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9. Kapitel.
Im Gebiet der Sajanen

Dichter Urwald umgab uns. In dem hohen, bereits gelb gefärbten Grase war die Wegspur zwischen den Büschen und Bäumen, die schon ihr vielfarbiges Laub verloren, kaum sichtbar. Wir befanden uns auf der alten, bereits vergessenen Paßstraße des Amyl. Vor fünfundzwanzig Jahren wurden darauf die Vorräte, die Maschinen und die Arbeiter für die zahlreichen, jetzt aufgegebenen Goldminen des Amyltales befördert. Die Straße wand sich den schnell fließenden Amyl entlang, dann drang sie in einen tiefen Wald ein, indem sie uns um sumpfiges Land, mit dem dieser gefährliche sibirische Marschboden erfüllt ist, durch dichtes Gestrüpp, über Berge und weite Matten führte.

Unser Führer, der wahrscheinlich unsere wirklichen Zwecke durchschaute, sagte, indem er besorgt auf den Boden niederblickte:

»Drei Reiter auf Pferden mit Hufeisen sind hier vorübergekommen. Vielleicht Soldaten.«

Seine Sorge hörte auf, als er entdeckte, daß die Spur sich nach einer Seite abzweigte und dann auf den Weg zurückkehrte.

»Sie sind nicht weitergeritten«, bemerkte er mit einem schlauen Lächeln.

»Wie schade«, antworteten wir, »es wäre unterhaltsamer gewesen, in Gesellschaft zu reisen.«

Doch der Bauer streichelte nur seinen Bart und lachte. Offenbar hatte unsere Erklärung auf ihn keinen Eindruck gemacht.

Wir kamen auf unserm Wege an einer Goldmine vorbei, die ehemals in großartiger Weise angelegt worden war, die wir jetzt jedoch verlassen und mit zerstörten Gebäuden fanden. Die Bolschewiki hatten sämtliche Maschinen, Vorräte und auch Teile der Gebäude hinweggeschleppt. In der Nähe davon stand eine dunkle, düstere Kirche mit zerbrochenen Fenstern, abgerissenem Kruzifix und verbranntem Turm, ein trauriges, aber typisches Merkmal des Rußland von heute. Die hungernde Familie des Wächters lebte in der Mine in fortdauernder Gefahr. Die Leute erzählten uns, daß in dieser Waldgegend eine Bande von Roten herumstrich, die alles raubte, was sich noch auf dem Gelände der Mine befand, den reichsten Teil des Bergwerkes bearbeitete und das so erhaltene Gold in fernen Dörfern zu vertrinken und verspielen pflegte, wo die Bauern den verbotenen Wodka aus Beeren und Kartoffeln herstellten und für sein Goldgewicht verkauften. Ein Zusammenstoßen mit dieser Bande würde für uns den Tod bedeutet haben.

Nach drei Tagen überschritten wir den nördlichen Rücken des Sajangebirges, durchritten den Grenzfluß Algiak und befanden uns von diesem Tage ab außerhalb von Rußland im Gebiete von Urianhai.

Dieses wunderbare, an Naturschätzen verschiedenster Gestalt reiche Land wird von einem Zweige des Mongolenstammes bewohnt, der jetzt nur sechstausend Häupter zählt und allmählich ausstirbt, der eine von den übrigen Dialekten der Mongolen ganz verschiedene Sprache spricht und an dem Grundsatz des »ewigen Friedens« als Lebensideal festhält. Urianhai ist vor geraumer Zeit zum Objekt von Verwaltungsversuchen der Russen, Mongolen und Chinesen geworden, die alle die Souveränität über dieses Gebiet beanspruchten, dessen unglückliche Bewohner, die Sojoten, deshalb allen drei Oberherren zu gleicher Zeit Tribut zu zahlen hatten. Infolge dieser Tatsache war das Land für uns kein völlig sicherer Zufluchtsort. Wir hatten bereits von unserm Milizsoldaten von der Expedition gehört, die sich darauf vorbereitete, nach Urianhai vorzudringen. Von unserem Bauer erfuhren wir nun, daß die Dörfer am Kleinen Jenissei und die Orte weiter südlich Rote Detachements gebildet hatten, die alle Leute beraubten und töteten, die in ihre Hände fielen. Kürzlich hatten sie zweiundsechzig Offiziere getötet, die durch Urianhai nach der Mongolei gelangen wollten; sie hatten eine Karawane von chinesischen Kaufleuten beraubt und erschlagen und einige deutsche Kriegsgefangene umgebracht, die aus dem Sowjetparadies entkommen waren.

Am vierten Tage gelangten wir in ein sumpfiges Tal, wo zwischen offenen Wäldern ein einsam gelegenes russisches Haus stand. Hier verabschiedeten wir uns von unserem Führer, der sich beeilte, an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren, bevor ihm der Schnee die Straße über die Sajanen versperren würde. Der Besitzer des Hauses willigte ein, uns für zehntausend Sowjetrubel nach dem Seybi-Fluß zu führen. Da unsere Pferde ermüdet waren, so waren wir gezwungen, ihnen Ruhe zu gönnen. Deshalb entschlossen wir uns, hier vierundzwanzig Stunden zu verbringen.

Wir waren gerade beim Teetrinken, als die Tochter unseres Gastfreundes ausrief: »Die Sojoten kommen.«

In das Zimmer drangen plötzlich vier mit Gewehren bewaffnete Sojoten, mit zugespitzten Hüten auf den Köpfen. »Mendé,« grunzten sie uns an. Und dann begannen sie plötzlich, uns ohne jede Zeremonie zu untersuchen. Kein Knopf, kein Saum in unserer ganzen Ausrüstung entging ihren durchdringenden Blicken. Danach fing einer von ihnen an, der der Merin oder Gouverneur des Ortes zu sein schien, unsere politischen Ansichten zu erforschen. Als er hörte, daß wir die Bolschewiki kritisierten, gefiel ihm das offenbar; denn er begann nun freimütig zu reden.

»Sie sind gute Menschen. Sie lieben nicht die Bolschewiki. Wir werden Ihnen helfen.«

Ich dankte ihm und beschenkte ihn mit der dicken Silberschnur, die ich als Gürtel trug.

Bevor die Nacht hereinbrach, verließen sie uns, indem sie sagten, sie würden am Morgen zurückkehren. Es wurde dunkel. Wir gingen auf die Matte hinaus, um nach unseren erschöpften Pferden zu sehen, die dort grasten. Dann gingen wir zum Hause zurück. Wir plauderten gerade fröhlich mit unserem gastfreien Wirt, als wir plötzlich im Hof Hufschläge von Pferden und rauhe Stimmen hörten. Unmittelbar darauf traten fünf mit Gewehren und Säbeln bewaffnete Rote Soldaten in den Raum. Ein unangenehmes, kaltes Gefühl lief mir über den Rücken. Mein Herz begann zu klopfen. Wir wußten, daß die Roten unsere Feinde waren. Diese Leute hatten die roten Sterne auf ihren Astrachankappen und rote Dreiecke auf ihren Aermeln. Sie gehörten zu dem Detachement, das nach Kosakenoffizieren jagte.

Uns scheel ansehend, zogen sie ihre Mäntel aus und setzten sich hin. Wir eröffneten zunächst die Unterhaltung, indem wir erklärten, unser Reisezweck sei, Nachforschungen wegen Brücken, Straßen und Goldminen anzustellen. Von ihnen erfuhren wir dann, daß ihr Kommandeur sehr bald mit weiteren sieben Mann ankommen würde, und daß sie unseren Wirt als Führer nach dem Seybi-Fluß nehmen wollten, wo sie glaubten, daß die Kosakenoffiziere verborgen sein müßten. Ich sagte sofort, daß sich das sehr günstig treffe, daß wir nun zusammen reisen könnten. Einer der Soldaten antwortete, das würde vom Kameradoffizier abhängen.

Während unserer Unterhaltung trat der Sojotengouverneur ein. Er musterte die Neuangekommenen sehr genau und fragte sie: »Warum habt Ihr den Sojoten die guten Pferde genommen und uns die schlechten gelassen?«

Die Soldaten lachten ihn aus.

»Denkt daran, daß Ihr Euch in einem fremden Lande befindet!« entgegnete der Sojot, mit drohendem Tone in seiner Stimme.

»Hol Dich der Teufel!« schrie einer der Soldaten.

Doch der Sojot setzte sich ruhig am Tische nieder und nahm die Tasse Tee entgegen, die ihm die Wirtin eingegossen hatte. Die Unterhaltung hörte auf. Der Sojot trank den Tee, rauchte aus seiner langen Pfeife und stand dann auf.

»Wenn bis morgen früh die Pferde nicht bei ihren Eigentümern sind,« sagte er, »werden wir sie uns holen.« Nach diesen Worten drehte er sich um und ging hinaus.

Ich stellte den Ausdruck der Besorgnis auf den Gesichtern der Soldaten fest. Bald danach wurde einer von ihnen als Bote abgesandt, während die übrigen mit gesenkten Köpfen still sitzenblieben. Spät in der Nacht kam der Offizier mit seinen übrigen sieben Mann an. Als er die Meldung über den Sojoten entgegennahm, runzelte er die Stirn und sagte:

»Das ist eine böse Geschichte. Wir müssen durch das Sumpfland hindurch, wo sich ein Sojot hinter jedem Hügel auf der Lauer befinden wird.«

Er schien wirklich sehr besorgt zu sein. Seine Erregung hielt ihn glücklicherweise davon ab, uns viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ich beruhigte ihn und versprach ihm, diese Angelegenheit am morgigen Tage mit den Sojoten in Ordnung zu bringen. Der Offizier war ein rohes Vieh und ein dummer Kerl, der nur zu sehr den Wunsch hatte, als Belohnung für die Gefangennahme der Kosakenoffiziere befördert zu werden, und der befürchtete, daß der Sojot ihn daran hindern könnte, den Seybi zu erreichen.

Bei Tagesanbruch brachen wir zusammen mit dem Roten Detachement auf. Nachdem wir ungefähr fünfzehn Kilometer zurückgelegt hatten, sahen wir in der Entfernung zwei Reiter hinter den Büschen. Sie waren Sojoten. Auf ihren Rücken trugen sie Flinten.

»Warten Sie einen Augenblick,« sagte ich zu dem Offizier. »Ich werde mit ihnen verhandeln.«

Ich stürmte von dannen, so schnell mich mein Pferd tragen konnte. Einer der Reiter war der Sojotengouverneur. Dieser sagte zu mir:

»Bleiben Sie hinter dem Detachement und helfen Sie uns.«

»Schön,« antwortete ich. »Aber wir wollen ein bißchen plaudern, damit die Leute da denken, daß wir verhandeln.«

Nach einer Weile gab ich dem Sojoten die Hand und kehrte zu den Soldaten zurück.

»Alles in Ordnung,« rief ich aus. »Wir können unsere Reise fortsetzen. Die Sojoten werden uns nichts in den Weg stellen.«

Wir setzten uns erneut in Bewegung. Als wir eine große Matte überschritten, erblickten wir in großer Entfernung zwei Sojoten, die in vollem Galopp einen Berg hinaufritten.

Ganz allmählich führte ich das nötige Manöver aus, das darin bestand, mich und meinen Reisegefährten etwas hinter das Detachement zu bringen. Hinter unserem Rücken blieb nur noch ein Soldat übrig, der viehisch aussah und uns offenbar sehr feindlich gesinnt war. Ich hatte Gelegenheit, meinem Begleiter nur ein Wort zuzuflüstern: »Mauser«, und sah, daß er sorgfältig seine Satteltasche aufknöpfte und aus ihr den Griff seiner Pistole ein wenig herauszog.

Bald verstand ich, warum diese Soldaten, obwohl sie erfahrene Waldleute waren, nicht versuchten, an den Seybi ohne Führer zu gelangen. Das ganze Gebiet zwischen dem Algiak und dem Seybi besteht aus Bergketten, die voneinander durch tiefe, sumpfige Täler getrennt sind. Es ist ein verdammtes und gefährliches Land. Oft sanken die Pferde bis zu den Knien ein, strauchelten und verfingen ihre Beine in den Wurzeln von Moorbuschwerk. Oft stürzten sie hin, so daß wir unter sie zu liegen kamen, Sattelteile zerbrachen und die Zügel zerrissen. Manchmal brachen wir sogar so tief ein, daß der Boden bis zu den Knien der Reiter reichte. Mein Pferd versank einmal mit der ganzen Brust und mit dem Kopf in dem roten flüssigen Schlamm. Danach stürzte das Pferd des Offiziers, so daß dieser seinen Kopf an einem Stein verletzte. Mein Begleiter beschädigte sein Knie an einem Baum. Auch einige der Soldaten stürzten und wurden verletzt.

Die Pferde atmeten schwer. Irgendwo ertönte das heisere und unheimliche Krächzen einer Krähe. Danach wurde die Straße noch schlechter. Die Wegspur ging weiter durch den Sumpf; aber überall war der Weg durch die Stümpfe von gefallenen Bäumen versperrt. Wenn die Pferde die Stümpfe übersprangen, landeten sie oft in tiefen Löchern und rannten sich darin fest. Wir und die Soldaten waren mit Blut und Schlamm bedeckt und in großer Furcht, unsere Tiere zur völligen Erschöpfung zu bringen. Einen großen Teil des Weges mußten wir absitzen und die Pferde führen. Schließlich gelangten wir in einen breiten Sumpf, der mit Buschwerk bedeckt und von Felsblöcken umrahmt war. Hier sanken nicht allein die Pferde, sondern auch die Reiter mit dem halben Körper in den scheinbar grundlosen Morast ein. Die ganze Oberfläche des Sumpfes bestand nur aus einem dünnen Torflager, das einen mit schwarzem, fauligem Wasser angefüllten See überdeckte. Als wir schließlich eingesehen hatten, daß wir unsere Kolonne auseinanderziehen und in großen Abständen marschieren müßten, fanden wir, daß wir uns auf der Oberfläche halten konnten, die unter den Tritten wie dünnes Eis schwankte und das Buschwerk hin- und herzittern ließ. Stellenweise wogte der Boden förmlich.

Plötzlich fielen drei Schüsse. Sie waren nicht lauter als Knalle von Flobertgewehren, aber es waren wirkliche Schüsse, denn der Offizier und zwei Soldaten stürzten zur Erde. Die anderen Soldaten griffen nach den Gewehren und sahen sich furchtsam nach dem Feinde um. Vier weitere Mann waren bald aus dem Sattel gebracht. Da bemerkte ich, wie der Kerl, der unsere Arrieregarde bildete, sein Gewehr erhob und gerade auf mich zielte. Mein Mauser war indessen schneller als sein Gewehr, so daß ich jetzt in meiner Erzählung fortfahren kann.

»Los!« rief ich meinem Freunde zu. Wir beteiligten uns nun am Schießen. Bald schwärmten überall auf dem Sumpf die Sojoten umher. Sie entkleideten die Gefallenen, teilten sich in die Beute und nahmen wieder von ihren Pferden Besitz.

Nach einer Stunde eines sehr schwierigen Weges hatten wir einen Hang zu ersteigen und kamen bald auf einem mit Bäumen bedeckten Hochplateau an.

»Eigentlich sind die Sojoten nicht gerade sehr friedliche Leute,« bemerkte ich, indem ich mich dem Gouverneur näherte.

Dieser warf mir einen scharfen Blick zu und erwiderte: »Es waren nicht Sojoten, die das Töten besorgten.«

Er hatte recht; denn es waren Abekantataren in Sojotenkleidern, die die Bolschewiki getötet hatten. Diese Tataren waren unterwegs, um ihre Vieh- und Pferdeherden aus Rußland hinaus durch Urianhai nach der Mongolei zu treiben. Ihr Führer und Unterhändler war ein kalmückischer Lamaist.

Am nächsten Morgen näherten wir uns einer kleinen Niederlassung russischer Kolonisten und bemerkten einige Reiter, die aus dem Wald hinausspähten. Einer unserer jungen und tapferen Tataren galoppierte im schnellsten Tempo auf die Leute im Walde zu, wendete aber bald wieder um und kehrte mit beruhigendem Lächeln zu uns zurück.

»Alles in Ordnung,« rief er lachend aus. »Immer weiter vorwärts.«

Wir setzten unsere Reise auf einer guten, breiten Straße fort, die an einem hohen hölzernen Gatter entlang führte, welches eine Matte umgab. Auf dieser weidete eine große Herde von Wapiti oder auch Izubr genannt, die die Russen ihrer Hörner wegen aufziehen. Denn diese Hörner haben im Zustand von Schößlingen großen Verkaufswert für tibetanische und chinesische Medizinhändler. Nachdem sie gekocht und getrocknet worden sind, werden sie Panti genannt und den Chinesen sehr teuer verkauft.

Wir wurden von den Kolonisten mit großer Furcht empfangen.

»Gott sei Dank,« rief unsere neue Wirtin aus. »Wir dachten ...« Dann brach sie ab und blickte ihren Gatten an.


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