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27. Kapitel.
Mysterium in einem kleinen Tempel

Fürst Chultun Beyle und ich waren bereit, Narabantschi Kure zu verlassen. Während der Hutuktu für den Sait einen Gottesdienst im Tempel der Segnungen abhielt, wanderte ich in den engen Alleen zwischen den Mauern der Häuser herum, die von den verschiedenen Lamagraden bewohnt waren, von den Gelongs, den Getuls, den Chaidje und den Rabdjampa, zwischen den Schulen, wo die gelehrten Doktoren der Theologie, Maramba genannt, zusammen mit den Doktoren der Medizin oder Ta Lama lehrten, zwischen den Wohnhäusern der Studierenden oder Bandi, zwischen den Vorratshäusern, den Archivgebäuden und den Bibliotheken. Als ich zu der Jurte des Hutuktu zurückkehrte, war dieser anwesend. Er überreichte mir einen großen Hatyk und schlug einen Spaziergang um das Kloster vor. Sein Gesicht war nachdenklich, woraus ich entnahm, daß er den Wunsch habe, etwas mit mir zu erörtern. Als wir aus der Jurte traten, gesellten sich zu uns der nunmehr befreite Präsident der russischen Handelskammer und ein russischer Offizier. Der Hutuktu führte uns zu einem kleinen Gebäude, das dicht hinter einer glänzend gelben Steinmauer lag.

»In diesem Gebäude haben einmal der Dalai Lama und Bogdo Khan gewohnt. Wir geben den Gebäuden, in denen diese heilige Persönlichkeit Aufenthalt genommen hat, stets die gelbe Farbe. Treten Sie ein.«

Das Innere des Gebäudes war glanzvoll. Zu ebener Erde lag das Speisezimmer, das mit reich geschnitzten, schweren chinesischen Schwarzholztischen und mit Schränkchen eingerichtet war, die Porzellan und Bronzen enthielten. Darüber befanden sich zwei Zimmer. Das eine war ein mit schweren gelben Seidenvorhängen verhängtes Schlafzimmer, in dem eine große chinesische Laterne, die mit wertvollen farbigen Steinen geschmückt war, an einer Bronzekette von der geschnitzten Decke herabhing. In diesem Raum befand sich ein großes viereckiges Bett, mit seidenen Kopfkissen, Matratzen und Tüchern bedeckt. Der Rahmen des Bettes bestand gleichfalls aus chinesischem Schwarzholz und zeigte ebenfalls reiche Schnitzereien in dem üblichen Muster des die Sonne verschlingenden Drachens, besonders an den Pfosten, die den dachähnlichen Oberbau trugen. Neben dem Bett stand eine Kommode, die gänzlich mit Schnitzereien, welche religiöse Bilder zeigten, bedeckt war. Vier bequeme Lehnstühle und ein niedriger orientalischer Thron, der im Hintergrund des Raumes auf einem Dais stand, vervollständigten die Einrichtung des Zimmers.

»Sehen Sie diesen Thron?« fragte mich der Hutuktu. »Eines Nachts im Winter kamen mehrere Reiter in das Kloster geritten und verlangten, daß sich alle Gelongs und Getuls mit dem Hutuktu und Kanto an ihrer Spitze in diesem Zimmer versammeln sollten. Dann bestieg einer der Fremden den Thron und nahm seinen Baschlik ab, die kappenähnliche Kopfbedeckung. Alle Lamas fielen auf die Knie, denn sie erkannten den Mann, der vor langer Zeit in den heiligen Bullen des Dalai Lama beschrieben worden ist, den Taschi Lama und Bogdo Khan. Das war der Mann, dem die ganze Welt gehört, der in alle Mysterien der Natur eingedrungen ist. Der Taschi Lama sprach ein kurzes tibetanisches Gebet, segnete die Anwesenden und machte danach Prophezeiungen für das nächste halbe Jahrhundert. Dies ereignete sich vor dreißig Jahren. Und alles, was er vorausgesagt hat, hat sich inzwischen erfüllt. Als er vor dem kleinen Gebetschrein im nächsten Zimmer betete, öffnete sich die Tür von allein, die Lichter vor dem Altar entzündeten sich von selbst und die heiligen Feuerbecken, die keine Kohle enthielten, strömten dennoch Weihrauchdämpfe aus, die den Raum erfüllten. Dann verschwanden der König der Welt und seine Gefährten aus unserer Mitte. Hinter ihm blieb keine Spur, ausgenommen die Falten in der seidenen Thronbedeckung, die sich aber allmählich wieder glätteten, der Thron stand alsbald wieder so da, wie wenn niemand auf ihm gesessen hätte.«

Der Hutuktu trat an den Gebetschrein heran, kniete nieder, bedeckte seine Augen mit den Händen und betete. Ich blickte auf das ruhige, gleichgültige Gesicht des goldenen Buddha, über das die flackernden Lampen hin- und herhuschende Schatten warfen, dann richtete ich meine Augen auf die Stelle neben dem Thron. Es war wunderbar, wenn auch kaum glaublich, aber ich sah dort wirklich die muskulöse Gestalt eines Mannes mit ernstem, ausdrucksvollem Gesicht, dem der Glanz seiner Augen hoheitsvolles Aussehen verlieh. Durch seinen durchsichtigen, in weißes Gewand gekleideten Körper hindurch sah ich die tibetanischen Inschriften auf der Rückenlehne des Thrones. Ich schloß meine Augen, dann öffnete ich sie wieder. Niemand war dort: doch die seidene Thronbedeckung schien sich zu bewegen.

»Nervosität,« dachte ich, »anormale, übertriebene Reizbarkeit infolge der ungewöhnlichen Umgebung und der ausgestandenen Anstrengungen.«

Der Hutuktu wandte sich zu mir und sagte: »Geben Sie mir Ihren Hatyk. Ich habe das Gefühl, daß Sie sich wegen der Menschen, die Sie lieben, in Sorge befinden. Ich will für sie beten. Sie müssen ebenfalls beten. Flehen Sie Gott an und richten Sie Ihr seelisches Auge auf den König der Welt, der hier gewesen ist und diesen Ort geheiligt hat.«

Der Hutuktu legte den Hatyk auf die Schulter des Buddha, flüsterte Gebetsworte und warf sich auf den Teppich vor dem Altar. Dann erhob er seine Hand und winkte mir leise.

»Sehen Sie auf den dunklen Raum hinter der Statue Buddhas. Dort werde ich Ihnen Ihre Lieben zeigen.«

Ich folgte dem mit tiefer Stimme gegebenen Befehl und blickte in die dunkle Nische hinter der Buddhafigur. Bald brachen aus der Dunkelheit Ströme von Rauch und von durchsichtigen Nebeln. Sie schwebten in der Luft, wurden immer dichter und zahlreicher, bis sie schließlich die Körper mehrerer Personen, die Umrisse verschiedener Gegenstände bildeten. Ich sah ein mir fremdes Zimmer, in dem meine Familie saß. Sie war umgeben von Leuten, die ich kannte, und anderen, die ich nicht kannte. Ich erkannte sogar das Kleid, das meine Frau trug. Jede Linie ihres lieben Gesichtes war deutlich sichtbar. Allmählich verdunkelte sich die Vision, sie löste sich wieder in Ströme von Rauch und durchsichtigen Nebeln auf und verschwand. Hinter dem goldenen Buddha herrschte wieder Dunkelheit.

Der Hutuktu erhob sich, nahm meinen Hatyk von der Schulter Buddhas und gab ihn mir mit folgenden Worten zurück:

»Das Glück wird immer mit Ihnen und Ihrer Familie sein. Gottes Güte wird sie nicht verlassen.«

Wir verließen das Gebäude des unbekannten Königs der Welt, das Gebäude, in dem dieser für die ganze Menschheit gebetet und das Schicksal der Völker und Staaten vorausgesagt hatte. Ich war sehr erstaunt, zu hören, daß meine Begleiter meine Vision ebenfalls gesehen hatten. Sie beschrieben mir in den kleinsten Einzelheiten die Gestalten und die Kleider der Personen, die ich in der dunklen Nische hinter dem Kopf Buddhas erblickt hatte. Um das Zeugnis anderer mit Bezug auf diese außerordentliche, eindrucksvolle Vision zu haben, habe ich die betreffenden Männer gebeten, das Gesehene zu protokollieren und zu bestätigen. Das haben sie getan und diese Erklärungen sind in meinem Besitz.

Der mongolische Offizier erzählte mir, daß Chultun Beyle am vorhergehenden Tage den Hutuktu gebeten habe, ihm anläßlich dieser wichtigen Wendung in seinem Leben und dieser Krise seines Landes sein Geschick zu enthüllen. Doch habe der Hutuktu nur eine Handbewegung mit dem Ausdruck der Furcht gemacht und sich geweigert. Als ich den Hutuktu nach dem Grunde seiner Weigerung fragte und meinte, die Erfüllung der Bitte könnte Chultun Beyle beruhigen, wie die Vision meiner Lieben mich gestärkt habe, zog der Hutuktu die Stirne in Falten und sagte:

»Nein! Die Vision würde dem Fürsten nicht gefallen. Sein Schicksal ist schwarz. Gestern habe ich dreimal seine Zukunft auf verbrannten Schulterblättern und im Gedärm von Schafen gesucht, jedesmal zeigte sich dasselbe schreckliche Ergebnis ...«

Er beendigte seine Rede nicht, sondern bedeckte voller Furcht das Gesicht mit den Händen. Er schien überzeugt zu sein, daß das Los Chultun Beyles schwarz wie die Nacht sei.

Fürst Chultun Beyle und ich brachen auf. Nach einer Stunde befanden wir uns hinter den niedrigen Hügeln, die Narabantschi Kure unseren Blicken verbargen.


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