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48. Kapitel.
Wirklichkeit oder religiöse Phantasie?

»Hat jemand den König der Welt gesehen?« fragte ich.

»O ja,« antwortete der Lama. »Während der feierlichen Festtage des alten Buddhismus in Siam und Indien ist der König der Welt fünfmal erschienen. Er saß in einem prächtigen Wagen, der von weißen Elefanten gezogen wurde und mit Gold, Edelsteinen und dem feinsten Kunstwerk verziert war. Er war in einen weißen Mantel gekleidet und trug eine rote Tiara mit herunterhängenden Diamantenfäden, die sein Gesicht verdeckten. Er segnete das Volk mit einem goldenen Apfel, auf dem die Gestalt des Lammes ruhte. Daraufhin konnten die Blinden wieder sehen, die Stummen sprechen, die Tauben hören, die Verkrüppelten sich frei bewegen, und wo auch immer die Augen des Königs der Welt ruhten, standen die Toten zu neuem Leben auf. Der König der Welt erschien auch vor fünfhundertundvierzig Jahren in Erdeni Dzu. Er war auch in dem alten Sakia-Kloster und in Narabantschi Kure.

Einstmals empfing einer der Lebenden Buddhas und einer der Taschi Lamas Botschaft von ihm, die mit unbekannten Zeichen auf goldene Tafeln geschrieben war. Niemand vermochte diese Zeichen zu lesen. Daraufhin betrat der Taschi Lama den Tempel, legte die goldenen Tafeln auf sein Haupt und betete. So wurden die Gedanken des Königs der Welt in sein Hirn übertragen, und der Taschi Lama konnte, ohne die rätselhafte Inschrift gelesen zu haben, die Botschaft des Königs verstehen und ausführen.«

»Wie viele Menschen sind jemals in Agharti gewesen?« fragte ich den Lama.

»Sehr viele,« antwortete er. »Aber sie alle haben geheim gehalten, was sie dort sahen. Nachdem die Olets Lassa zerstört hatten, drang eine ihrer Abteilungen in den Bergen des Südwestens in das Randgebiet von Agharti ein. Hier lernten die Olets einige der geringeren mysteriösen Wissenschaften kennen und brachten sie mit auf die Erdoberfläche zurück. Das ist der Grund, warum die Olets und Kalmücken so geschickte Zauberer und Propheten sind. Auch aus den Gebieten des Ostens drangen einige Stämme schwarzen Volkes in Agharti ein und lebten dort mehrere Jahrhunderte hindurch. Später wurden sie aus dem Königreich ausgewiesen und kehrten auf die Erde zurück. Sie besaßen nun das Geheimnis der Wahrsagungen nach Karten, Gräsern und den Linien der Hand. Diese Leute sind die Zigeuner ... Irgendwo im Norden Asiens gibt es einen Stamm, der jetzt ausstirbt und der auch von den Höhlen von Agharti kam. Er ist besonders befähigt, die Geister von Toten zurückzurufen, wenn sie durch die Luft schweben.«

Der Lama schwieg. Dann fuhr er, als wenn er meine Gedanken beantworten wollte, fort:

»In Agharti schreiben die gelehrten Panditas alle Wissenschaften unseres Planeten und der übrigen Welten auf Steintafeln nieder. Die gelehrten chinesischen Buddhisten wissen das. Ihre Wissenschaft steht am höchsten und ist die reinste. Einmal in jedem Jahrhundert versammeln sich hundert Weise Chinas an geheimer Stelle am Strande des Meeres. Aus der Tiefe des Meeres kommen dann hundert ewig lebende Schildkröten heraus. Auf deren Schalen schreiben die Chinesen die Entwicklung der göttlichen Wissenschaft während des Jahrhunderts nieder.«

Während ich diese Zeilen schreibe, muß ich unwillkürlich an eine Geschichte denken, die mir einstmals ein alter Chinese im Himmelstempel von Peking erzählte. Er sagte mir, daß die Schildkröten mehr als dreitausend Jahre, ohne Nahrung zu sich zu nehmen und ohne Luft zu atmen, leben könnten und daß aus diesem Grunde alle Säulen des blauen Tempels des Himmels auf Schildkröten ruhten, um das Holz vor dem Verfaulen zu bewahren.

»Mehrere Male haben die Hohenpriester von Lassa und Urga Boten zum König der Welt entsandt,« sagte der Lama-Bibliothekar, »aber diese konnten ihn nicht finden. Nur ein gewisser tibetanischer Führer fand nach einer Schlacht mit den Olets eine Höhle, deren Eingang die Inschrift trug: »Dies ist das Tor von Agharti.« Aus der Höhle trat ein gut aussehender Mann, der dem Tibetaner eine goldene Tafel mit mysteriösen Inschriften überreichte und sagte: »Der König der Welt wird vor allem Volk erscheinen, wenn die Zeit für ihn gekommen sein wird, um die guten Menschen der Welt gegen die schlechten zu führen. Doch diese Zeit ist noch nicht gekommen. Die schlechtesten Menschen sind noch nicht geboren worden.«

Dchiang Dchün Baron Ungern hat zweimal den jungen Fürsten Pounzig auf die Suche nach dem König der Welt entsandt. Das erste Mal kehrte der Prinz mit einem Brief vom Dalai Lama in Lassa zurück. Als der Baron ihn ein zweites Mal aussandte, kam er nicht wieder.


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