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Teil I.
Zwischen Leben und Tod

1. Kapitel.
In die Wälder hinein

Der Zufall wollte es, daß ich zu Beginn des Jahres 1920 in der sibirischen Stadt Krasnojarsk wohnte, an den Ufern des Jenissei. Dieser herrliche Strom hat seine Wiege in den sonnenbeschienenen Bergen der Mongolei und ergießt sein erwärmendes Leben in das Eismeer. An der Mündung des Jenissei landete Nansen zweimal, um den kürzesten Handelsweg von Europa nach dem Herzen Asiens zu finden. In Krasnojarsk wurde ich, in der Tiefe eines sibirischen Winters, plötzlich von dem Wirbelsturm der tollen Revolution ergriffen, die in ganz Rußland wütete. In Sibirien, diesem friedlichen und reichen Lande, riß die russische Revolution Abgründe des Hasses und des Rachedurstes auf und zeitigte furchtbares Blutvergießen und zahllose ungeahndete Verbrechen. Niemand konnte damals sagen, was ihm bevorstand. Man lebte von einem Tag auf den anderen. Wenn man sein Heim verließ, wußte man nicht, ob man dorthin zurückkehren oder von der Straße hinweggerissen und in die Kerker jenes Zerrbildes von Gerichten der Revolutionskomitees geworfen würde, die fürchterlicher und blutiger waren als die Gerichtshöfe der mittelalterlichen Inquisition. Auch wir, Fremde in diesem zerrissenen Lande, blieben von Verfolgungen nicht verschont.

Als ich eines Morgens ausgegangen war, um einen Bekannten zu besuchen, erhielt ich plötzlich die Nachricht, zwanzig rote Soldaten hätten mein Haus umzingelt, um mich zu verhaften. Ich mußte fliehen. Ich legte schleunigst ein altes Jagdgewand meines Bekannten an, versah mich mit Geld und eilte zu Fuß durch Seitenstraßen der Stadt, bis ich die offene Landstraße gewann. Dort mietete ich einen Bauer, der mich in vier Stunden zwanzig Meilen von der Stadt hinwegfuhr und mich mitten in dichtbewaldetem Gebiete absetzte. Unterwegs kaufte ich ein Gewehr, dreihundert Patronen, eine Axt, ein Messer, einen Schafspelz, Tee, Salz, getrocknetes Brot und einen Kessel.

Ich drang in das Innere des Waldes ein und gelangte an eine halb niedergebrannte Hütte.

Von nun ab wurde ich zu einem richtigen Trapper, aber ich ließ mir nicht träumen, wie lange ich diese Rolle zu spielen haben würde. Am nächsten Tag ging ich auf die Jagd und hatte das Glück, zwei Birkhähne zu schießen. Ich fand eine große Zahl von Rotwildspuren. Das gab mir Gewißheit, daß ich hier nicht an Nahrungsmittelmangel zu leiden haben würde. Indessen sollte mein Aufenthalt hier nicht von langer Dauer sein. Nach fünf Tagen bemerkte ich bei der Rückkehr von der Jagd, daß Rauch aus dem Schornstein meiner Hütte aufstieg. Ich schlich mich langsam an das Haus heran und sah dort zwei gesattelte Pferde, an deren Sätteln Soldatenflinten hingen. Die ungebetenen Besucher hatten also ihre Waffen draußen gelassen. Zwei unbewaffnete Männer aber waren für mich, der ich die Waffe mit mir trug, nicht gefährlich. So lief ich schnell über den freien Raum und trat in die Hütte ein. Von der in ihr stehenden Bank sprangen zwei Soldaten erschreckt in die Höhe. Sie waren Bolschewiki. Auf ihren großen Astrachankappen sah ich die roten Sterne des Bolschewismus, auf ihren Blusen die schmutzigroten bolschewistischen Bänder.

Wir begrüßten einander und setzten uns hin. Die Soldaten hatten sich Tee gekocht. So tranken wir dieses stets willkommene Getränk und plauderten, indem wir uns die ganze Zeit über argwöhnisch beobachteten. Um ihren Argwohn zu entwaffnen, erzählte ich, ich sei ein Jäger von einem fern gelegenen Orte und wohne jetzt hier, weil ich gefunden hätte, daß diese Gegend ein an Zobeltieren reiches Land sei. Sie stellten sich als Soldaten eines Detachements vor, das von der Stadt in die Wälder geschickt worden war, um verdächtiges Volk zu jagen.

»Verstehst Du, Kamerad,« sagte der eine zu mir, »wir sind auf der Jagd nach Gegenrevolutionären, um sie zu erschießen.«

Das wußte ich auch so. Alle meine Bemühungen gingen dahin, sie durch mein Verhalten glauben zu machen, ich sei ein einfacher bäuerlicher Jäger und habe mit Gegenrevolutionären nichts zu tun. Gleichzeitig überlegte ich in einem fort, wohin ich mich nach dem Fortgehen meiner unwillkommenen Gäste begeben könnte.

Es wurde dunkel. In der Dunkelheit erschienen ihre Gesichter noch weniger anziehend. Sie zogen Wodkaflaschen heraus und tranken. Der Alkohol begann in sehr erkennbarer Weise seine Wirkung zu tun. Sie schwatzten unter ständigen Unterbrechungen laut, indem sie sich damit brüsteten, wie viele Mitglieder der Bourgeoisie sie schon in Krasnojarsk getötet, wie viele Kosaken sie unter das Flußeis geworfen hätten. Dann stritten sie miteinander, doch bald wurden sie müde und schickten sich an, sich zum Schlaf niederzulegen.

Da ging plötzlich die Tür der Hütte weit auf. Der Dampf des geheizten Raumes schlug in einer großen Wolke hinaus in die Kälte. Als er sich ein wenig niedergeschlagen hatte, stieg aus dieser Wolke wie ein Geist die Gestalt eines großen hageren Bauern heraus, eine hohe Astrachankappe auf dem Kopfe und in einen großen Schafspelz gehüllt, was den massiven Eindruck der Gestalt verstärkte. Er stand mit seinem Gewehr schußbereit. Unter seinem Gürtel hing die scharfe Axt, ohne die der sibirische Bauer nicht leben kann. Augen, schnell und funkelnd wie die Lichter eines wilden Tieres, hefteten sich abwechselnd auf einen jeden von uns. Danach nahm er seine Kappe ab, bekreuzigte sich und fragte: »Wer ist hier der Herr?«

Ich gab ihm Bescheid.

»Darf ich hier die Nacht verbringen?«

»Jawohl,« antwortete ich. »Es ist Raum genug für alle. Nehmen Sie eine Tasse Tee. Der Tee ist noch heiß.«

Der Fremde legte seinen Pelz ab und stellte sein Gewehr in die Ecke. Dabei hielt er seine Augen beständig auf uns gerichtet und auf alles, was sich im Raum befand. Er trug eine alte Lederbluse mit Hosen aus demselben Material, die in hohe Filzstiefel gesteckt waren. Sein Gesicht war jung, fein und von leisem Spott übergossen. Seine weißen scharfen Zähne blitzten. Sein Blick war durchdringend. Ich stellte graue Locken auf seinem zottigen Haupte fest. Züge der Verbitterung liefen um seinen Mund. Sie zeigten, daß sein Leben sehr stürmisch und reich an Gefahren gewesen sein mußte.

Der Mann nahm neben seinem Gewehr Platz und legte sein Beil vor sich auf den Boden.

»Warum? Ist das Deine Frau?« fragte einer der betrunkenen Soldaten und wies auf die Axt.

Der große Bauer sah ihn aus klaren Augen ruhig an und antwortete gelassen:

»Man stößt auf allerlei Volk heutzutage. Da ist's mit einer Axt viel sicherer.«

Er begann gierig Tee zu trinken, während seine Augen des öfteren wie in scharfer Fragestellung auf mich blickten und dann den ganzen Raum durchliefen, als ob sie nach einer Antwort auf seine Zweifel suchten. Sehr langsam und mit bedächtiger Dehnung beantwortete er alle Fragen, die die Soldaten zwischen Teerülpsern an ihn richteten. Schließlich drehte er sein Glas um zum Zeichen, daß er mit Trinken fertig war, legte das übrig gebliebene kleine Stück Zucker auf das Glas und bemerkte zu den Soldaten:

»Ich geh hinaus, um nach meinem Pferd zu sehen, und werde auch Eure Pferde absatteln.«

»Sehr schön!« rief der in halbem Schlaf befindliche jüngere Soldat aus. »Bring auch unsere Gewehre herein.«

Die Soldaten lagen auf den Bänken und ließen für uns nur den Boden übrig. Der Fremde kam bald zurück, brachte die Gewehre und stellte sie in die dunkle Ecke. Er ließ die Sattelunterlagen auf den Boden fallen, setzte sich darauf und zog seine Stiefel aus.

Die Soldaten und mein Gast schnarchten bald. Doch ich schlief nicht, denn ich hatte zu überdenken, was nun für mich zu tun war. Als schließlich die Morgendämmerung kam, döste ich ein wenig ein. Bei vollem Tageslicht erwachte ich und fand den Fremden nicht im Raum. Ich ging aus der Hütte und sah ihn mit dem Satteln eines schönen Fuchshengstes beschäftigt.

»Gehen Sie fort?« fragte ich ihn.

»Ja. Aber ich möchte mit diesen – Kameraden zusammengehen,« flüsterte er. »Nachher werde ich zurückkommen.«

Ich richtete keine weitere Frage an ihn, sondern sagte ihm nur, daß ich auf ihn warten würde.

Er nahm die Ledertaschen ab, die an seinem Sattel gehangen hatten, legte sie in die verbrannte Ecke der Hütte, so daß sie außer Sicht waren, prüfte die Bügel und den Zügel nach und lächelte mir, nachdem er mit dem Satteln fertig war, zu, indem er sagte:

»Jetzt bin ich fertig und werde nun meine Kameraden wecken.«

Eine halbe Stunde nach dem Morgentee verabschiedeten sich meine drei Gäste. Ich blieb vor der Hütte und beschäftigte mich mit dem Spalten von Holz für meinen Ofen. Plötzlich ertönten aus einer gewissen Entfernung Gewehrschüsse durch den Wald, erst einer, dann ein zweiter. Danach war alles still. Von dem Ort, in dessen Nähe die Schüsse gefallen waren, stieg ein Flug aufgescheuchter Haselhühner auf und kam zu mir herübergeflogen. Von der Spitze einer hohen Fichte ertönte der Schrei eines Eichelhähers. Ich lauschte lange Zeit in den Wald hinein, um festzustellen, ob sich jemand meiner Hütte näherte, doch alles war still.

Am Unterlauf des Jenissei wird es sehr früh dunkel. Ich machte in meinem Ofen Feuer und kochte meine Suppe, indem ich dauernd auf jedes Geräusch achtete, das von draußen zu mir hereindrang. Denn es war mir die ganze Zeit über klar, daß der Tod an meiner Seite stand und mich durch Menschen, wilde Tiere, Kälte, Unfall oder Krankheit jederzeit anfordern konnte. Ich wußte, daß sich niemand in meiner Nähe befand, der mir hätte helfen können, und daß meine einzige Hilfe in Gottes Händen, in der Kraft meiner Hände und Füße, in der Genauigkeit meines Zielens und in meiner Geistesgegenwart lag.

Mein Lauschen nutzte indessen nichts. Ich bemerkte gar nicht, wie der Fremde zurückkehrte. Wie gestern stand er ganz plötzlich auf der Türschwelle. Durch den Dampf hindurch sah ich seine lachenden Augen und sein feines Gesicht. Er schritt in die Hütte hinein und ließ mit lautem Poltern drei Gewehre in die Ecke fallen.

»Zwei Pferde, zwei Gewehre, zwei Sättel, zwei Schachteln mit getrocknetem Brot, ein halber Ziegel Tee, ein kleiner Salzsack, fünfzig Patronen, zwei Mäntel, zwei Paar Stiefel.« So zählte er lachend auf. »Wahrlich, ich hatte heute recht erfolgreiche Jagd.«

Erstaunt blickte ich ihn an.

»Warum sind Sie erstaunt?« lachte er. »Komu Nujny eti tovarischi? Was kann man mit diesen Kerlen anfangen? Trinken wir Tee und legen wir uns schlafen. Morgen werde ich Sie an einen anderen, sichereren Platz bringen und dann weiter reisen.«


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