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12. Kapitel.
Im Lande des ewigen Friedens

Die Bewohner von Urianhai, die Sojoten, sind stolz, echte Buddhisten zu sein und die reine Lehre des heiligen Rama und die tiefe Weisheit von Sakia-muni bewahrt zu haben. Sie sind seit ewig Feinde des Krieges und jeglichen Blutvergießens. Vor langer Zeit, im dreizehnten Jahrhundert, verließen sie lieber ihr Heimatland und suchten im Norden Zuflucht, als daß sie gekämpft hätten oder ein Teil des Reiches des blutigen Kaisers Dschingis Khan geworden wären, der diese wunderbaren Reiter und geschickten Bogenschützen gerne für seine Streitmacht gewonnen hätte. Dreimal in der Geschichte sind sie so in nördlicher Richtung gewandert, um Kampf zu vermeiden, und bis heute kann niemand sagen, daß er an den Händen von Sojoten Spuren menschlichen Blutes gesehen habe. Mit ihrer Friedensliebe bekämpfen die Sojoten die Kriegsübel. Sogar die strengen chinesischen Verwaltungsbeamten konnten in diesem Land des Friedens nicht ihre unbeugsamen Gesetze in vollem Maße zur Anwendung bringen. In derselben Weise verhielten sich die Sojoten gegenüber den Russen, die, nach Blut und Verbrechen dürstend, die Revolutionspest in ihr Land brachten. Sie vermieden beständig, mit roten Truppen und Parteigängern zusammenzustoßen, indem sie mit ihren Familien und ihrem Vieh nach den fern gelegenen Fürstentümern Kamtschik und Soldjak auswichen. Der östliche Arm dieses Abwanderungsstromes ging durch das Tal von Buret Hei. Infolgedessen überholten wir dort beständig Gruppen von Sojoten mit Vieh und Herden.

Wir kamen auf der sich windenden Buret Hei-Straße schnell vorwärts und begannen schon nach zwei Tagen den Anstieg zu dem Bergpaß zwischen den Tälern des Buret Hei und Kharga. Der Weg war nicht sehr steil, aber es lagen auch hier überall gefallene Lärchenbäume, und so unglaublich es klingen mag, befanden sich auch hier zahlreiche Sümpfe, durch die die Pferde nur schwer hindurchkamen.

Bald wurde die Straße, abermals über Kiesel und Geröll hinwegführend, das unter den Füßen unserer Pferde in den Abgrund am Wege hinabrutschte, von neuem gefährlich. Bei dem Ueberschreiten dieser Moräne, die offenbar durch Gletscher der Vorzeit hierher an die Bergseite geworfen worden war, wurden unsere Pferde schnell müde. Einige Male führte der Weg hart am Rande des Abgrundes vorbei, in den unter dem Tritt der Pferde große Mengen Steine und Sand hinabrollten. Ich erinnere mich, daß wir einen ganzen Berg bedeckt mit solchem beweglichen Sand zu passieren hatten. An diesem Berge mußten wir absitzen und unsere Pferde an den Zügeln führen, um zu Fuß etwa eine Meile weit über diesen gleitenden Boden zu stapfen. Dabei sanken wir wiederholt bis an die Knie ein und rutschten oft mit den Sandmassen dem Abgrund zu. Eine einzige ungeschickte Bewegung würde uns in den Abgrund gestürzt haben. Diesem Geschick verfiel eins unserer Pferde. Den Bauch tief in einer beweglichen Falle vergraben, konnte es sich nicht frei machen. So glitt es mit einer Sandmenge hinab und rollte über den Abgrund. Wir hörten nur das Brechen von Zweigen auf seinem Todeswege. Nur mit großer Mühe gelang es uns hinabzusteigen, um wenigstens Sattel und Satteltaschen zu retten.

Weiter wegaufwärts hatten wir eins unserer Packpferde aufzugeben, das uns von der nördlichen Grenze von Urianhai aus Dienste geleistet hatte. Zunächst versuchten wir es uns zu erhalten, indem wir ihm seine Last abnahmen, aber auch das half nichts. Es ließ sich nicht vorwärts treiben, sondern blieb mit gesenktem Kopf stehen und machte einen so erschöpften Eindruck, daß wir einsahen, daß es am Ende war. Einige Sojoten untersuchten es, befühlten seine Muskeln an den Vorder- und Hinterbeinen, nahmen seinen Kopf zwischen die Hände und bewegten ihn von einer Seite zur andern. Dann sagten sie:

»Dieses Pferd kann nicht weiter. Sein Gehirn ist ausgetrocknet.« So mußten wir es zurücklassen.

Am Abend dieses Tages erlebten wir einen wunderbaren Landschaftswechsel, als wir den Gipfel einer Höhe erreichten und uns auf einem breiten, mit Lärchen bedeckten Plateau befanden. Hier fanden wir die Jurten einiger Sojotenjäger, die aus Baumrinde anstatt wie gewöhnlich aus Filz gemacht waren. Aus den Zelten sprangen zehn mit Gewehren bewaffnete Männer auf uns zu. Sie teilten uns mit, daß der Fürst von Soldjak niemandem erlaube, diesen Weg zu passieren, da er fürchte, daß sonst Mörder und Räuber in sein Gebiet eindringen würden.

»Geht hin, woher Ihr gekommen seid,« rieten sie uns ängstlich blickend.

Ich selbst gab keine Antwort und verhinderte, daß es wegen der Sache zwischen einem alten Sojoten und einem meiner Offiziere zum Streite kam. Ich wies auf den kleinen Strom unten im Tal, der vor uns lag, und fragte, wie er heiße.

»Oina,« erwiderte der Sojot. »Das ist die Grenze unseres Fürstentums. Das Ueberschreiten ist verboten.«

»Sehr schön,« sagte ich. »Doch Ihr werdet uns erlauben, uns zu erwärmen und ein wenig auszuruhen.«

»Ja, ja,« riefen die gastlichen Sojoten und führten uns an ihr Lager.

Auf dem Wege dorthin benutzte ich die Gelegenheit, dem alten Sojoten eine Zigarette und einem anderen eine Schachtel Streichhölzer zu schenken. Wir gingen alle in einer Linie, ausgenommen ein Sojot, der langsam hinter uns herhinkte und seine Hand an der Nase hielt.

»Ist er krank?« fragte ich.

»Ja,« antwortete der alte Sojot traurig. »Das ist mein Sohn. Seit zwei Tagen verliert er Blut aus der Nase, und jetzt ist er ganz schwach.«

Ich stand still und rief den jungen Mann zu mir.

»Knöpfe Deinen Rock auf,« befahl ich. »Mach Hals und Brust bloß und beuge Deinen Kopf so weit zurück, wie Du kannst.« Während er dies tat, drückte ich einige Minuten lang auf die Schlagadern auf beiden Seiten des Kopfes. Dann sagte ich zu ihm:

»Jetzt wirst Du kein Nasenbluten mehr haben. Geh in Dein Zelt und leg' Dich eine Zeitlang hin.«

Die »mysteriöse« Handlung meiner Finger machte auf den Sojoten starken Eindruck. Der alte Sojot flüsterte furchtsam und ehrfurchtsvoll:

»Ta Lama, Ta Lama! (großer Doktor).« In der Jurte setzte uns der alte Sojot Tee vor, während er sich selbst über irgend etwas in tiefem Nachdenken befand. Darauf beriet er sich mit seinen Gefährten und teilte uns schließlich folgendes mit:

»Die Frau unseres Fürsten hat eine Augenkrankheit und ich glaube, der Fürst wird sich sehr freuen, wenn ich den »Ta Lama« zu ihm bringe. Er wird mich nicht deswegen bestrafen, denn er befahl nur, daß schlechten Leuten das Passieren der Grenze verboten werden solle. Dieser Befehl aber brauchte nicht gute Leute daran zu hindern, zu ihm zu kommen.«

»Tut, was Ihr für das Beste haltet,« erwiderte ich ziemlich gleichgültig. »In der Tat verstehe ich Augenkrankheiten zu behandeln; aber ich würde von hier umkehren, wenn Ihr es mich heißen würdet.«

»Aber nein,« rief der alte Mann erschreckt aus. »Ich selbst werde Sie führen.«

Am Feuer sitzend, steckte er sich die Pfeife mit einem Feuerstein an, rieb ihr Mundstück an seinem Aermel ab und bot sie mir dann nach echter Gastfreundschaft der Eingeborenen an. Ich benahm mich comme il faut und rauchte. Dann reichte ich die Pfeife an die anderen Mitglieder unserer Gesellschaft weiter, worauf alle von uns entweder eine Zigarette oder ein wenig Tabak oder einige Streichhölzer hergaben. So wurde die Freundschaft besiegelt. Bald drängten sich viele Leute in unsere Jurte, Männer, Frauen und Kinder, aber auch Hunde. Es war unmöglich, sich zu bewegen. Aus der Menge trat ein Lama mit glatt rasiertem Gesicht und kurz geschnittenem Haar, der das wehende rote Gewand seines Standes trug. Seine Kleidung und sein Gesichtsausdruck waren sehr verschieden von dem gewöhnlichen Eindruck, den die schmutzigen Sojoten mit ihren Zöpfen und ihren an den Spitzen mit Eichkatzschwänzen besetzten Filzkappen machten. Der Lama kam uns sehr freundlich entgegen und blickte gierig auf unsere goldenen Ringe und Uhren. Ich entschied mich, aus dieser Gier des Dieners Buddhas Nutzen zu ziehen. Ihm Tee und getrocknetes Brot reichend, gab ich ihm kund, daß ich Pferde kaufen müßte.

»Ich habe ein Pferd. Wollen Sie es von mir kaufen?« fragte er. »Doch ich nehme keine russischen Banknoten an. Wir wollen etwas dafür eintauschen.«

Lange mußte ich mit ihm handeln. Endlich erhielt ich für meinen goldenen Ehering einen Regenmantel und einen Ledersattel, ein schönes Sojotenroß, das das verlorene Packpferd ersetzen mußte, und außerdem noch eine junge Ziege.

Hier brachten wir die Nacht zu, nachdem man uns fettes Hammelfleisch vorgesetzt hatte.

Am nächsten Morgen traten wir unter der Führung des alten Sojoten den Vormarsch an, indem wir dem Wege folgten, der in dem von Bergen und Sümpfen freien Tale der Oina entlang führte. Wir wußten, daß das Pferd meines Freundes und mein eigenes Pferd, sowie noch drei andere Tiere zu erschöpft waren, um bis an den Kosogol gelangen zu können. Deshalb beschlossen wir, den Versuch zu machen, weitere Käufe in Soldjak abzuschließen. Bald stießen wir auf kleine Gruppen von Sojotenjurten, die von Rinder- und Pferdeherden umgeben waren. Endlich näherten wir uns der beweglichen Hauptstadt des Fürsten.

Unser Führer ritt voraus, um mit dem Stammesoberhaupt in Verhandlungen zu treten. Bevor er das tat, hatte er uns abermals versichert, daß der Fürst sich freuen würde, den Ta Lama zu begrüßen, aber, als er das sagte, recht ängstlich und besorgt ausgesehen. Nach kurzer Zeit traten wir in eine weite, mit niedrigem Gebüsch bedeckte Ebene ein. Unten am Ufer des Flusses sahen wir große Jurten, über denen gelbe und blaue Banner wehten. Wir errieten leicht, daß das der Sitz der Regierung war.

Bald kam unser Führer zu uns zurück. Sein ganzes Gesicht strahlte. Er winkte mit den Händen und rief:

»Der Noyon (Fürst) bittet Sie, zu kommen! Er freut sich sehr!«

So wurde ich gezwungen, mich aus einem Kriegsmann in einen Diplomaten zu verwandeln. Als wir uns der Jurte des Fürsten näherten, kamen uns zwei Beamte entgegen, die die spitz zulaufenden mongolischen Kappen mit Pfauenfedern trugen. Sehr respektvoll baten sie den fremden »Noyon«, in die Jurte einzutreten. Mein Freund, der Tatar, und ich traten ein. In der mit teurer Seide reich ausgestatteten Jurte fanden wir ein schwächliches, verhutzeltes altes Männchen mit glattrasiertem Gesicht und geschorenem Haar, das eine ebenfalls hochzugespitzte Biberpelzkappe mit roter Seidenquaste trug, über der ein dunkler roter Mandarinknopf mit darunter hervorströmenden langen Pfauenfedern befestigt war. Auf seiner Nase trug er eine große chinesische Brille. Er saß auf einem niedrigen Diwan, während seine Finger nervös nach den Perlen eines Rosenkranzes griffen. Dies war der Ta Lama, Fürst von Soldjak und Hohepriester des buddhistischen Tempels.

Er hieß uns herzlichst willkommen und forderte uns auf, an dem in einer kupfernen Pfanne brennenden Feuer Platz zu nehmen. Seine überraschend schöne Fürstin setzte uns Tee und chinesisches Konfekt vor. Wir rauchten Pfeifen, obgleich sich der Fürst als Lama nicht daran beteiligte. Doch kam er seiner Pflicht als Gastgeber nach, indem er die Pfeifen, die wir ihm anboten, immerhin bis an die Lippen führte und uns sein aus grünem Nephrit bestehendes Schnupftabakfläschchen reichte. Als so den Forderungen der Etikette entsprochen war, warteten wir ab, was uns der Fürst zu sagen hätte. Er erkundigte sich, ob unsere Reise vom Glück begleitet gewesen und was unsere weiteren Pläne seien. Ich redete ganz offen mit ihm und erbat seine Gastfreundschaft für unsere übrige Gesellschaft und für die Pferde. Er willigte sofort darein, indem er Befehl gab, für uns vier Jurten aufzurichten.

»Ich höre, daß der fremde Noyon ein guter Arzt ist,« sagte der Fürst.

»Ja, ich verstehe mich auf die Behandlung einiger Krankheiten und ich habe einige Medizinen bei mir,« erwiderte ich. »Doch ich bin kein Arzt. Ich bin ein Gelehrter in anderen Zweigen der Wissenschaft.«

Aber das verstand der Fürst nicht. Nach seiner simplen Anschauung mußte ein Mann, der sich auf die Behandlung von Krankheiten verstand, ein Arzt sein.

»Meine Frau hat seit zwei Monaten beständig mit den Augen zu tun,« teilte er mir mit. »Helfen Sie ihr.«

Ich ersuchte die Fürstin, mir ihre Augen zu zeigen, und stellte fest, daß sie an einer typischen Entzündung litt, die von dem beständigen Rauch in der Jurte und allgemeiner Unreinlichkeit herrührte. Der Tatar brachte meinen Medizinkasten herbei. Ich wusch ihre Augen mit Borwasser und tropfte ein wenig Kokain und eine schwache Lösung von Zinksulfat hinein.

»Bitte, heilen Sie mich,« bat die Fürstin. »Gehen Sie nicht von hier fort, bis Sie mich geheilt haben. Sie sollen von uns für sich und Ihre Gefährten Schafe, Milch und Mehl erhalten. Ich muß jetzt oft weinen, denn ich hatte früher sehr hübsche Augen und mein Gemahl pflegte zu mir zu sagen, daß sie wie Sterne leuchteten. Jetzt aber sind sie ganz rot. Das kann ich nicht ertragen. Das kann ich nicht ertragen!«

In kapriziöser Weise stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden und sagte, mich kokett anlächelnd: »Wollen Sie mich heilen? Wollen Sie?«

Charakter, Art und Weise lieblicher Frauen sind überall dieselben: auf dem glänzenden Broadway, an der stattlichen Themse, auf den lebhaften Boulevards des fröhlichen Paris und in der seidendrapierten Jurte der Sojotenfürstin hinter dem mit Lärchen bedeckten Tannu-Ola-Gebirge.

»Ich werde es gewiß versuchen,« versicherte der neue Augenarzt.

Wir brachten hier zehn Tage zu, immer von der Güte und Freundlichkeit der ganzen Fürstenfamilie umgeben. Die Augen der Fürstin, die vor acht Jahren den bereits alten Fürsten-Lama verführt hatten, waren wieder in Ordnung. Sie war außer sich vor Freude und ging selten von dem Spiegel fort.

Der Fürst gab mir fünf ziemlich gute Pferde, zehn Schafe und einen Sack mit Mehl, das wir sofort in Trockenbrot verwandelten. Mein Freund schenkte ihm eine Romanow-500-Rubelnote mit einem Bild Peters des Großen. Ich gab ihm einen Klumpen Gold, den ich in einem Strombett aufgelesen hatte. Der Fürst befahl einem seiner Sojoten, uns nach dem Kosogol zu führen. Die ganze Familie des Fürsten begleitete uns bis an das Kloster, das zehn Kilometer von der »Hauptstadt« entfernt war. Dem Kloster selbst statteten wir keinen Besuch ab, doch hielten wir bei dem »Dugun«, der dort befindlichen chinesischen Handelsniederlassung. Die chinesischen Kaufleute warfen uns feindliche Blicke zu, obgleich sie uns gleichzeitig alle möglichen Sachen anboten. Sie hatten es besonders darauf abgesehen, an uns einige ihrer runden Flaschen mit Maygolo oder süßem aus Anis gemachtem Branntwein loszuwerden. Da wir weder ungemünztes Silber noch chinesische Dollars bei uns hatten, blieb uns nichts übrig, als diese anziehenden Flaschen sehnsüchtig anzusehen, bis uns der Fürst zu Hilfe kam und den Chinesen befahl, fünf Flaschen in unsere Satteltaschen zu packen.


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