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32. Kapitel.
Ein alter Wahrsager

Von nun ab reisten wir wieder auf der Ourtonstraße. In der Gegend, die wir jetzt durchquerten, waren die Pferde der Mongolen sehr schwache und erschöpfte Tiere; denn die Jurtenbewohner waren immer wieder gezwungen, für die zahlreichen Boten, die Daitschin Van und Kazagrandi aussandten, Pferde zu liefern. Wir mußten die Nacht auf dem letzten Ourton vor Van Kure zubringen, wo ein dicker, alter Mongole und sein Sohn Stationshalter waren. Nach dem Abendessen nahm der alte Mongole das Schulterblatt eines Schafes in die Hand, entfernte sorgfältig alle Fleischreste und legte es, indem er mich ansah, in das Feuer. Nachdem er einen Zauberspruch vor sich hingesagt hatte, erklärte er mir:

»Ich will Ihnen wahrsagen. Alle meine Prophezeiungen erfüllen sich.«

Als der Knochen ganz schwarz geworden war, zog er ihn aus dem Feuer, blies die Asche ab, untersuchte die Oberfläche genau und blickte durch das Knochenblatt in die Glut. Er setzte diese Untersuchung eine Zeitlang fort. Dann legte er mit dem Ausdruck der Furcht im Gesicht den Knochen zurück auf die Kohlen.

»Was haben Sie gesehen?« fragte ich lachend.

»Schweigen Sie!« flüsterte er. »Ich habe schreckliche Vorzeichen gefunden.«

Er nahm den Knochen von neuem aus dem Feuer und untersuchte ihn abermals von allen Seiten, indem er Gebete murmelte und sonderbare Bewegungen machte. Dann machte er mit feierlicher, ruhiger Stimme seine Prophezeiung:

»Der Tod in der Gestalt eines großen, weißen Mannes mit rotem Haar wird hinter Ihnen stehen und Sie aus nächster Nähe lange beobachten. Aber der Tod wird von Ihnen weichen ... Ein anderer weißer Mann wird zu Ihrem Freunde werden ... Vor dem vierten Tage werden Sie Ihre Bekannten verlieren. Diese werden durch ein langes Messer den Tod finden. Ich sehe sie bereits, wie sie von den Hunden gefressen werden. Nehmen Sie sich in acht vor dem Manne mit dem Kopf wie ein Sattel. Er wird nach Ihrem Tode trachten.«

Lange Zeit, nachdem mir diese Prophezeiung verkündet worden war, saßen wir noch rauchend und teetrinkend beisammen. Doch der alte Mann blickte mich immerfort mit dem Ausdruck der Furcht an. Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, daß in dieser Weise Gefängnisgefährten auf jemanden blicken müssen, der zum Tode verurteilt wurde.

Am nächsten Morgen verließen wir den Wahrsager, bevor die Sonne aufgegangen war. Nachdem wir ungefähr fünfzehn Meilen zurückgelegt hatten, kam Van Kure in Sicht.

Ich fand Oberst Kazagrandi in seinem Hauptquartier. Der Oberst war ein Mann von guter Familie, ein erfahrener Ingenieur und trefflicher Offizier, der sich im Kriege bei der Verteidigung der Insel Moon in der Ostsee und später im Kampf gegen die Bolschewiki an der Wolga ausgezeichnet hatte. Oberst Kazagrandi bot mir ein Bad in einer wirklichen Badewanne an, die ich in dem Hause des Präsidenten der Handelskammer von Van Kure aufgestellt fand. Als ich in diesem Hause war, trat ein großer junger Hauptmann ein. Er hatte langes, gelocktes, rotes Haar und ein ungewöhnlich weißes Gesicht. Seine Augen waren groß und kalt wie Stahl, seine Lippen schön, zart und geradezu mädchenhaft. Aber in den Augen lag so viel harte Grausamkeit, daß es unangenehm war, in dieses sonst schöne Gesicht zu blicken. Als er das Zimmer wieder verließ, sagte mir mein Gastfreund, daß es Hauptmann Weseloffsky, der Adjutant des Generals Rezukhin, sei, der im Norden der Mongolei gegen die Bolschewiki kämpfte. Der General und sein Adjutant seien gerade heute in Van Kure angekommen, um eine Konferenz mit Baron Ungern abzuhalten.

Nach dem Mittagessen forderte mich Oberst Kazagrandi auf, zu seiner Jurte zu kommen. Er erörterte dort mit mir die Lage in der Westmongolei, die sehr gespannt geworden war.

»Kennen Sie Dr. Gay?« fragte er mich. »Sie wissen, er half mir mein Detachement organisieren. Doch Urga klagt ihn an, ein Agent der Sowjets zu sein.«

Ich verteidigte Gay, so gut ich konnte. Er hatte mir ja geholfen und war außerdem von Koltschak von jeder Schuld freigesprochen worden.

»Ja, ja. Aehnliches habe auch ich zur Rechtfertigung Gays vorgebracht,« sagte der Oberst. »Aber Rezukhin hat Briefe von Gay an die Bolschewiki bei sich, die unterwegs aufgegriffen wurden. Auf Befehl Baron Ungerns ist Gay nebst Familie heute zum Hauptquartier Rezukhins gesandt worden, und ich fürchte, daß sie ihren Bestimmungsort nicht erreichen werden.«

»Wieso?« fragte ich.

»Man wird sie unterwegs hinrichten!« antwortete der Oberst.

»Was sollen wir tun, um das zu verhüten?« rief ich aus. »Gay kann kein Bolschewik sein. Er ist zu gut erzogen und zu klug dazu.«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht,« murmelte Oberst Kazagrandi mit verzagender Geste. »Versuchen Sie mit Rezukhin darüber zu sprechen.«

Ich beschloß, Rezukhin sofort aufzusuchen. Gerade in diesem Augenblick trat Oberst Philipoff ein und begann über die Fehler zu reden, die bei der Ausbildung der Soldaten gemacht werden. Als ich meinen Mantel angezogen hatte, kam ein weiterer Offizier in die Jurte. Dieser war ein kleiner Mann, hatte eine alte grüne Kosakenschildmütze auf und einen zerrissenen, grauen, mongolischen Mantel an. Er trug seine rechte Hand in einer Schlinge. Der Neuankömmling war General Rezukhin. Ich wurde ihm sogleich vorgestellt. Während der Unterhaltung erkundigte sich der General sehr höflich und geschickt nach dem Leben, das Philipoff und ich in den letzten drei Jahren geführt hatten. Er scherzte dabei und lachte diskret und bescheiden. Als er sich verabschiedete, benutzte ich die Gelegenheit, mit ihm hinauszugehen.

Als ich meine Einwände vorbrachte, hörte er mir sehr aufmerksam und höflich zu. Dann sagte er mit seiner ruhigen Stimme:

»Dr. Gay ist ein Agent der Sowjets, der vorgibt, ein Weißer zu sein, um auf diese Weise alles besser sehen, hören und erfahren zu können. Wir sind überall von Feinden umgeben. Das russische Volk ist demoralisiert. Der Russe wird jeden Verrat gegen Geld begehen. Ein solcher Mann ist Gay. Jedenfalls, was hat es noch für einen Zweck, seinen Fall zu erörtern? Er und seine Familie sind nicht mehr am Leben. Sie sind heute fünf Kilometer von hier entfernt von meinen Leuten in Stücke gehauen worden.«

Entsetzt sah ich in das Gesicht dieses kleinen, beweglichen Mannes, der eine so weiche Stimme und ein so höfliches Benehmen hatte. Da las ich in seinen Augen so viel Haß und Entschlossenheit, daß ich nun die zitternde Furcht begriff, die ich bei den Offizieren in seiner Gegenwart bemerkt hatte. Später erfuhr ich in Urga mehr über Rezukhin, der sich durch unbedingte Tapferkeit und seine grenzenlose Grausamkeit auszeichnete. Er war der Wachhund Baron Ungerns, jederzeit bereit, für seinen Führer durchs Feuer zu gehen, oder dem an die Kehle zu springen, den ihm sein Herr weisen mochte.

Es waren noch nicht vier Tage verstrichen, seit »meine Bekannten durch ein langes Messer den Tod fanden«, so daß also ein Teil der Prophezeiung des alten mongolischen Stationshalters bereits erfüllt war. Nun war die Reihe an mir, der Bedrohung durch den Tod ins Auge zu sehen. Ich brauchte nicht lange zu warten. Zwei Tage später traf der Chef der asiatischen Kavalleriedivision Baron Ungern v. Sternberg in Van Kure ein.


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