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16. Kapitel.
Im geheimnisvollen Tibet

Eine ziemlich breite Straße führte von Sharkhe aus durch die Berge. Am fünften Tage unserer von dem Kloster aus in südlicher Richtung gehenden, zweiwöchigen Reise traten wir in den großen Bergkessel ein, in dessen Mitte der große See Koko Nor liegt. Wenn Finland verdient, das »Land der zehntausend Seen« genannt zu werden, so kann dem Koko-Nor-Gebiet sicherlich ebensogut der Name »Land der Millionen Seen« gegeben werden.

Wir gingen zwischen dem westlichen Rande dieses Sees und Doulan Kitt vor, indem wir im Zickzack zwischen zahlreichen Sümpfen, Seen und kleinen, tiefen und schmutzigen Flüssen hinzogen. Das Wasser war hier eisfrei. Nur auf den Bergspitzen fühlten wir die kalten Winde in empfindlicher Weise. Selten trafen wir Eingeborene des Landes. Nur mit größter Mühe konnte unser Kalmück den Lauf des Weges von Schafhirten erfahren, die wir gelegentlich trafen. Von dem östlichen Ufer des Tassoun-Sees arbeiteten wir uns nach einem Kloster vor, das an dem anderen Seeufer lag. Dort machten wir eine kleine Ruhepause. Außer uns befand sich noch eine andere Gruppe von Gästen an dieser Stätte. Sie bestand aus Tibetanern, die äußerst unverschämt gegen uns waren. Sie weigerten sich, mit uns zu sprechen. Sie waren alle bewaffnet, meist mit russischen Militärgewehren, und hatten um den Oberkörper überkreuz je zwei Bandeliere von Patronen gezogen, während zwei, drei Pistolen und weitere Munition aus ihren Gürteln herauslugten. Sie beschäftigten sich so intensiv mit uns, daß es uns klar wurde, daß sie unsere Kampfstärke abschätzten. Nachdem sie uns am gleichen Tage verlassen hatten, befahl ich dem Kalmücken, sich beim Hohen Priester des Tempels genau danach zu erkundigen, was sie für Leute seien. Lange gab der Mönch ausweichende Antworten. Als ich ihm indessen den Ring des Hutuktu Narabantschi zeigte und ihm einen großen gelben Hatyk schenkte, wurde er mitteilsamer.

»Es sind schlechte Leute,« erklärte er. »Nehmt Euch vor ihnen in acht.«

Doch weigerte er sich, ihre Namen anzugeben. Er erklärte seine Weigerung mit dem buddhistischen Gesetz, das verbietet, daß jemand den Namen seines Vaters, Lehrers oder Führers ausspricht.

Später fand ich heraus, daß es sich hier in Nordtibet um dieselbe Sitte wie in Nordchina handelt. Hier wie dort ziehen Banden von Hunghutzen umher. Diese tauchen hin und wieder an den Hauptquartieren großer Handelsgesellschaften und in den Klöstern auf, verlangen Tribut und werden nach Erhebung ihres Zolls zu den Beschützern des Bezirks. Für dieses tibetanische Kloster war jene Räuberbande offenbar in genau der gleichen Weise zu Beschützern geworden.

Als wir unsere Reise fortsetzten, bemerkten wir wiederholt in weiter Entfernung, oft fern am Horizont, einzelne Reiter, die unsere Bewegungen genau zu beobachten schienen. Alle unsere Versuche, ihnen näherzukommen und mit ihnen in eine Unterhaltung zu treten, waren völlig vergeblich. Auf ihren geschwinden kleinen Pferden verschwanden sie wie Schatten.

Als wir den steilen und schwierigen Paß im Nan-Schan-Gebirge erreichten und uns anschickten, dort die Nacht zu verbringen, erschienen plötzlich auf einer hohen Bergkuppe zu unseren Häupten vierzig Reiter auf ganz weißen Pferden, die uns ohne jede Warnung mit einem Hagel von Geschossen überschütteten. Zwei unserer Offiziere stürzten aufschreiend zu Boden. Einer von ihnen war sofort tot, während der andere nur noch wenige Minuten lebte.

Ich erlaubte meinen Leuten nicht, das Feuer zu erwidern, sondern erhob eine weiße Flagge und ging mit dem Kalmücken nach vorne, um mit dem Feinde Verhandlungen zu beginnen. Zuerst gaben sie zwei Schüsse auf uns ab, aber dann stellten sie das Feuer ein und sandten eine Gruppe von Reitern von der Kuppe zu uns herab.

Wir begannen die Verhandlungen. Die Tibetaner erklärten, daß der Nan Schan ein heiliger Berg sei, daß man hier nicht die Nacht zubringen dürfe. Sie rieten uns weiterzugehen, dann würden wir uns in Sicherheit befinden. Sie fragten, woher wir kämen und was unser Ziel sei, und erklärten in Beantwortung unserer Mitteilungen über die Gründe unserer Reise, daß sie die Bolschewiki kennten und sie für die Befreier der Völker Asiens von dem Joche der weißen Rasse hielten. Da ich keinen politischen Streit mit ihnen zu haben wünschte, ging ich zu meinen Begleitern zurück. Als ich nach unserem Lager zurückritt, war ich darauf gefaßt, sofort eine Kugel in den Rücken zu erhalten, aber unsere tibetanischen Hunghutzen schossen nicht.

Wir zogen weiter, die Leichen zweier Kameraden als traurigen Wegzoll zurücklassend. Wir ritten die ganze Nacht hindurch. Unsere erschöpften Pferde wollten beständig anhalten und sich hinwerfen, aber wir zwangen sie immer wieder von neuem vorwärts.

Schließlich, als die Sonne bereits im Zenit stand, machten wir Halt. Ohne unsere Pferde abzusatteln, gaben wir ihnen Gelegenheit, ein wenig auszuruhen. Vor uns lag eine breite sumpfige Ebene, wo sich offenbar die Quellen des Flusses Ma-Tschu befanden. Nicht weit davon lag der See Aroung Nor.

Wir machten ein Feuer mit Viehdung und stellten Wasser für den Tee auf. Doch auch hier regneten abermals ohne Warnung Kugeln aus allen Richtungen auf uns nieder. Sofort suchten wir Deckung hinter Felsen, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Das Feuer wurde schneller und kam näher. Die Angreifer bildeten einen Kreis um uns herum, und der Geschoßhagel wurde immer dichter.

Wir waren in eine Falle geraten. Es schien uns nichts anderes übrig zu bleiben als umzukommen. Das stand klar vor unserem Bewußtsein.

Ich versuchte erneut zu verhandeln. Doch als ich mich mit meiner weißen Flagge aufrichtete, war die einzige Antwort ein stärkerer Hagel von Geschossen, von denen mich eins, von einem Felsen abspringend, unglücklicherweise am linken Bein traf und dort sitzen blieb. Ein anderer Reisegefährte wurde getötet.

Es blieb uns nichts anderes übrig: wir mußten kämpfen. Das Gefecht dauerte ungefähr zwei Stunden. Außer mir empfingen noch drei andere leichte Wunden. Wir leisteten Widerstand, so lange wir konnten.

Als die Hunghutzen näherkamen, wurde unsere Lage verzweifelt.

»Es bleibt uns keine Wahl,« sagte einer meiner Gefährten, ein sehr erfahrener Oberst, »wir müssen aufsitzen und ums Leben reiten ... irgendwohin.«

»Irgendwohin ...« Das war ein schreckliches Wort. Doch berieten wir nur einen Augenblick lang. Es war offenbar, daß, je weiter wir, mit dieser Bande von Halsabschneidern hinter uns her, in Tibet vordringen würden, unsere Aussichten, unser Leben zu retten, desto geringer wurden.

Wir beschlossen, nach der Mongolei zurückzukehren. Aber wie?

Das wußten wir nicht. So begannen wir unseren Rückzug. Immerfort schießend, ließen wir unsere Pferde, so schnell sie konnten, nach Norden traben. Drei weitere Gefährten fielen, einer nach dem anderen. Dort stürzte mein Tatar mit einer Kugel durch den Hals. Nach ihm sanken zwei junge, starke Offiziere mit Todesschreien aus den Sätteln, während ihre entsetzten Pferde in wilder Furcht über die Ebene durchgingen.

Diese Verluste ermutigten die Tibetaner. Eine Kugel schlug auf die Schnalle der Gamasche an meinem rechten Fuß und trieb sie gerade oberhalb des Knöchels mit Leder- und Tuchfetzen in mein Fleisch. Mein alter, vielerprobter Freund, der Agronom, schrie auf und griff mit der Hand nach der Schulter. Dann sah ich, wie er, so gut er konnte, seine blutende Stirn abrieb und verband. Einen Augenblick danach wurde unser Kalmück zweimal durch die Fläche derselben Hand geschossen, so daß sie völlig zerschmettert war.

Gerade in diesem Augenblick gingen fünfzehn der Hunghutzen zum Sturm auf uns vor.

»Gebt eine Salve auf sie ab,« kommandierte unser Oberst.

Sechs Räuber stürzten zu Boden. Zwei weitere Angreifer taumelten aus den Sätteln und liefen, so schnell sie konnten, hinter ihren sich nun zurückziehenden Gefährten her. Wenige Minuten später hörte das Feuern unserer Gegner auf. Jetzt erhoben sie eine weiße Flagge.

Zwei Reiter kamen auf uns zu. Die Verhandlung ergab, daß ihr Führer in die Brust getroffen war. Sie erbaten für ihn ärztliche Hilfe von uns.

Da sah ich sofort einen Hoffnungsstrahl. Ich nahm meinen Medizinkasten und ließ mich von meinem verwundeten Kalmücken, der stöhnte und fluchte, begleiten.

»Geben Sie diesem Teufel eine Dose Cyankali,« verlangten meine Gefährten.

Doch mir war ein anderer Plan gekommen.

Man brachte uns zu dem verwundeten Führer. Da lag er zwischen den Felsen auf Satteldecken. Man sagte uns, er sei ein Tibetaner. Aber ich erkannte sofort aus seinen Gesichtszügen, daß er ein Sarte oder Turkmene, vermutlich aus dem Südteil Turkestans, war. Er sah mich mit bittenden, furchtsamen Blicken an. Als ich ihn untersuchte, stellte ich fest, daß die Kugel von links nach rechts durch die Brust gegangen war, daß er viel Blut verloren hatte und sehr schwach war.

Sorgfältig tat ich alles, was ich für ihn tun konnte. Zunächst nahm ich Proben aller Medizinen, die ich bei ihm anwandte, auf meine eigene Zunge, sogar das Jodoform, um zu zeigen, daß sie kein Gift enthielten.

Ich reinigte die Wunde mit Jod, bespritzte sie mit Jodoform, dann verband ich sie. Darauf ordnete ich an, daß der verwundete Mann weder berührt noch bewegt werden dürfe, daß man ihn liegen lassen müsse, wo er sich befand. Ich zeigte einem Tibetaner, wie der Verband zu wechseln war, und ließ ihm medizinisch präparierte Watte, Verbandstoff und ein wenig Jodoform zurück. Dem Patienten, in dem das Fieber bereits arbeitete, gab ich eine große Dosis Aspirin, außerdem hinterlegte ich noch mehrere Tabletten Chinin.

Danach richtete ich durch meinen Kalmücken folgende feierliche Ansprache an die Umstehenden:

»Die Wunde ist recht gefährlich. Doch habe ich Eurem Führer sehr starke Medizin gegeben. Ich hoffe, daß er aufkommen wird. Eine Bedingung ist jedoch Voraussetzung: die bösen Geister, die als Strafe für diesen ungerechtfertigten Ueberfall auf uns unschuldige Reisende in ihn gefahren sind, werden ihn sofort töten, wenn noch ein Schuß auf uns abgegeben wird. Ihr dürft keine einzige Patrone in Euren Gewehren lassen.«

Nach diesen Worten befahl ich dem Kalmücken, sein Gewehr zu entladen, während ich gleichzeitig sämtliche Patronen aus meiner Mauserpistole nahm.

Die Tibetaner folgten sofort unterwürfig meinem Beispiel.

»Denkt an das, was ich Euch sagte: rührt Euch elf Tage und elf Nächte nicht von dieser Stelle und ladet Eure Gewehre nicht. Sonst wird der Dämon des Todes Euren Führer hinwegnehmen und Euch verfolgen.«

Nach diesen Worten ging ich feierlich fort und schwang über ihre Köpfe den Ring des Hutuktu Narabantschi.

Ich kehrte zu meinen Gefährten zurück und bemühte mich, sie zu beruhigen. Ich sagte ihnen, daß wir vor weiteren Angriffen sicher seien und nun auf gut Glück versuchen müßten, den Weg nach der Mongolei zu finden. Unsere Pferde waren so erschöpft und abgemagert, daß wir unsere Mäntel an ihrem Knochengerüst hätten aufhängen können.

An der Stätte des Ueberfalls brachten wir noch zwei Tage zu, die ich dazu benutzte, meinen Patienten wiederholt aufzusuchen. Diese Ruhepause gab uns auch Gelegenheit, unsere eigenen, glücklicherweise leichten Wunden zu verbinden und etwas Erholung zu finden. Unglücklicherweise stand mir nur ein Klappmesser zum Herausschneiden der Kugel aus meiner linken Wade zur Verfügung.

Nachdem wir uns bei den Räubern nach den Karawanenstraßen erkundigt hatten, gelang es uns leicht, eine der Hauptstraßen zu erreichen. Dort hatten wir das Glück, auf die Karawane des jungen mongolischen Fürsten Pounzig zu stoßen, der sich in heiliger Mission befand, denn er trug eine Botschaft von dem »Lebenden Buddha« in Urga an den Dalai Lama in Lassa. Der Fürst half uns beim Einkaufen von Pferden, Kamelen und Nahrungsmitteln.

Da wir unsere Waffen und Vorräte gegen Tiere und Nahrungsmittel ausgetauscht hatten, kehrten wir gänzlich ausgeplündert nach dem Narabantschi-Kloster zurück. Dort hieß uns der Hutuktu willkommen.

»Ich wußte, daß Ihr wiederkehren würdet,« sagte er. »Die Götter enthüllten es mir.«

Sechs unserer Leute waren in Tibet als ewiger Wegzoll für unseren Vorstoß nach dem Süden geblieben. Nur zwölf von uns kehrten zum Kloster zurück.

Im Kloster brachten wir zwei Wochen zu, um uns wieder in Ordnung zu bringen und um ausfindig zu machen, in welche neue Richtung uns die Ereignisse auf dem bewegten Meer des Schicksals werfen würden.

Die Offiziere traten einem Detachement bei, das damals in der Mongolei gegen die Bolschewiki, die Zerstörer Rußlands, gebildet wurde. Mein ursprünglicher Begleiter und ich aber bereiteten uns für eine Reise über die mongolischen Ebenen vor, ohne Scheu vor den Abenteuern und Gefahren, die uns auch dort auf unserer Suche nach einer Zufluchtsstätte begegnen könnten.

Und nun, nach diesen Szenen eines so aufreibenden, mir für immer lebendig im Gedächtnis stehenden Marsches möchte ich diese Kapitel meinem alten erprobten Freunde, dem Agronom, meinen russischen Reisegefährten und besonders dem geheiligten Gedächtnis meiner Begleiter widmen, deren Leichen am Fuße der Berge von Tibet ruhen: dem Obersten Ostrowsky, den Hauptleuten Zuboff und Turoff, dem Leutnant Pisarjewsky, dem Kosaken Vernigora und dem Tataren Mahomed Spirin. Ich möchte auch an dieser Stelle meinen tiefen Dank aussprechen für die Hilfe und Freundschaft, die mir von dem Fürsten von Soldjak, dem Noyon und Ta Lama, und dem Kampo Gelong des Narabantschi-Klosters, dem ehrenwerten Jelip Djamsrap Hutuktu, gewährt wurden.


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