzen eine Veränderung hervorgebracht; ein Etwas, leicht wie das Schwirren eines Schmetterlingsflügels, etwas, das die kindliche Seele der alten Thekla nicht erfassen konnte, was einzig die intuitive Liebe einer Mutter zu erraten vermag, einer Mutter, die die Schwächen des Herzens ahnt, sie vielleicht selbst empfunden hat, die Gefahr wittert, voraussieht, abwehrt und, wenn die Gewitterstürme kommen, das arme kleine Herz beruhigt, die ersten Tränen trocknet und das verwundete Vögelchen noch inniger an sich zieht.

*


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