Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8. Kapitel.
Drei Tage unter Feinden

Mit unseren falschen Pässen ausgerüstet, gingen wir in dem Tal der Tuba vor. Alle zehn oder fünfzehn Werst kamen wir an Dörfer, die einhundert bis sechshundert Häuser umfaßten, in denen die ganze Verwaltung in den Händen der Sowjets lag und wo Spione alle Vorüberkommenden argwöhnisch beobachteten. Diesen Dörfern konnten wir aus zwei Gründen nicht aus dem Wege gehen. Denn erstens würde dieser Versuch, wo wir doch beständig Bauern auf den Feldern trafen, Argwohn erregt und vielleicht irgend eine Sowjetbehörde veranlaßt haben, uns festzunehmen und uns zur Tscheka in Minusinsk zu schicken, wo wir dann das Tageslicht zum letzten Male erblickt haben würden. Und zweitens war meinem Reisegefährten in seinem Paß Erlaubnis gewährt worden, die Regierungspost für seine Reisezwecke zu benutzen. So waren wir gezwungen, die Dorfsowjets aufzusuchen und uns von ihnen unsere Pferde wechseln zu lassen. Unsere eigenen Tiere hatten wir den tatarischen Kosaken gegeben, die uns an der Mündung der Tuba behilflich gewesen waren. Die Kosaken hatten uns dafür in einem Wagen nach dem ersten Dorfe gebracht, in dem wir Postpferde erhielten. Obwohl die Bolschewiki das Land beherrschten, machten wir die Entdeckung, daß die Bauern mit Ausnahme einer kleinen Minderheit bolschewikifeindlich waren und uns bereitwilligst unterstützten. Ich entschädigte sie für empfangene Hilfe, indem ich ihre Kranken behandelte, und mein Reisebegleiter gab ihnen praktische Ratschläge in Bezug auf die Führung ihrer landwirtschaftlichen Betriebe. Diejenigen, die uns vor allem halfen, waren die alten Dissidenten und die Kosaken.

Manchmal gelangten wir in Dörfer, die völlig kommunistisch waren. Bald lernten wir, woran diese zu erkennen seien. Wenn wir mit unseren klingenden Pferdeschellen in ein Dorf hineinritten und fanden, daß die zufällig vor ihren Häusern sitzenden Bauern Neigung bekundeten, mit Stirnrunzeln oder ärgerlichen Bemerkungen aufzustehen, deswegen nämlich, weil sie glaubten, daß neue rote Teufel ankämen, wußten wir, daß das ein den Kommunisten feindlich gesinntes Dorf war, in dem wir in Sicherheit Halt machen konnten. Doch wenn die Bauern näher kamen, uns mit Vergnügen begrüßten und uns als Kameraden anredeten, dann wußten wir sofort, daß wir uns in Feindesland befanden und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen hatten. Die Dörfer dieser Art waren von einer Volksklasse bewohnt, die nicht aus den die Freiheit liebenden sibirischen Bauern, sondern aus Emigranten aus der Ukraine zusammengesetzt war, faulen und dem Trunke ergebenen Leuten, die in kleinen, schmutzigen Hütten lebten, obgleich ihre Dörfer von dem schwarzen und fruchtbaren Steppenboden umgeben waren. Sehr gefährliche, doch zugleich angenehme Augenblicke verbrachten wir in dem großen Dorf Karatuz. Dieses ist eigentlich eine Stadt. Im Jahre 1912 waren hier zwei Schulen eröffnet worden. Die Bevölkerung zählt fünfzehntausend Köpfe. Karatuz ist die Hauptstadt der Kosaken des südlichen Jenissei. Jetzt aber ist es sehr schwer, diesen Ort wiederzuerkennen; denn die Bauernemigranten und die Rote Armee hatten die ganze Kosakenbevölkerung ermordet und die meisten ihrer Häuser durch Feuer zerstört. Die Stadt ist gegenwärtig das Zentrum des Bolschewismus im östlichen Teil des Bezirks von Minusinsk. Als wir dort an das Gebäude des Sowjet kamen, um unsere Pferde zu wechseln, wurde gerade eine Sitzung der Tscheka abgehalten. Man umringte uns sofort und verlangte, unsere Papiere zu sehen. Da wir hinsichtlich des Eindrucks, den wir durch unsere Pässe machen konnten, kein allzu gutes Gewissen hatten, versuchten wir dieser Untersuchung zu entgehen. Mein Reisebegleiter sagte später öfters zu mir:

»Es ist für uns ein großes Glück, daß unter den Bolschewisten der nichtsnutzige Schuhmacher von gestern der Gouverneur von heute ist, und daß die Männer der Wissenschaft die Straßen zu kehren und die Ställe der roten Kavallerie zu reinigen haben. Ich kann mit den Bolschewiki reden, weil sie keinen Unterschied zu machen wissen zwischen Desinfektion und Diphtherie, zwischen Anthrazit und Appendicitis. Auf diese Weise kann ich sie in allen Dingen so beschwatzen, daß ich sie davon abbringe, mir eine Kugel in den Leib zu jagen.« Und so beschwatzten wir die Mitglieder der Tscheka von Karatuz dermaßen, daß wir alles erlangten, was wir zu haben wünschten. Wir unterbreiteten ihnen einen großartigen Plan für die zukünftige Entwicklung ihres Bezirks, wir stellten ihnen vor, daß wir für sie Straßen und Brücken bauen würden, die sie dazu befähigen sollten, das Holz von Urianhai, Eisen und Gold von den Bergen der Sajanen und Vieh und Felle von der Mongolei zu exportieren. Was für einen Triumph würde der Schöpfungswille der Sowjetregierung dann feiern! Die Ode, die wir ihnen vorsangen, dauerte ungefähr eine Stunde. Als wir damit fertig waren, hatten die Mitglieder der Tscheka vollkommen unsere Papiere vergessen. Sie versahen persönlich den Pferdewechsel, luden persönlich unser Gepäck auf den Wagen und wünschten uns guten Erfolg. Dies war die letzte Nervenprobe an den Grenzen Rußlands.

Als wir das Tal des Amyl durchkreuzten, war uns das Glück hold. In der Nähe der Fähre trafen wir ein Mitglied der Miliz von Karatuz. Dieser Soldat hatte auf seinem Wagen mehrere Gewehre und automatische Pistolen, größtenteils System Mauser, die dazu dienen sollten, eine Expedition auszustatten, welche Urianhai auf der Suche nach einigen Kosakenoffizieren durchqueren sollte. Das mahnte uns zur Vorsicht. Denn wir hätten sehr leicht auf diese Expedition stoßen können und waren nicht sicher, ob die Soldaten ebensoviel Verständnis für unsere schwungvollen Phrasen haben würden wie die Mitglieder der Tscheka. Durch die an den Milizsoldaten gerichteten Fragen erfuhren wir, welchen Weg die Expedition einschlagen würde. Im nächsten Dorf übernachteten wir mit ihm in ein und demselben Hause. Ich mußte mein Gepäck öffnen und entdeckte sogleich, daß er auf meinen Reisesack bewundernde Blicke fallen ließ.

»Was macht Ihnen so viel Vergnügen?« fragte ich. Er flüsterte: »Hosen ... Hosen ...«

Ich hatte von meinen Mitbürgern in der Stadt ganz neue Reithosen aus dickem schwarzem Tuch bekommen. Diese Hosen zogen die gierige Aufmerksamkeit des Milizmannes auf sich.

»Wenn Sie keine anderen Hosen haben ...« bemerkte ich, indem ich meinen Angriffsplan gegen meinen neuen Freund überdachte.

»Nein,« erklärte er traurig. »Der Sowjet liefert keine Hosen. Die Sowjetleute sagen mir, sie gingen auch hosenlos. Und meine Hosen sind absolut erledigt. Sehen Sie einmal her.«

Nach diesen Worten hob er das untere Stück seines Mantels in die Höhe. Als ich hinsah, mußte ich mich allerdings fragen, wie er sich in diesen Hosen halten konnte; denn sie hatten so große Löcher, daß sie eher ein Netz als Hosen waren, ein Netz, durch das noch ein kleiner Haifisch hätte schlüpfen können.

»Verkaufen?« flüsterte der Soldat mit fragendem Ton in seiner Stimme.

»Das kann ich nicht; denn ich brauche sie selber,« antwortete ich entschlossen.

Er dachte einige Minuten nach. Dann kam er auf mich zu und sagte: »Wir wollen hinausgehen und die Sache bereden. Hier geht das nicht gut.«

Wir gingen hinaus. »Nun, wie steht's damit?« begann er. »Sie gehen nach Urianhai. Dort haben die Sowjetbanknoten keinen Wert, so daß Sie nicht imstande sein werden, irgend etwas zu kaufen, wo es doch dort eine Menge von Zobelfellen, Fuchsfellen, Hermelinen und Goldstaub gibt, die die Bevölkerung sehr gerne gegen Gewehre und Patronen austauscht. Jeder von Ihnen beiden hat ein Gewehr. Ich werde Ihnen noch ein Gewehr und hundert Patronen geben, wenn Sie mir Ihre Hosen geben.«

»Wir brauchen keine Waffen. Uns schützen unsere Papiere«, antwortete ich, als ob ich ihn nicht verstünde.

»Aber nein,« unterbrach er mich. »Sie können dann das Gewehr gegen Pelze und Gold austauschen. Ich gebe Ihnen das Gewehr sofort.«

»Ach so, darum handelt sich's. Doch das ist sehr wenig für diese Hosen. Sie können jetzt nirgends in Rußland Hosen bekommen. Ganz Rußland geht ohne Hosen, und für Ihr Gewehr würde ich gerade ein Zobelfell bekommen. Was soll ich aber mit einem Fell anfangen?«

So gelangte ich zur Erfüllung meiner Wünsche. Der Milizmann bekam meine Hosen, und ich erhielt ein Gewehr mit einhundert Patronen und außerdem zwei automatische Pistolen mit je vierzig Patronen. Jetzt waren wir so bewaffnet, daß wir uns verteidigen konnten. Ueberdies überredete ich den glücklichen Besitzer meiner Hosen, uns für das Tragen der Waffen einen Erlaubnisschein zu geben. Danach hatten wir sowohl das Gesetz wie auch die Macht auf unserer Seite.

In einem entlegenen Dorf kauften wir drei Pferde, zwei zum Reiten und eines als Packtier, nahmen einen Führer, versahen uns mit getrocknetem Brot, Fleisch, Salz und Butter. Nachdem wir dort einen Tag ausgeruht hatten, begannen wir die Reise den Amyl hinauf nach dem Sajangebirge an die Grenze von Urianhai. Dort hofften wir, keine Bolschewiki mehr zu treffen.

Nach drei Tagereisen von der Mündung der Tuba passierten wir das letzte russische Dorf an der Grenze des mongolischen Urianhai-Gebietes, nach drei Tagen beständiger Berührung mit einer gesetzlosen Bevölkerung, fortdauernder Gefahr und der immerwährenden Möglichkeit eines plötzlichen Todes. Nur unsere eiserne Willenskraft, unsere Geistesgegenwart und unsere verbissene Hartnäckigkeit brachten uns durch alle Gefahren und bewahrten uns davor, den Abgrund hinunterzustürzen, an dessen Fuß so viele andere lagen, denen es nicht gelungen war, den von uns vollbrachten Anstieg zur Freiheit zu gewinnen. Vielleicht fehlte es diesen an Ausdauer und Geistesgegenwart, vielleicht hatten sie nicht die poetische Fähigkeit, Oden über Straßen, Brücken und Goldminen zu singen, oder vielleicht hatten sie keine überflüssigen Hosen.


 << zurück weiter >>