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42. Kapitel.
Das Buch der Wunder

Fürst Djam Bolon bat einen Maramba, uns die Bibliothek des Lebenden Buddha zu zeigen. Sie besteht aus einem großen Raum, in dem Dutzende von Schreibern die alten Werke bearbeiten, und die Wunder der Lebenden Buddhas aufzeichnen. Sie beginnen dabei mit Undur Gheghen und hören mit den Gheghen und Hutuktus der verschiedenen mongolischen Klöster der Gegenwart auf. Diese Bücher werden danach in allen Lamaklöstern und Tempeln und den Schulen der Bandis verteilt. Aus den Aufzeichnungen las uns der Maramba zwei Stücke vor:

»... Der selige Bogdo Gheghen hauchte einen Spiegel an. Sofort erschien auf ihm wie in einem Nebel das Bild eines Tales, in dem viele Tausende von Kriegern miteinander fochten ...«

»Der weise und von den Göttern begünstigte Lebende Buddha verbrannte Weihrauch und betete zu den Göttern, um von ihnen eine Offenbarung über das Geschick der Fürsten zu erhalten. In dem blauen Rauch sahen alle ein finsteres Gefängnis und die bleichen gemarterten Leichen der Fürsten ...«

Ein besonderes Buch, von dem bereits Tausende von Exemplaren angefertigt worden sind, befaßt sich mit den Wundern des gegenwärtigen Lebenden Buddha. Fürst Djam Bolon erzählte mir einiges von dem Inhalt dieses Werkes.

»Es gibt einen alten hölzernen Buddha mit offenen Augen. Er wurde von Indien hierher gebracht. Der Bogdo Gheghen stellte ihn auf den Altar und begann zu beten. Nachdem der Bogdo die Kapelle verlassen hatte, ließ er auch die Buddha-Statue herausbringen. Alles war äußerst erstaunt; denn die Augen des Gottes waren geschlossen, Tränen fielen aus ihnen herab. Auf dem hölzernen Leib erschienen grüne Keime. Der Bogdo sagte: »Weh und Freude erwarten mich. Ich werde blind werden, aber die Mongolei wird frei sein.«

Diese Prophezeiung hat sich erfüllt. – Ein anderes Mal ließ der Lebende Buddha, als er sich eines Tages im Zustande großer Erregung befand, ein Wasserbecken bringen, das er vor den Altar setzte. Er rief die Lamas um sich und begann zu beten. Plötzlich zündeten sich die Altarkerzen und Lampen von selbst an und das Wasser in dem Becken begann in Regenbogenfarben zu schillern.«

Der Fürst erklärte mir auch, wie der Bogdo Khan die Zukunft aus frischem Blut liest, indem nämlich, für ihn sichtbar, auf der Oberfläche Worte und Bilder erscheinen, oder aus den Gedärmen von Schafen und Ziegen, aus deren Anordnung der Bogdo das Geschick der Fürsten zu erkennen und ihre Gedanken zu erfahren vermag, oder aus Steinen und Knochen, die den Lebenden Buddha mit großer Genauigkeit das Los aller Menschen wissen lassen, und aus den Sternen, deren Stellung zu einander der Bogdo bei der Zubereitung von Amuletten gegen Kugeln und Krankheit berücksichtigt.

»Frühere Bogdo Khans verkündeten die Zukunft nur mit Hilfe des »schwarzen Steins«,« sagte der Maramba. »Auf der Oberfläche des Steins erschienen nämlich tibetanische Inschriften, aus denen die Bogdos das Los ganzer Nationen erfuhren.«

Als der Maramba von dem schwarzen Stein sprach, auf dem tibetanische Legenden erschienen sein sollten, kam mir sofort zum Bewußtsein, daß in dieser Erzählung etwas lag, was eine natürliche Erklärung finden kann. Im südöstlichen Urianhai, in Ulan Taiga, kam ich an eine Stelle, wo es schwarzen, im Verfall befindlichen Schiefer gab. Die Stücke dieses Schiefers waren mit einer besonderen weißen Flechte bedeckt, die eine sehr komplizierte Linienanordnung zeigte und mich an ein venezianisches Spitzenmuster oder mysteriöse Runen erinnerte. Wenn der Schiefer feucht war, verschwanden diese Zeichen. Sobald er trocken wurde, kamen sie wieder zum Vorschein.

Niemand hat das Recht, den Lebenden Buddha zu bitten, ihm wahrzusagen. Der Bogdo prophezeit nur, wenn er die Eingebung dazu empfindet oder wenn ein besonderer Delegierter mit einer entsprechenden Bitte vom Dalai Lama oder vom Taschi Lama zu ihm kommt. Als der russische Zar Alexander I. unter den Einfluß der Baronin Krüdener und ihres extremen Mystizismus kam, sandte er einen Sonderboten zum Lebenden Buddha, um sein Geschick zu erfahren. Der damalige Bogdo Khan, der ein ganz junger Mann war, machte die Prophezeiung nach dem schwarzen Stein und sagte voraus, daß der Weiße Zar sein Leben unter sehr kummervollen Wanderungen, allen unbekannt und überall verfolgt, beschließen würde. In Rußland glaubt noch heute das Volk, daß Alexander I. die letzten Tage seines Lebens als Wanderer im europäischen Rußland und in Sibirien unter dem Pseudonym Feodor Kusmitch zugebracht und dabei Gefangenen, Bettlern und anderem leidenden Volk Hilfe und Trost gespendet habe, aber daß er selbst verfolgt und ins Gefängnis geworfen worden und schließlich in Tomsk in Sibirien gestorben sei, wo noch heute sein Wohnhaus gezeigt und sein Grab, Stätte von Pilgerfahrten und Wundern, geheiligt werde. Die Dynastie der Romanows hat für die Biographie von Feodor Kusmitch großes Interesse gezeigt, was die Ansicht bestätigt, daß Kusmitch wirklich Alexander I. war, der diese schwere Buße auf sich genommen hatte.


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