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3. Kapitel.
Der Kampf ums Dasein

Dann war ich allein. Ringsum nur der Wald von ewig grünen, mit Schnee bedeckten Zedern, die nackten Büsche und der zugefrorene Fluß. So weit ich durch die Zweige und Stämme der Bäume blicken konnte, nichts als der große Ozean von Zedern und Schnee. Sibirische Taiga! Wie lange werde ich gezwungen sein, hier zu leben? Werden mich die Bolschewiki hier finden? Werden meine Freunde erfahren, wo ich bin? Was geschieht mit meiner Familie? Diese Fragen brannten beständig in meinem Gehirn.

Bald wurde mir klar, warum Iwan mich so weit weggeführt hatte. Wir hatten auf unserer Reise manche einsamen Stellen berührt, wo Iwan mich hätte in Sicherheit zurücklassen können. Aber er hatte immer gesagt, daß er mich an einen Platz bringen würde, wo es leichter wäre zu leben. Und das war richtig. Das Zederngehölz und die mit Zedernwäldern bedeckten Berge gaben meinem einsamen Schlupfwinkel besonderen Reiz. Die Zeder ist ein wundervoller, mächtiger Baum mit sich weitverzweigenden Aesten, ein immergrünes Zelt, das jede Art Lebewesen unter seinen Schutz zieht. Zwischen den Zedern herrschte immer munteres Leben. Dort lärmten fortwährend von Ast zu Ast springende Eichkätzchen. Hier schrien Nußhäher schrill. Eine Schar Dompfaffen mit karminroten Brüsten strich durch die Bäume wie eine Flamme. Ein kleines Heer Goldfinken brach herein und erfüllte das Amphitheater von Bäumen mit seinem Gezwitscher. Ein Hase hüpfte von einem Baumstamm zum andern. Hinter ihm huschte der kaum sichtbare Schatten eines auf dem Schnee entlang kriechenden Wiesels. Sorgsam auf dem hartgefrorenen Schnee schreitend näherte sich ein edler Hirsch. Und schließlich sollte ich auch vom Gipfel des Berges den Besuch des Königs des sibirischen Waldes, des braunen Bären, erhalten.

Alles dies zerstreute mich. Es vertrieb mir die schwarzen Gedanken und ermutigte mich auszuharren. Ein guter, obwohl schwieriger Zeitvertreib bestand für mich auch darin, auf den Gipfel meines Berges zu steigen, der sich aus der Mitte des Waldes erhob und von dem ich bis zu einem roten Streifen am Horizont sehen konnte. Dies war die rote Klippe des jenseitigen Ufers des Jenissei. Dort lag das Land, dort befanden sich die Städte, die Feinde und die Freunde. Dort befand sich auch der Punkt, den ich als den Wohnort meiner Familie feststellen konnte. Aus diesem Grund hatte mich Iwan hierher gebracht.

So verging mir Tag für Tag in Einsamkeit, und ich begann meinen Begleiter schmerzlich zu vermissen, den Mann, der, obgleich er der Mörder von Gavronsky war, mich wie ein Vater bedacht hatte, der stets mein Pferd gesattelt, das Holz für mich geschnitten und alles für mich getan hatte, um mir das Leben bequem zu machen.

Manchmal kam mir der Gedanke, daß, wenn ich meinen Tod an diesem Orte finden sollte, ich meine letzte Kraft zusammennehmen würde, um mich auf den Gipfel des Berges zu schleppen, damit ich dort sterben könnte.

Doch dieses Leben in der wilden Natur gab mir auch viel Anlaß zum Nachdenken und brachte noch mehr Beschäftigung in körperlicher Beziehung. Es war ein beständiger, harter und ernster Existenzkampf. Die schwerste Arbeit war die Vorbereitung der großen Holzklötze für die Naida. Die Stämme der gestürzten Bäume waren stets mit Schnee bedeckt und an den Grund festgefroren. So war ich gezwungen, sie auszugraben und nachher mit Hilfe einer langen Stange von ihrer Stelle fortzubewegen. Um mir diese Arbeit zu erleichtern, wählte ich den Berg für meine Holzlieferungen. Obgleich es schwierig war ihn zu erklimmen, konnte ich doch die Stämme von dort oben leicht hinabrollen. Bald machte ich eine glänzende Entdeckung: ich fand in der Nähe meiner Hütte eine große Menge von Lärchen, dieser schönen und doch traurigen Waldriesen, die durch einen gewaltigen Sturm gefällt worden waren. Die Stämme waren mit Schnee bedeckt, jedoch an den Stümpfen haften geblieben. Als ich mit meiner Axt in diese Stümpfe hineinhieb, grub sich die Schneide tief ein, so daß sie nur mit Schwierigkeit wieder herausgezogen werden konnte. Bei der Untersuchung des Grundes fand ich, daß die Stümpfe stark mit Harz durchsetzt waren. Splitter dieses Holzes brauchten nur von einem Funken getroffen zu werden, um anzugehen. Auch später hatte ich immer einen Vorrat davon bei mir, um schnell Feuer zur Erwärmung meiner Hände nach der Rückkehr von der Jagd oder zum Teekochen zu haben.

Den größeren Teil meiner Zeit verbrachte ich mit Jagen. Es wurde mir klar, daß ich jeden Tag mit Arbeit ausfüllen müßte, denn nur so wurde ich von meinen traurigen Gedanken abgelenkt. Nach meinem Morgentee ging ich gewöhnlich in den Wald, um Birkhühner und Haselhühner zu schießen. Nachdem ich ein oder zwei Hühner erlegt hatte, machte ich mir mein Mittagessen, das niemals aus einem ausgedehnten Menu bestand. Es gab beständig Geflügelsuppe mit einer Handvoll getrockneten Brotes und danach endlose Tassen Tee. Einmal hörte ich auf der Jagd nach Vögeln ein Geräusch in dem dichten Gestrüpp. Als ich aufmerksam hindurchblickte, entdeckte ich die Enden eines Hirschgeweihs. Ich kroch auf der Erde entlang zu dem betreffenden Fleck hin. Aber das wachsame Tier hörte mich näherkommen. Mit mächtigem Lärm sprang es in den Busch. Nachdem es ungefähr dreihundert Schritte gelaufen war, konnte ich es ganz genau sehen, wie es am Hange des Berges Halt machte. Es war ein wunderbares Tier. Mit dunkelgrauem Fell, mit fast schwarzem Rückgrat und so groß wie eine kleine Kuh. Ich legte mein Gewehr über einen Ast und schoß. Das Tier machte einen riesigen Satz, lief wenige Schritte und fiel. So schnell ich konnte, eilte ich dorthin, aber der Hirsch sprang wieder auf und schleppte sich den Berg hinauf. Ein zweiter Schuß brachte ihn nieder. So hatte ich einen warmen Teppich und einen großen Fleischvorrat gewonnen. Das Geweih, das ich an den Zweigen meiner Mauer befestigte, bildete einen schönen Hutaufhänger.

Ich werde niemals ein sehr interessantes, aber wildes Bild vergessen, dessen Zeuge ich eines Tages einige Kilometer von meiner Hütte entfernt wurde. Dort lag ein kleines Moor, das mit Gras und Preiselbeeren bedeckt war. Hier pflegten das Haselhuhn und das Rebhuhn Beeren zu suchen. Ich näherte mich der Stelle geräuschlos hinter den Büschen und sah eine große Schar Haselhühner im Schnee kratzen und Beeren picken. Während ich diese Szene überblickte, sprang plötzlich eines der Hühner in die Höhe. Der Rest der erschreckten Schar flog sofort davon. Zu meinem Erstaunen stieg der erste Vogel in Spiralen senkrecht in die Höhe und fiel auf einmal tot hernieder. Als ich mich der betreffenden Stelle näherte, sprang von dem Körper des getöteten Huhnes ein gieriges Wiesel und versteckte sich unter dem Stamm eines gefallenen Baumes. Der Hals des Vogels war furchtbar zerfleischt. Es wurde mir nun klar, daß das Wiesel das Huhn angegriffen, sich an seinem Halse festgebissen hatte und dann von dem Vogel in die Luft getragen worden war, während es das Blut aus dessen Kehle saugte. Auf diese Weise war der plötzliche Fall des Vogels herbeigeführt worden. Dieser aeronautischen Geschicklichkeit des Wiesels verdankte ich, daß ich eine Patrone sparte.

So lebte ich im beständigen Kampfe mit der Natur. Mehr und mehr vergifteten mich harte und bittere Gedanken.

Die Tage und Wochen verstrichen. Ich fühlte den Hauch wärmerer Winde. An den offenen Stellen begann der Schnee zu schmelzen. Hin und wieder erschienen kleine Wasserläufe. Bald sah ich hier und dort eine Fliege, eine Spinne, die nach dem harten Winter erwacht waren. Der Frühling meldete sich an. Ich sah ein, daß es im Frühjahr unmöglich sein würde, den Wald zu verlassen. Denn dann treten sämtliche Flüsse über. Die Moore werden undurchquerbar. Alle von den Tieren gebahnten Wege werden zu Betten strömenden Wassers.

Das Frühjahr kam sehr schnell zu seinem Recht. Bald war mein Berg frei von Schnee und nur noch bedeckt mit Steinen, Stämmen von Birken- und Espenbäumen und hohen Ameisenhügeln. Der Fluß zersprengte stellenweise seine Eisdecke. Er kochte und schäumte.


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