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Teil IV.
Der Lebende Buddha

40. Kapitel.
Im glückspendenden Garten der tausend Freuden

In der Mongolei, dem Land der Wunder und Mysterien, wohnt der Bewahrer alles dessen, was geheimnisvoll und unbekannt ist: der Lebende Buddha, Seine Heiligkeit Djebtsung Damba Hutuktu Khan oder Bogdo Gheghen, Oberpriester von Ta Kure. Er ist die Inkarnation des niemals sterbenden Buddha, der Vertreter der ununterbrochenen, geheimnisvoll fortgesetzten Linie geistiger Kaiser, die seit 1670 regieren und den veredelnden Geist Buddha-Amitabhas zugleich mit Chan-ra-zi oder dem »mitleidvollen Geist der Berge« in sich bergen. In ihm wurzelt alles, der Sonnenmythus, der Zauber der geheimnisvollen Bergspitzen des Himalaya, die Erzählungen von der indischen Pagode, die herbe Majestät der mongolischen Kaiser – der Kaiser über ganz Asien –, die alten nebelhaften Legenden der chinesischen Weisen, das Eindringen in die Gedanken der Brahmanen, die strengen Lebensregeln der Mönche des »Tugendhaften Ordens«, die Rache der ewig wandernden Krieger, der Olets mit ihren Khans, Batur Hun Taigi und Gushi, das stolze Vermächtnis Dschingis Khans und Kublai Khans, die klerikale reaktionäre Psychologie der Lamas und das Mysterium der tibetanischen Könige, die mit Strong-Tsang Gampo begannen, und die Unbarmherzigkeit der Gelben Sekte des Paspa. Die ganze verschwommene Geschichte Asiens, der Mongolei, des Pamir, des Himalaya, Mesopotamiens, Persiens und Chinas umgibt den Lebenden Gott von Urga. Es ist kein Wunder, daß sein Name an der Wolga, in Sibirien, in Arabien, zwischen Euphrat und Tigris, in Indochina und an der Küste des Eismeeres geehrt wird.

Während meines Aufenthaltes in Urga besuchte ich mehrere Male den Wohnsitz des Lebenden Buddha, sprach mit ihm und beobachtete seine Lebensführung. Seine Günstlinge unter den gelehrten Marambas gaben mir lange Berichte über ihn. Ich sah ihn beim Lesen von Horoskopen, ich hörte seine Prophezeiungen und hatte Gelegenheit, in seine alten Archive von Büchern und Manuskripten zu blicken, die die Lebensbeschreibungen und Prophezeiungen aller Bogdo Khans enthalten. Die Lamas waren mir gegenüber sehr offenherzig; denn der Brief des Hutuktu von Narabantschi hatte mir ihr Vertrauen gewonnen.

Der Lebende Buddha hat, wie alles im Lamaismus, doppelte Persönlichkeit. Er ist klug, durchdringend und energisch, aber gleichzeitig gibt er sich der Trunksucht hin, die zu seiner Erblindung geführt hat. Als er blind wurde, wurden die Lamas in einen Zustand der Verzweiflung gestürzt. Einige von ihnen standen auf dem Standpunkt, daß der Bogdo Khan vergiftet werden und eine andere Inkarnation Buddhas an seine Stelle treten müsse. Andere wiesen jedoch auf die großen Verdienste des Hohen Priesters in den Augen der Mongolen und der Anhänger der Gelben Lehre hin. So wurde schließlich beschlossen, die Götter durch Errichtung eines großen Tempels mit einer riesigen Buddha-Statue zu versöhnen. Dies half aber der Sehkraft des Bogdo nicht. Doch gab ihm der Vorfall Gelegenheit, den Lamas, die für die vorgeschlagene Lösung des Problems zu radikale Methoden befürwortet hatten, dazu zu verhelfen, daß sie schneller in das höhere Leben eintreten konnten.

Der Bogdo Khan grübelt immerfort über die Sache der Kirche und der Mongolei. Gleichzeitig aber gibt er sich unnützen Spielereien hin. Er hat großes Vergnügen an der Artillerie. Ein ehemaliger russischer Offizier hatte ihm einstmals zwei alte Kanonen geschenkt, wofür der Geber den Titel eines Tumbaiir Hun erhielt, das bedeutet »meinem Herzen nahestehender Fürst«. An Festtagen wurden diese Kanonen zu dem großen Vergnügen des blinden Mannes abgefeuert. Automobile, Grammophone, Telephone, Kristalle, Porzellan, Bilder, Parfums, Musikinstrumente, seltene Tiere und seltene Vögel, Elefanten, Bären vom Himalaya, Affen, indische Schlangen und Papageien, alles dies war im Palast des »Gottes« zu finden, wurde aber immer wieder bald verworfen und verfiel der Vergessenheit.

Nach Urga kommen Pilgrime und Geschenke von der ganzen lamaistischen und buddhistischen Welt. Der Schatzmeister des Palastes, der ehrenwerte Balma Dorji, nahm mich einmal mit in die große Halle, in der die Geschenke aufbewahrt werden. Sie ist ein einzigartiges Museum kostbarer Gegenstände. Es gibt dort seltene Artikel, die in den Museen Europas völlig unbekannt geblieben sind. Als der Schatzmeister einen mit einem Silberschloß versehenen Schrank öffnete, sagte er zu mir:

»Hier liegen reine Goldklumpen von Bei Kem, schwarze Zobelpelze von Kemchick und wundertätige Hirschhörner. Dies hier ist eine Schachtel, die von den Orochonen geschickt wurde und kostbare Ginseng-Wurzeln und wohlriechenden Moschus enthält. Das hier ist ein Stück Bernstein von der Küste der »zugefrorenen See«, das einhundertundvierundzwanzig Liang (ungefähr zehn Pfund) wiegt. Hier sehen Sie Edelsteine aus Indien, wohlriechenden Zebet und geschnitztes Elfenbein aus China.«

Er sprach lange von seinen ausgestellten Gegenständen, und es war wirklich wunderbar, was ich hier erblickte. Vor meinen Augen lagen: Bündel seltener Pelze, weiße Biber, schwarze Zobel, weiße, blaue und schwarze Füchse und schwarze Panther; kleine, schön geschnitzte Schachteln aus Schildkrötenschale, die zehn bis fünfzehn Meter lange, aus indischer Seide so fein wie das Netz der Spinne gewobene Hatyks enthielten; kleine, aus goldenen Fäden gemachte Taschen, in denen Perlen, Geschenke indischer Radschas, lagen, kostbare Ringe mit Saphiren und Rubinen aus China und Indien; große Jadestücke, ungeschliffene Diamanten; Elefantenzähne, die mit Gold, Perlen und Edelsteinen besetzt waren; prächtige Kleider mit aufgenähten goldenen und silbernen Fäden; Walroßzähne, die von den primitiven Künstlern an der Küste der Behringstraße in Basrelief geschnitzt waren; und noch viel mehr, das ich nicht beschreiben kann. In einem anderen Zimmer standen Schränke mit Statuen Buddhas, die aus Gold, Silber, Bronze, Elfenbein, Koralle, Perlmutter und aus einem wohlriechenden, eine seltene Farbe zeigenden Holz gefertigt waren.

»Sie wissen, daß wenn Eroberer in einem Lande einbrechen, in dem die Götter geehrt werden, sie die Bildnisse aufbrechen und niederstürzen. So war es vor mehr als dreihundert Jahren, als die Kalmücken in Tibet einfielen, und das wiederholte sich auch in Peking, als die europäischen Truppen im Jahre 1900 den Palast plünderten. Nehmen Sie einmal eine der Statuen und sehen sie sich genau an.«

Ich hob von der mir zunächst gelegenen Ecke einen hölzernen Buddha auf und untersuchte ihn. In der Figur war etwas lose und rasselte.

»Hören Sie?« fragte der Lama. »Das sind Edelsteine und Goldstücke, die Gedärme des Gottes. Aus diesem Grunde brechen Eroberer stets sofort die Götterbildnisse auf. Viele berühmte Edelsteine sind schon in Indien, Babylon und China aus dem Inneren von Götterstatuen herausgenommen worden.«

Mehrere Zimmer des Palastes nimmt die Bibliothek ein, in der Manuskripte und Bände verschiedener Epochen in verschiedenen Sprachen und über die verschiedensten Themen die Regale füllen. Einige von diesen alten Dokumenten werden allmählich zu Zunder und pulverisieren sich; doch die Lamas überstreichen sie jetzt mit einer Lösung, die sie bis zu einem gewissen Grad wieder fest machen, um sie gegen die Einflüsse der Luft zu schützen. Dort sind auch Tontafeln mit Inschriften in Keilschrift zu sehen, die offenbar von Babylon stammen. Chinesische, indische und tibetanische Bücher stehen neben Büchern der Mongolei. Werke des alten, reinen Buddhismus, Bücher der »Roten Kappen«, des verderbten Buddhismus, Bücher des »Gelben« oder lamaistischen Buddhismus, Bücher der Traditionen, Legenden und Parabeln, alles dies ist hier ausgestellt. Gruppen von Lamas arbeiten stets an diesen Werken, sie studieren sie und schreiben sie ab, um auf diese Weise die alte Weisheit ihrer Vorgänger der Nachwelt zu erhalten und ihrer Verbreitung zu dienen.

Eine Abteilung ist den mysteriösen Büchern über die Magie, den Aufzeichnungen der Lebensbeschreibungen und der Werke der einunddreißig Lebenden Buddhas und den Bullen des Dalai Lama, des Hohenpriesters von Taschi Lumpo, des Hutuktu von Uta in China, des Pandita Gheghen von Dolonor in der Inneren Mongolei und der hundert chinesischen Weisen gewidmet. Nur der Bogdo Hutuktu und der Maramba Ta-Rimpo-Cha dürfen diesen geheimnisvollen Raum betreten. Die Schlüssel zu ihm ruhen zusammen mit den Siegeln des Lebenden Buddha und dem mit dem Zeichen der Swastika geschmückten Rubinring Dschingis Khans in der Truhe, die sich in dem privaten Arbeitszimmer des Bogdo befindet.

Die Person Seiner Heiligkeit ist von fünftausend Lamas umgeben. Diese werden in viele Rangklassen eingeteilt, von den einfachen Dienern bis zu den »Räten des Gottes«, aus denen die eigentliche Regierung besteht. Zu den Räten gehören alle vier Khane der Mongolei und die fünf höchsten Fürsten.

Unter den Lamaklassen gibt es drei Rangstufen, die besonderes Interesse verdienen. Ueber sie erzählte mir der Lebende Buddha selber Einiges, als ich ihn mit Djam Bolon besuchte.

Der »Gott« ist betrübt über das demoralisierte und schwelgerische Leben, das die Lamas führen; denn dadurch würde sich schnell die Zahl der Wahrsager und Priester mit Zweitem Gesicht vermindern:

»Wenn die Klöster Jahantsi und Narabantschi nicht ihre strengen Regeln bewahrt hätten, dann würde Ta Kure bald ohne Propheten und Wahrsager sein. Barun Abaga Nar, Dorchiul-Jurdok und die anderen heiligen Lamas, die die Macht hatten, das zu sehen, was dem gemeinen Volk verborgen ist, sind mit dem Segen der Götter von uns gegangen.«

Die Klasse der Wahrsager ist sehr wichtig; denn, wenn eine bedeutungsvolle Persönlichkeit die Klöster von Urga besucht, dann wird sie zuerst den Lama Tzuren gezeigt, ohne daß der Besucher es weiß. Die Lama Tzuren unterrichten sich über das Geschick des Betreffenden. Der Befund wird dann dem Bogdo Hutuktu mitgeteilt, so daß dieser nun weiß, wie er seinen Gast zu behandeln und welche Politik er ihm gegenüber einzuschlagen hat. Die Tzuren sind meist alte Männer, hagere, erschöpfte und strenge Asketen. Doch habe ich auch einige Tzuren getroffen, die jung, geradezu Knaben, waren. Sie waren Hubilgan, »Wiedergeborene Götter«, die zukünftigen Hutuktus und Gheghen der verschiedenen mongolischen Klöster.

Die zweite Rangstufe ist die Klasse der Doktoren oder »Ta Lama«. Sie haben die Einflüsse der Pflanzen und gewisser animalischer Produkte auf den Menschen zu beobachten, die tibetanischen Medizinen und Behandlungsmethoden zu bewahren und Anatomie zu studieren, ohne indessen von der Vivisektion Gebrauch zu machen. Sie sind geschickte Gliedereinrenker, Masseure und gute Kenner des Hypnotismus und animalischen Magnetismus.

Die dritte Klasse umfaßt den höchsten Rang der Doktoren. Sie besteht aus Giftmischern, die größtenteils tibetanischen und kalmückischen Ursprungs sind. Diese können die »Aerzte der politischen Medizin« genannt werden. Sie leben von ihren Genossen getrennt und sind die schweigsame Waffe in der Hand des Lebenden Buddha. Man sagte mir, daß ein großer Teil von ihnen stumm sei. Ich habe einen solchen Doktor gesehen, denselben Mann, der den chinesischen Arzt tötete, welcher von dem Kaiser von China von Peking gesandt worden war, um den Lebenden Buddha zu »liquidieren«. Er war ein kleiner, weißer, alter Kerl mit tief verrunzeltem Gesicht, einem kleinen, weißen Kinnbart und lebhaften Augen, die immer forschend umhersahen. Taucht er in einem Kloster auf, so hört der dortige »Gott« auf zu essen und zu trinken, aus Furcht vor diesem mongolischen Giftmischer. Aber selbst das kann den Verurteilten nicht retten; denn eine vergiftete Kappe, ein vergiftetes Hemd, vergiftete Stiefel, ein vergifteter Rosenkranz, ein vergifteter Zügel, vergiftete Bücher oder vergiftete religiöse Gegenstände werden sicherlich das erreichen, was der Bogdo Khan mit ihm vorhat.

Den blinden Hohenpriester umgeben tiefste Achtung und tiefster religiöser Glaube. Vor ihm fällt alles auf die Knie. Selbst Khane und Hutuktus nähern sich ihm nur kniend. Um ihn ist alles dunkel, voll von orientalischem Altertum. Der betrunkene alte Mann, der banalen Arien aus dem Grammophon zuhört und seine Diener mit Hilfe eines Dynamo elektrisiert, der tückische alte Bursche, der seine politischen Feinde vergiftet, der Lama, der sein Volk in geistiger Finsternis hält und es durch Prophezeien und Wahrsagen täuscht, dieser Mann ist indessen kein gänzlich gewöhnlicher Mensch.

Eines Tages saßen wir in dem Zimmer des Bogdo. Fürst Djam Bolon übersetzte ihm meine Geschichte des Großen Krieges. Der alte Mann hörte sehr aufmerksam zu. Plötzlich machte er seine Augen weit auf und lauschte auf Laute, die von außerhalb des Zimmers hereindrangen. Sein Gesicht wurde andächtig, flehend und erschreckt.

»Die Götter rufen mich,« flüsterte er, indem er langsam nach seiner Privatkapelle ging. Dort betete er laut ungefähr zwei Stunden lang, wie eine Statue unbeweglich kniend. Sein Gebet bestand aus einer Unterhaltung mit den unsichtbaren Göttern, auf deren Fragen er Antwort gab. Er kam bleich und erschöpft, aber befriedigt und glücklich aus der Kapelle zurück. Es war sein persönliches Gebet gewesen.

Während des gewöhnlichen Tempeldienstes nimmt er nicht an den Gebeten teil, denn dann ist er »Gott«. Auf seinem Throne sitzend, wird er auf den Altar gehoben und dort von den Lamas und dem Volke angebetet. Er nimmt die Gebete, die Hoffnungen, die Tränen, das Weh und die Verzweiflung des Volkes entgegen, indem er immerfort mit seinen scharfen und glänzenden, aber blinden Augen in den Luftraum starrt. Je nach der Gelegenheit kleiden ihn die Lamas in verschiedene Gewänder, Kombinationen von Gelb und Rot, und wechseln auch seine Kappen. Der Tempeldienst schließt immer in dem Augenblick ab, in dem der Lebende Buddha mit der Tiara auf seinem Haupt der Gemeinde seinen hohenpriesterlichen Segen erteilt, indem er sein Antlitz nach allen vier Windrichtungen wendet und danach seine Hände nach Nordwesten ausstreckt, das heißt nach der Richtung von Europa, wohin nach der Anschauung der Gelben Lehre der Glaube des weisen Buddha Verbreitung finden muß.

Nach ernsten Gebeten und langen Tempeldiensten macht der Hohepriester stets einen sehr erschütterten Eindruck. Dann ruft er seine Sekretäre herbei und diktiert ihnen seine Visionen und Prophezeiungen, die immer sehr verwirrt sind und nie von ihm durch Deduktionen ergänzt werden.

Gelegentlich legt er mit den Worten: »Ihre Seelen teilen sich mit« seine weißen Gewänder an und begibt sich zum Gebet in seine Kapelle. Dann werden alle Tore des Palastes geschlossen. Alle Lamas geben sich einer feierlichen mystischen Furcht hin. Alle beten, zupfen an ihren Rosenkränzen, flüstern den heiligen Spruch: »Om! Mane padme hom!« und drehen zu ihrem Gebet und ihren Zaubereien die Gebetsräder. Die Wahrsager lesen die Horoskope, die Priester mit dem Zweiten Gesicht schreiben ihre Visionen nieder, und die Marambas suchen in den alten Büchern nach Erklärungen der Worte des Lebenden Buddha.


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