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22. Kapitel.
Unter Mördern

Als wir uns der Telegraphenstation näherten, kam uns ein blonder junger Mann entgegen, der Beamte der Station, namens Kanine. In einiger Verlegenheit bot er uns in seinem Hause Unterkunft für die Nacht an. Als wir das Haus betraten, erhob sich ein großer, hagerer Mann vom Tische und kam unentschlossen auf uns zu, dabei musterte er uns jedoch sehr aufmerksam.

»Gäste,« erklärte Kanine. »Sie reisen nach Khathyl. Privatpersonen, Fremde, Ausländer ...«

»Ah,« stieß der andere ruhig hervor, als ob er verstünde.

Als wir unsere Gürtel lösten und uns mit Mühe von unseren schweren mongolischen Mänteln befreiten, flüsterte der große Mann eifrig mit unserem Wirt. Ich hörte, daß er zu ihm sagte, wie wir uns dem Tisch näherten: »Wir sind also gezwungen, es aufzuschieben.« Kanine nickte nur mit dem Kopf.

Es saßen noch mehrere andere Leute an dem Tisch, darunter Kanines Assistent, ein großer blonder Mann mit weißem Gesicht, der über alles in der Welt schwatzte. Er war halb verrückt. Kanines Frau, ein bleiches, junges, erschöpft aussehendes Wesen mit furchtsamen Augen und einem von Furcht gequälten Gesicht, war auch zugegen. Neben ihr saß ein junges Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren mit abgeschnittenem Haar, das wie ein Mann gekleidet war. Es waren auch noch zwei kleine Söhne Kanines im Zimmer.

Wir machten die Bekanntschaft von allen. Der große Fremde nannte sich Gorokoff und bezeichnete sich als russischen Kolonisten von Sampaltai. Er stellte das kurzhaarige Mädchen als seine Schwester vor.

Kanines Weib sah uns mit deutlicher Furcht an und sagte nichts. Offenbar bereitete ihr unsere Anwesenheit Pein. Wir hatten indessen keine Wahl und begannen den Tee einzunehmen, Brot und kaltes Fleisch zu essen.

Kanine erzählte, daß seine Familie seit der Zerstörung der Telegraphenlinie Not zu leiden gehabt habe. Die Bolschewiki schickten ihm kein Gehalt von Irkutsk, so daß er gezwungen sei, sich durchzuschlagen, so gut er könne. Er und seine Familie machten Heu, das sie an die russischen Kolonisten verkauften, befaßten sich mit der Weitergabe von privaten Mitteilungen und dem Versand von Waren von Khathyl nach Uliassutai und Sampaltai, kauften und verkauften Vieh, gingen auf die Jagd und könnten auf diese Weise ihr Leben fristen.

Gorokoff erklärte, seine Handelsgeschäfte zwängen ihn, nach Khathyl zu reisen. Er und seine Schwester würden sich deshalb freuen, sich unserer Karawane anschließen zu können. Er hatte mit seinen farblosen Augen, die stets den Blick des anderen vermieden, ein nichts weniger als einnehmendes Gesicht.

Während der Unterhaltung fragten wir Kanine, ob sich russische Kolonisten in der Nähe befänden. Er erwiderte mit gerunzelter Stirn und zornig blickenden Augen:

»Es wohnt hier noch ungefähr eine Werst von der Station ein reicher, alter Mann namens Bobroff. Ich möchte Ihnen aber nicht raten, ihn aufzusuchen, denn er ist ein elender, ungastlicher, alter Geselle.«

Bei diesen Worten ihres Gatten senkte Frau Kanine ihre Augen und zog ihre Schultern zusammen, als wenn sie ein Schauder ergriffen hätte. Gorokoff und seine Schwester fuhren fort, gleichgültig zu rauchen. Alles dies, der feindselige Ton in Kanines Stimme, die Verwirrung seiner Frau und die künstliche Gleichgültigkeit Gorokoffs, fiel mir auf. Darum beschloß ich, mir den alten Kolonisten anzusehen, den Kanine so ungünstig beschrieben hatte. In Uliassutai kannte ich zwei Männer namens Bobroff. Ich sagte Kanine, ich sei gebeten worden, Bobroff persönlich einen Brief auszuhändigen, zog meinen Mantel an und ging hinaus.

Bobroffs Haus stand in einer tiefen Geländesenkung, umgeben von einem hohen Zaun, über den die niedrigen Dächer der Häuser blickten. Durch ein Fenster kam Lichtschein. Ich klopfte an das Tor. Wütendes Gebell von Hunden war die Antwort. Durch die Spalten des Zaunes hindurch erblickte ich vier riesige schwarze mongolische Hunde, die mit den Zähnen fletschten und wütend heulten, während sie auf das Tor zustürzten. Im Hofe wurde die Haustüre geöffnet. Jemand rief: »Wer ist da?«

Ich erwiderte, ich sei ein Reisender von Uliassutai. Zunächst wurden die Hunde festgemacht. Dann wurde ich von einem Mann hereingelassen, der mich forschend vom Kopf bis zu den Füßen ansah. Ein Revolvergriff ragte aus seiner Tasche heraus. Beruhigt durch das, was er sah, wie auch durch meine Erzählung, daß ich seine Verwandten kenne, bot er mir einen warmen Willkommen, lud mich in sein Haus ein und machte mich mit seiner Frau, einer würdigen alten Dame, und seiner wunderschönen kleinen Adoptivtochter, einem Mädchen von fünf Jahren, bekannt. Das Mädchen hatte er neben der Leiche ihrer vor Erschöpfung umgekommenen Mutter in der Steppe gefunden; sie war bei dem Versuch, sich vor den Bolschewiki zu retten, verschmachtet.

Bobroff erzählte mir, das russische Detachement Kazagrandis habe die roten Truppen vom Kosogol vertrieben. Wir könnten also unsere Reise nach Khathyl ungefährdet fortsetzen.

»Warum übernachten Sie nicht bei mir anstatt bei jenen Räubern dort drüben?« fragte der alte Mann. Ich erbat nähere Auskunft und erhielt von ihm sehr wichtige Mitteilungen. Es schien, daß Kanine ein Bolschewik, der Agent des Irkutsker Sowjet und hierher versetzt worden war, um Beobachtungen anzustellen. Jetzt sei er jedoch unschädlich gemacht worden, so meinte Bobroff, da die Straße zwischen seiner Station und Irkutsk unterbrochen worden sei. Indessen sei von Bijsk im Altaigebiet gerade jetzt ein sehr wichtiger Kommissar angekommen.

»Gorokoff?« fragte ich.

»So nennt er sich,« erwiderte der alte Mann. »Doch ich komme gleichfalls von Bijsk und kenne dort jedermann. Sein wirklicher Name ist Pouzikoff, und das kurzhaarige Mädchen, das ihn begleitet, ist sein Verhältnis. Er ist ein Kommissar der Tscheka, und sie ist eine Agentin dieser Behörde. Im vergangenen August haben die beiden mit ihren Revolvern siebzig gefesselte Offiziere der Koltschakschen Armee erschossen. Schurkische, feige Mörder! Jetzt kommen sie hierher, um das Land auszukundschaften. Sie wollten in meinem Hause übernachten; doch ich kenne sie zu gut und verweigerte ihnen die Gastfreundschaft.«

»Und Sie fürchten sich nicht vor ihnen?« fragte ich, mich der mancherlei verdächtigen Worte und Blicke der Leute erinnernd, als sie in der Station am Tische zusammengesessen hatten.

»Nein,« antwortete der alte Mann. »Ich weiß mich und meine Familie zu verteidigen. Auch habe ich einen Schützer – meinen Sohn. Der ist ein Schütze, ein Reiter und Kämpfer, wie man keinen zweiten in der ganzen Mongolei findet. Es tut mir leid, daß Sie nicht seine Bekanntschaft machen werden. Er ist fortgegangen, um nach den Herden zu sehen, und wird erst morgen zurückkommen.«

Wir nahmen herzlichen Abschied voneinander. Ich mußte ihm versprechen, bei unserer Rückkehr bei ihm zu wohnen.

»Nun, was hat Ihnen Bobroff über uns aufgebunden?« war die Frage, mit der Kanine und Gorokoff mir bei meiner Rückkehr entgegentraten.

»Nichts über Sie,« entgegnete ich. »Denn als er erfuhr, daß ich hier wohne, wollte er überhaupt nicht mit mir sprechen. Was hat es denn zwischen Euch gegeben?« fügte ich fragend hinzu, mich völlig erstaunt stellend.

»Es ist ein alter Streit,« knurrte Gorokoff.

»Ein bösartiger, alter Schuft,« meinte Kanine. Währenddessen aber verrieten die furchtsamen Augen der Frau Kanines wahres Entsetzen, als wenn sie erwartete, im nächsten Augenblick einen tödlichen Streich zu erhalten.

Gorokoff packte seine Sachen, um für den nächsten Morgen zum Aufbruch bereit zu sein. Wir stellten unsere einfachen Betten im Nebenraum auf und schickten uns an, uns zum Schlaf niederzulegen. Doch vorher flüsterte ich meinem Freunde zu, seinen Revolver für alle Fälle bereit zu halten. Mein Freund lächelte nur, während er seinen Revolver herauszog und seine Axt unter sein Kopfkissen legte.

»Diese Leute kamen mir von Anfang an höchst verdächtig vor,« wisperte er. »Sie haben irgend etwas Schlimmes im Schilde. Morgen werde ich hinter dem Gorokoff reiten und für ihn ein nettes kleines Dumdumgeschoß bereithalten.«

Die Mongolen verbrachten die Nacht unter ihrem Zelt im offenen Hofe neben den Kamelen; sie wollten zum Füttern in der Nähe der Tiere sein.

Gegen sieben Uhr früh brachen wir auf. Mein Freund nahm seinen Posten als Arrièregarde unserer Karawane ein und hielt sich auf diese Weise stets hinter Gorokoff, der wie seine Schwester – beide waren vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet – ein prächtiges Pferd ritt.

»Wie konnten Sie Ihre Pferde in so gutem Zustand halten, wo Sie doch den weiten Weg von Sampaltai hinter sich haben?« fragte ich sie.

Als Gorokoff erwiderte, daß die Tiere Kanine gehörten, wurde mir klar, daß dieser nicht so arm sein könne, wie er behauptet hatte. Denn jeder reiche Mongole würde ihm für eines dieser prächtigen Pferde so viel Schafe gegeben haben, daß er seinen Haushalt hätte ein Jahr lang bequem mit Hammelfleisch führen können.

Bald gelangten wir an einen großen Morast, der von dichtem Gebüsch umgeben war. Ich war äußerst erstaunt, dort Hunderte von weißen Kuropatka oder Rebhühnern zu sehen. Aus dem Wasser stieg ein Flug Enten auf, als wir in Sicht kamen. Im Winter bei schärfstem Wind und Schnee wilde Enten! Der Mongole erklärte mir das folgendermaßen:

»Dieser Sumpf bleibt immer warm und friert niemals zu. Die wilden Enten leben hier das ganze Jahr hindurch, ebenso auch die Kuropatka, die in der weichen, warmen Erde hinreichend Nahrung finden.«

Als ich mit dem Mongolen sprach, sah ich über dem Morast eine rötlichgelbe Flamme. Sie züngelte hin und her, verschwand aber sogleich. Bald aber erschienen am jenseitigen Rande zwei weitere Flammenzungen. Ich verstand, daß es sich hier um wirkliche Irrwische handelte, um Irrwische, die überall von Tausenden von Legenden umgeben, aber durch die Chemie auf völlig natürliche Weise dahin erklärt worden sind, daß es sich bei ihnen um Entzündung von Sumpfgas handelt, welches durch das Verfaulen von Pflanzenstoffen in der warmen, feuchten Erde entstanden ist.

»Hier hausen die Dämonen von Adair, die sich im beständigen Kampfe mit den Geistern von Muren befinden,« erklärte der Mongole.

In der Tat, dachte ich, wenn sogar im prosaischen Europa noch in unseren Tagen die Bewohner der Dörfer glauben, daß diese Flammen auf schlimme Zauberei zurückzuführen sind, dann müssen sie im Lande des Mysteriums zum mindesten Kriegskundgebungen zwischen den Dämonen zweier benachbarten Flüsse sein!

Nachdem wir diesen Sumpf hinter uns gelassen hatten, stellten wir in der Ferne vor uns ein großes Kloster fest. Obgleich es eine halbe Meile abseits von der Straße gelegen war, behaupteten die Gorokoffs, daß sie dorthin reiten müßten, um in den chinesischen Läden einige Einkäufe zu machen. Sie ritten schnell davon und versprachen, uns bald wieder einzuholen. Doch sahen wir sie für geraume Zeit nicht wieder. Wir trafen später unter völlig unerwarteten Umständen wieder mit ihnen zusammen, die für sie von tragischer Bedeutung sein sollten. Was uns betraf, so waren wir recht befriedigt, sie so bald losgeworden zu sein. Nun konnte ich meinem Freunde alles genau erzählen, was Bobroff über sie berichtet hatte.


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