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10. Kapitel.
Die Schlacht am Seybi

Dauernde Gefahren entwickeln die Wachsamkeit und das Erkennungsvermögen des Menschen. Müde, wie wir waren, zogen wir weder unsere Kleider aus, noch sattelten wir unsere Pferde ab. Ich steckte meine Mauserpistole in den Rock und schickte mich an, umherzublicken und mir die hier anwesenden Leute anzusehen. Das erste Ding, das ich wahrnahm, war der Kolben eines Gewehres unter dem Berge von Kissen, der immer auf den großen Betten der Bauern zu finden ist. Danach bemerkte ich, daß die Angestellten unseres Gastfreundes beständig ein- und ausgingen, um Befehle von ihm zu empfangen. Sie hatten nicht das Aussehen von einfachen Bauern, obwohl sie lange Bärte trugen und sehr schmutzig gekleidet waren. Sie sahen mich mit sehr aufmerksamen Augen an und ließen mich und meinen Freund nicht mit dem Herrn des Hauses allein. Wir konnten die Sachlage nicht im geringsten verstehen. Dann aber kam der Sojotengouverneur herein und erklärte unserem Gastfreund, als er die Gezwungenheit der Lage erkannte, in der Sprache der Sojoten, was von uns zu berichten war.

»Entschuldigen Sie bitte,« sagte der Kolonist, »aber Sie wissen ja, daß es heutzutage unter zehntausend Menschen und Räubern nur einen ehrlichen Menschen gibt.«

Danach begannen wir frei zu plaudern. Unser Gastfreund hatte erfahren, daß eine Bande von Bolschewiki seine Besitzung auf der Suche nach Kosakenoffizieren, die in seinem Hause lebten, angreifen würde. Er hatte schon von der völligen Vernichtung eines Detachements gehört. Unsere Erzählung konnte indessen den alten Mann nicht völlig beruhigen, denn es war ihm zu Ohren gekommen, daß ein großes Detachement von Roten von der Grenze des Usinskibezirks im Anmarsch sei, um Tataren zu verfolgen, die versuchten, mit ihrem Vieh in südlicher Richtung nach der Mongolei zu entkommen.

»Wir erwarten sie jede Minute voller Sorge,« sagte unser Gastfreund zu mir. »Mein Sojot ist gerade gekommen und hat berichtet, daß die Roten bereits den Seybi überschreiten und die Tataren sich für den Kampf vorbereiten.«

Wir gingen sogleich hinaus, um unsere Sättel und Packtaschen nachzuprüfen. Dann nahmen wir unsere Pferde beim Zügel und versteckten sie in dem dicht dabei liegenden Gebüsch. Unsere Gewehre und Pistolen wurden fertig gemacht. So postierten wir uns an der Einzäunung, um auf unseren gemeinsamen Feind zu warten. Eine Stunde aufregenden Wartens verrann. Da kam einer der Arbeiter aus dem Gehölz herbeigelaufen und flüsterte:

»Sie durchqueren unseren Sumpf ... Das Gefecht hat begonnen.«

In der Tat ertönte, als Bestätigung seiner Worte, durch den Wald der Knall eines einzigen Gewehrschusses. Bald darauf entstand ein immer schärfer werdendes Geknatter von Gewehren verschiedener Art. Der Lärm kam dem Hause näher. Bald hörten wir den Aufschlag von Pferdehufen und die rohen Schreie der Soldaten. Plötzlich sprangen drei der Roten in das Haus, sie kamen von der Straße, wo sie jetzt aus zwei Richtungen von den Tataren bestrichen wurden. Sie fluchten wild. Einer von ihnen schoß auf unseren Gastfreund, der niederstürzte und auf die Knie hinfiel, als seine Hand nach dem Gewehr unter den Kissen greifen wollte.

»Wer seid Ihr?« schrie ein Soldat roh, indem er sich uns zuwandte und sein Gewehr erhob. Wir antworteten mit unseren Mausern und taten das erfolgreich, denn nur einer der Soldaten, der weiter zurück in der Nähe der Tür geblieben war, konnte entkommen, und das nur, um im Hofe in die Hände eines Arbeiters zu fallen, der ihn erwürgte. Der Kampf war im Gange. Die Roten hatten sich in dem Graben, der neben der Straße herlief, dreihundert Schritt von dem Hause entfernt niedergeworfen und erwiderten das Feuer der sie umzingelnden Tataren. Einige Soldaten liefen nach dem Hause, um ihren Kameraden zu helfen. Doch jetzt hörten wir eine regelrechte Salve der Arbeiter unseres Gastfreundes. Sie feuerten wie im Manöver, ruhig und genau. Fünf rote Soldaten blieben auf der Straße liegen, während sich die übrigen nun in ihrem Graben in Deckung hielten. Nach nicht langer Zeit stellten wir fest, daß sie nach dem Ende des Grabens krochen, das dem Walde, in dem sie ihre Pferde zurückgelassen hatten, am nächsten lag. Die Gewehrschüsse ertönten in immer größerer Entfernung. Bald sahen wir, daß fünfzig bis sechzig Tataren die Roten über die Matte verfolgten.

Zwei Tage ruhten wir hier am Seybi aus. Es zeigte sich, daß die Arbeiter unseres Gastfreundes, acht Mann an der Zahl, Offiziere waren, die sich vor den Bolschewiki verbargen. Sie erbaten Erlaubnis, uns begleiten zu dürfen, womit wir einverstanden waren.

So hatten mein Freund und ich, als wir die Reise fortsetzten, eine Bedeckung von acht bewaffneten Offizieren und drei Packpferde. Wir durchschritten ein schönes Tal, das zwischen den Flüssen Seybi und Ute gelegen ist. Ueberall sahen wir herrliche Weiden mit zahlreichen Herden. Aber in den zwei oder drei Häusern, die an der Straße lagen, konnten wir keinen lebenden Menschen finden. Alles hatte sich aus Furcht versteckt, als die Nachricht von dem Kampfe mit den Roten hierher gedrungen war. Am nächsten Tage erklommen wir die Hohe Daban genannte Bergkette. Dann überquerten wir ein weites, niedergebranntes Waldgebiet, wo unsere Wegspur an gestürzten Bäumen vorbeiführte. Darauf stiegen wir von neuem in ein Tal hinab, dessen Grund vor uns durch Geländefalten verborgen war. Dort hinter diesen Falten floß der Kleine Jenissei, der letzte große Fluß, bevor man die eigentliche Mongolei erreicht.

Ungefähr zehn Kilometer vom Fluß entfernt erspähten wir eine Rauchsäule, die aus dem Gehölz aufstieg. Zwei Offiziere gingen nach vorn auf Kundschaft aus. Lange war nichts von ihnen zu sehen. Da wir fürchteten, daß ihnen etwas zugestoßen sein könnte, bewegten wir uns vorsichtig auf den Rauch zu, stets bereit zu kämpfen, falls es nötig wäre. Schließlich kamen wir nahe genug heran, um die Stimmen vieler Menschen zu hören, unter ihnen das laute Lachen unserer Kundschafter.

Auf der Mitte einer Matte sahen wir ein großes Zelt mit zwei Lagerstätten aus Zweigen und drum herum eine Schar von fünfzig bis sechzig Männern. Als wir aus dem Walde heraustraten, liefen sie auf uns zu und bereiteten uns ein freudiges Willkommen. Wir waren auf ein großes Lager russischer Offiziere und Soldaten gestoßen, die nach ihrer Flucht aus Sibirien in den Häusern der russischen Kolonisten und reichen Bauern von Urianhai lebten.

»Was treiben Sie hier?« fragten wir überrascht.

»Oho, wissen Sie denn nichts von dem, was sich ereignet hat?« erwiderte ein ziemlich alter Mann, der sich Oberst Ostrowsky nannte. »In Urianhai ist von dem Militärkommissar der Befehl ergangen, alle mehr als achtundzwanzig Jahre alten Männer zu mobilisieren. Ueberall befinden sich jetzt Detachements dieser Parteigänger im Vormarsch auf die Stadt Belotzarsk. Sie berauben die Kolonisten und Bauern und töten jeden, der in ihre Hände fällt. Wir verbergen uns hier vor ihnen!«

Das ganze Lager verfügte nur über sechzehn Gewehre und drei Bomben, die einem Tataren gehörten, der mit seinem kalmückischen Führer zu seinen Herden in der westlichen Mongolei reiste. Wir erklärten den Zweck unserer Reise und unsere Absicht, durch die Mongolei hindurch nach dem nächsten Hafen am Stillen Ozean vorzudringen. Die Offiziere baten mich, sie mit hinauszunehmen. Ich willigte ein.

Unsere Kundschafter stellten auf dem weiteren Vormarsch fest, daß sich in der Nähe des Hauses des Bauern, der uns in einer Fähre über den Kleinen Jenissei zu setzen hatte, keine Parteigänger befanden. Wir bewegten uns so schnell wie möglich vorwärts, um baldigst die gefährliche Zone des Jenissei verlassen und in den jenseits davon gelegenen Wäldern untertauchen zu können. Es schneite. Doch der Schnee taute sofort wieder auf. Vor Einbruch des Abends begann ein kalter Nordwind zu wehen, der einen dünnen Nebel mit sich führte.

Spät in der Nacht langte unsere Gesellschaft am Flusse an. Der dort wohnende Kolonist hieß uns willkommen und erbot sich sogleich, uns überzusetzen und die Pferde hindurchschwimmen zu lassen, obgleich im Strome noch immer Eis trieb. Während unserer Unterhaltung war einer der Arbeiter des Kolonisten zugegen, ein rothaariger Kerl mit schielenden Augen. Er lief die ganze Zeit über auf und ab. Plötzlich verschwand er. Als unser Gastfreund das bemerkte, sagte er mit dem Ausdruck der Furcht in seiner Stimme:

»Er ist zum Dorfe gelaufen und wird die Parteigänger hierher bringen. Wir müssen sogleich übersetzen.«

Nun begann die fürchterlichste Nacht meiner ganzen Reise. Wir schlugen dem Kolonisten vor, er solle nur unsere Vorräte und Munition in das Boot nehmen, während wir unsere Pferde hindurchschwimmen lassen wollten, um so zu vermeiden, daß die Fähre mehrere Male hin- und herfahren müßte. Der Jenissei ist an dieser Stelle ungefähr dreihundert Meter breit. Die Strömung ist sehr stark, und das Ufer bricht plötzlich zur vollen Tiefe des Stromes ab. Die Nacht war absolut dunkel, nicht ein Stern am Himmel. Der Wind trieb uns mit scharfem Pfeifen Schnee entgegen und schnitt scharf in unsere Gesichter. Vor uns floß der Strom mit seinem schwarzen, reißenden Wasser, das dünne, tanzende, umhergewirbelte Eisblöcke hinabtrug.

Lange weigerte sich mein Pferd, das tiefe Ufer hinabzuspringen. Es schnaubte und bäumte sich auf. Mit aller Kraft hieb ich es mit der Peitsche über den Hals, bis es sich endlich mit einem mitleiderregenden Stöhnen in den kalten Strom hinabwarf. Wir sanken beide zunächst völlig unter, so daß ich mich kaum im Sattel halten konnte. Bald befand ich mich einige Meter von dem Ufer. Mein Pferd streckte bei seinen Anstrengungen Kopf und Hals weit nach vorne und schnaubte unaufhörlich. Ich fühlte jede seiner Bewegungen im Wasser und das Zittern seines Körpers unter mir. Schließlich gelangten wir in die Mitte des Stromes. Dort wurde die Strömung außerordentlich reißend. Sie begann uns mit hinabzuzerren. In der fürchterlichen Dunkelheit hörte ich die Rufe meiner Begleiter und das Stöhnen der Furcht und des Leidens der Pferde. Ich war bis an die Brust im Eiswasser. Einige Male trafen mich treibende Eisblöcke. Mehrmals schlossen sich die Wellen über meinem Kopfe. Ich hatte keine Zeit, mich umzublicken und die Kälte zu fühlen. Der animalische Wunsch, zu leben, hatte völlig von mir Besitz ergriffen. Ich war nur von dem Gedanken erfüllt, daß, wenn die Kraft meines Pferdes in diesem Kampfe mit dem Strome versagen würde, ich umkommen müßte. Meine ganze Aufmerksamkeit war deshalb auf die Anstrengungen des Tieres und seine bebende Furcht gerichtet. Plötzlich stöhnte es laut. Ich bemerkte, daß es zu sinken begann. Das Wasser ging offenbar bereits über seine Nüstern, denn stellenweise wurden die Zwischenräume zwischen seinem erschreckten Schnaufen länger. Ein großer Eisklotz schlug gegen seinen Schädel und brachte es zum Umdrehen, so daß es jetzt stromabwärts schwamm. Nur mit Mühe gelang es mir, es wieder in die Richtung auf das Ufer zurückzubringen. Doch fühlte ich, daß seine Kraft nahe am Ende war. Sein Kopf verschwand mehrere Male unter der wirbelnden Oberfläche. So hatte ich keine Wahl. Ich ließ mich vom Sattel hinabgleiten und schwamm, indem ich mich mit meiner linken Hand festhielt, mit meiner rechten Hand neben dem Tier, es durch häufige Anrufe ermutigend. Eine Zeitlang trieb es mit offenen Lippen und fest zusammengebissenen Zähnen. In seinen weit geöffneten Augen war unbeschreibliche Furcht zu lesen. Sobald ich aus dem Sattel war, hob es sich im Wasser und schwamm ruhiger und schneller.

Schließlich hörte ich unter den Hufen meines erschöpften Tieres Geröll. Und ähnlich wie ich gelangten, einer nach dem anderen, auch meine Gefährten an das Ufer. Die gut trainierten Pferde hatten alle ihre Reiter heil hinübergebracht. Viel weiter unterhalb landete unser Kolonist mit den Vorräten. Ohne einen Augenblick zu zögern, packten wir unsere Sachen auf die Pferde und setzten die Reise fort.

Der Wind wurde stärker und kälter. Bei Tagesgrauen wurde die Kälte außerordentlich scharf. Unsere durchnäßten Kleider gefroren und wurden so hart wie Leder. Unsere Zähne schlugen aufeinander. In unseren Augen stand das rote Feuer des Fiebers. Aber wir drängten weiter vorwärts, um so viel Raum wie möglich zwischen uns und die Parteigänger zu bringen. Nachdem wir ungefähr fünfzehn Kilometer im Walde zurückgelegt hatten, traten wir in ein offenes Tal ein, von dem aus das andere Ufer des Jenissei sichtbar war. Es war ungefähr acht Uhr in der Frühe. Auf der Straße am anderen Ufer wand sich eine schwarze, schlangenähnliche Linie von Reitern und Wagen. Wir stellten fest, daß dies eine Kolonne roter Soldaten mit ihrem Train war. Drum stiegen wir ab und verbargen uns im Gebüsch, um ihre Aufmerksamkeit nicht auf uns zu lenken.

Den ganzen Tag über setzten wir, während das Thermometer auf Nullpunkt stand, die Reise fort. Erst zur Nachtzeit machten wir Halt in einem Gebirge, das mit Lärchenwäldern bedeckt war. Dort entzündeten wir große Feuer, trockneten unsere Kleider und wärmten uns gründlich. Die hungrigen Pferde gingen nicht von den Feuern fort, sondern standen direkt hinter uns mit gesenkten Köpfen und schliefen. Früh am nächsten Morgen kamen Sojoten in unser Lager.

»Ulan?« (rot?) fragte einer von ihnen.

»Nein, nein,« rief unsere ganze Gesellschaft aus.

»Tzagan?« (weiß?) war die nächste Frage.

»Ja, ja,« sagte unser Tatar. »Sie sind alle Weiße.«

»Mendé! Mendé!« grunzten sie jetzt und begannen dann, nachdem sie Tee zu sich genommen hatten, uns äußerst wichtige Dinge zu erzählen.

Aus ihrem Bericht ergab sich, daß die roten Parteigänger von dem Tannu-Ola-Gebirge vorgestoßen waren und daß sie die ganze Grenze der Mongolei entlang Vorposten aufgestellt hatten, um die Bauern und Sojoten, die ihr Vieh wegzutreiben suchten, abzufangen. Demnach würde es jetzt unmöglich sein, das Tannu-Ola-Gebirge zu überschreiten.

Ich sah nur einen Ausweg: im sumpfigen Tal von Buret Hei vorzustoßen, um an das Südufer des Kosogolsees zu gelangen, der sich bereits im Gebiet der eigentlichen Mongolei befindet.

Die von den Sojoten überbrachten Nachrichten waren in der Tat sehr unangenehm. Bis zum ersten mongolischen Posten in Sampaltai war es nicht mehr als sechzig Meilen von unserem Lager, während die Entfernung nach Kosogol auf der kürzesten Linie zweihundertfünfundsiebzig Meilen betrug. Den Pferden, die mein Freund und ich ritten, konnte kaum diese weitere Anstrengung zugemutet werden, nachdem sie bereits mehr als sechshundert Meilen auf schlechten Straßen und ohne eigentliche Nahrung und Ruhe zurückgelegt hatten. Doch als ich die Lage überdachte und auch den Zustand meiner übrigen Reisegefährten in die Wagschale warf, entschloß ich mich, die Ueberschreitung des Tannu-Ola-Gebirges nicht zu versuchen. Denn meine Offiziere waren nervöse, moralisch gesunkene Männer, die schlecht bekleidet und schlecht bewaffnet waren. Die meisten von ihnen hatten sogar überhaupt keine Waffen. Ich weiß, daß es in einem Gefecht keine größere Gefahr gibt als diejenige, die von unbewaffneten Menschen ausgeht. Sie werden leicht zum Opfer einer Panik, verlieren den Kopf und stecken alle übrigen an. Deshalb beriet ich mich mit meinen Freunden, mit dem Ergebnis, daß wir beschlossen, nach Kosogol zu gehen. Unsere Gesellschaft willigte ein, uns zu folgen.

Nach dem Mittagessen, das aus Suppe mit großen Fleischstücken, trockenem Brot und Tee bestand, setzten wir uns in Bewegung. Etwa um zwei Uhr begannen die Berge sich vor uns zu erheben. Es waren die nordöstlichen Ausläufer des Tannu-Ola-Gebirges, hinter dem das Tal von Buret Hei lag.


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