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18. Kapitel.
Der geheimnisvolle Lama-Rächer

Nach der zweitägigen Reise, die uns bei Schnee und scharfer Kälte über 170 Meilen weit gebracht hatte, genossen wir die Ruhe in der Jurte. Bei dem aus saftigem Hammelfleisch bestehenden Abendmahl unterhielten wir uns frei und sorglos, als wir plötzlich eine tiefe rauhe Stimme hörten:

»Sayn – guten Abend!«

Wir wandten uns von dem Feuerbecken zur Tür und sahen einen mittelgroßen, stark untersetzten Mongolen, der einen Mantel aus Hirschfell und eine Kappe mit Seitenklappen trug. In seinem Gürtel stak dasselbe große Messer in grüner Scheide, das wir bei dem wegeilenden Reiter gesehen hatten.

»Amour sayn,« erwiderten wir.

Er knüpfte geschwind seinen Gürtel auf und legte seinen Mantel zur Seite. Nun erschien er vor uns in wunderbarem Gewand aus gelber Seide, das wie Gold glänzte. Sein glattrasiertes Gesicht, sein geschorenes Haar, sein Rosenkranz aus roten Korallen an der linken Hand und sein gelbes Kleid bewiesen klar, daß ein hoher Lamapriester vor uns stand, – ein Lamapriester mit einem großen Totschläger, der unter einer blauen Schärpe versteckt war! Ich wandte mich nach unserem Gastfreund und meinem mongolischen Führer Tzeren und sah auf ihren Gesichtern Furcht und Verehrung. Der Fremde trat an das Feuerbecken und setzte sich nieder.

»Wir wollen russisch sprechen,« sagte er, indem er ein Stück Fleisch in den Mund schob.

Die Unterhaltung begann. Der Fremde hatte einiges an der Regierung des Lebenden Buddhas in Urga auszusetzen.

»Dort drüben befreien sie die Mongolei, erobern sie Urga, schlagen sie die chinesische Armee und hier im Westen hören wir nichts davon. Hier geschieht nichts, während die Chinesen unser Volk erschlagen und bestehlen. Nach meiner Ansicht hätte Bogdo Khan Mitteilung hierher schicken sollen. Warum können die Chinesen Boten von Urga und Kjachta nach Kobdo senden, die für sie Hilfe erbitten, warum kann aber die mongolische Regierung das nicht tun? Warum?«

»Werden die Chinesen Hilfstruppen nach Urga senden?« fragte ich.

Unser Gast sagte mit heiserem Lachen: »Ich habe alle Boten abgefangen, ihnen ihre Briefe abgenommen und sie dann zurück ... ins Grab geschickt.«

Er lachte von neuem und blickte mit Augen um sich, die einen besonderen Glanz hatten. Erst jetzt entdeckte ich, daß seine Backenknochen und Augen Linien zeigten, die man im allgemeinen bei den Mongolen Mittelasiens nicht findet. Er sah mehr wie ein Tatar oder Kirgise aus.

Wir schwiegen und rauchten unsere Pfeifen.

»Wann wird das Detachement von Tschahars von Uliassutai aufbrechen?« fragte er.

Wir entgegneten, daß wir noch nichts davon gehört hätten, worauf uns unser Gast erklärte, daß die chinesischen Behörden in der inneren Mongolei ein starkes Detachement der kriegstüchtigen Tschahars mobilisiert hätten, eines Stammes, der seine Wandergründe nicht weit von der Großen Mauer hat. Sein Haupt sei ein bekannter Hunghutze, der von der chinesischen Regierung für das Versprechen, daß er den chinesischen Behörden alle Stämme in den Bezirken von Kobdo und Urianhai unterwerfen werde, den Hauptmannsrang erhalten habe.

Als unser Gast Ziel und Zweck unserer Reise erfuhr, sagte er, er könne uns die genauesten Nachrichten geben und so unsere Weiterreise unnötig machen.

»Außerdem ist es sehr gefährlich,« fügte er hinzu, »denn die Bevölkerung von Kobdo wird niedergemetzelt und die Stadt verbrannt werden. Ich weiß das positiv.«

Als er von unserem mißglückten Versuch, durch Tibet vorzudringen, hörte, lauschte er mit großer Aufmerksamkeit und Sympathie:

»Nur ich allein hätte Ihnen dabei helfen können, aber niemals der Narabantschi Hutuktu. Mit einem laissez-passer von mir hätten Sie sich in Tibet überallhin begeben können. Ich bin Tushegoun Lama.«

Tushegoun Lama! Wie viele außerordentliche Erzählungen hatte ich schon über diesen Mann gehört. Er ist ein russischer Kalmück, der infolge der Propaganda, die er für die Unabhängigkeit des Volks der Kalmücken trieb, zur Regierungszeit des Zaren die Bekanntschaft vieler russischer Gefängnisse machen mußte, und der aus demselben Grunde von den Bolschewiki verfolgt wurde. Er entkam nach der Mongolei und erlangte hier sofort großen Einfluß unter den Mongolen. Das war kein Wunder; denn er ist ein enger Freund und Jünger des Dalai Lama in Potala (Lassa) und der gebildetste aller Lamaisten, ein berühmter Heilkundiger und Doktor. In seinem Verhältnis zu dem »Lebenden Buddha« nahm er eine fast unabhängige Stellung ein. Er wurde zum Führer aller Nomadenstämme der Westmongolei und Tsungarei, ja sein Einfluß reichte sogar bis nach Turkestan. Seine Macht beruhte auf seinem großen Wissen in den Dingen des Mysteriums, wie er sich ausdrückte. Aber sie hatte auch, wie man mir sagte, zum großen Teil ihren Grund in der panikartigen Furcht, die er den Mongolen einzuflößen verstand. Wer seinen Befehlen nicht gehorchte, kam um. Der Ungehorsame konnte niemals Tag und Stunde wissen, wann der strafende Lama, der merkwürdige und mächtige Freund des Dalai Lama, auftauchen würde. Ein Messerstich, eine Kugel oder ein Griff an die Kehle waren der kurze Prozeß, mit dem der Wundertäter strafte.

Außerhalb der Jurte heulte der Wind und trieb den gefrorenen Schnee gegen die scharf gespannte Filzumwandung. Durch das Geheul des Windes drang der Lärm mehrerer Stimmen, Schreien und Gelächter herein. Ich fühlte, daß es in dieser Umgebung nicht schwer sein würde, einen herumziehenden Nomaden an Wunder glauben zu machen; denn die Natur selbst trug dazu bei. Dieser Gedanke war kaum in mir aufgestiegen, als der Tushegoun Lama plötzlich sein Haupt erhob, mich scharf ansah und zu mir sagte:

»Es gibt in der Natur so manches, was wir nicht kennen, und die Fähigkeit, das Unbekannte anzuwenden, läßt das Wunder entstehen. Aber diese Fähigkeit ist nur wenigen gegeben. Das will ich Ihnen beweisen und Sie sollen mir nachher sagen, ob Sie schon gesehen haben, was ich Ihnen zeigen werde.«

Er stand auf, streifte die Aermel seines gelben Gewandes in die Höhe, ergriff sein Messer und schritt zu dem Schafhirten hinüber.

»Mischik, steh auf!« befahl er.

Als der Hirte aufgestanden war, knöpfte der Lama schnell den Rock des Mannes auf und entblößte dessen Brust. Ich konnte noch nicht verstehen, was er vorhatte, als der Tushegoun plötzlich mit aller Kraft sein Messer in die Brust des Hirten hineinstieß. Der Mongole stürzte zu Boden, den ganzen Körper mit Blut bedeckt. Auf dem gelben Seidengewande des Lamas nahm ich einen Blutspritzer wahr.

»Was haben Sie getan?« rief ich aus.

»Pst, ruhig,« flüsterte er, indem er mir ein völlig weiß gewordenes Gesicht zuwandte.

Mit wenigen Messerschnitten öffnete er die Brust des Mongolen. Ich sah die langsam atmende Lunge des Hirten, die Bewegungen seines Herzens. Der Lama rührte diese Organe mit seinem Finger an, doch schien kein Blut mehr zu fließen, auch war das Gesicht des Hirten vollkommen ruhig. Er lag mit geschlossenen Augen da und schien sich in tiefem Schlaf zu befinden. Als der Lama sich anschickte, den Leib des Hirten zu öffnen, schloß ich meine Augen vor Furcht und Entsetzen. Als ich sie kurz danach wieder ein wenig öffnete, war ich noch mehr verwundert, denn ich sah, daß der Hirt immer noch mit offenem Rock, aber heiler Brust dalag und sich in ruhigem Schlafe befand, während der Tushegoun Lama am Feuer saß, seine Pfeife rauchte und tief in Gedanken in die Flammen starrte.

»Das ist wunderbar,« bekannte ich. »Ich habe niemals dergleichen gesehen.«

»Wovon reden Sie?« fragte der Kalmück.

»Von Ihrem Wunder – wie Sie es nennen,« erwiderte ich.

»Ich habe es niemals so genannt,« verwies mich der Kalmück mit kaltem Ausdruck in seiner Stimme.

»Haben Sie es gesehen?« fragte ich meinen Begleiter.

»Was?« fragte dieser schläfrig.

Ich verstand, daß ich zum Opfer der hypnotischen Kraft des Tushegoun Lama geworden war. Doch war mir das lieber, als einen unschuldigen Mongolen sterben zu sehen. Denn ich hatte nicht geglaubt, daß der Tushegoun Lama die Körper seiner Opfer ebenso schnell zusammenflicken könne, wie er sie sicherlich aufschneiden konnte.

Am nächsten Tage verabschiedeten wir uns von unseren Gastfreunden. Wir beschlossen zurückzukehren, da unsere Mission erfüllt war.

Der Tushegoun Lama erklärte uns, daß er überall sei. Er wandere durch die ganze Mongolei, lebe bald in der alleinstehenden, einfachen Jurte des Hirten und Jägers, bald in den prächtigen Zelten der Fürsten und Stammeshäuptlinge.

Als sich dieser kalmückische Zaubermeister von uns trennte, sagte er mit schlauem Lächeln:

»Sagen Sie den chinesischen Behörden nichts über mich.«

Dann fügte er hinzu: »Was Sie gestern Abend erlebt haben, war nur eine flüchtige Demonstration. Ihr Europäer wollt nicht erkennen, daß wir unaufgeklärten Nomaden die Kräfte des geheimen Wissens besitzen. Wenn Sie nur die Wunder und die Macht des Heiligsten Taschi Lama erblicken könnten, auf dessen Befehl sich z. B. die Lampen und Lichter vor der alten Statue Buddhas entzünden, dann würden Sie anders denken. Aber es gibt noch einen mächtigeren und heiligeren Mann ...«

»Das ist der König der Welt in Agharti?« unterbrach ich ihn.

Er starrte mich in großer Verwunderung an. »Haben Sie von ihm gehört?« fragte er, indem er die Stirn gedankenvoll runzelte.

Nach wenigen Sekunden sagte er: »Nur ein Mann kennt seinen heiligen Namen, nur ein jetzt lebender Mann ist jemals in Agharti gewesen. Das bin ich. Das ist der Grund, warum der Heiligste Dalai Lama mich ausgezeichnet hat und warum mich der »Lebende Buddha« in Urga fürchtet. Doch ich werde niemals auf dem Heiligen Thron des höchsten Priesters in Lassa sitzen, noch werde ich die Würde erreichen, die von Dschingis Khan, dem Haupt der gelben Lehre, hinterlassen wurde. Ich bin kein Mönch, ich bin ein Krieger und Rächer.«

Geschickt sprang er in den Sattel, peitschte sein Pferd und flog davon, nachdem er den gewöhnlichen mongolischen Abschiedsgruß: »Sayn! Sayn – bayna!« gesagt hatte.

Auf dem Rückwege erzählte uns Tzeren Hunderte von Legenden, die die Person des Tushegoun Lama umgeben. Eine Geschichte ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Es war im Jahre 1911 oder 1912, als die Mongolen mit bewaffneter Hand versuchten, ihre Freiheit von den Chinesen zu erkämpfen. Das chinesische Hauptquartier der Westmongolei befand sich in Kobdo, wo ungefähr zehntausend chinesische Soldaten unter Führung der besten chinesischen Offiziere lagen. Der Befehl, Kobdo einzunehmen, wurde an Hun Boldon erteilt, einen einfachen Hirten, der sich in Kämpfen mit den Chinesen ausgezeichnet und vom »Lebenden Buddha« den Titel eines Fürsten von Hun erhalten hatte. Mit wilder, furchtloser Entschlossenheit hatte Boldon, der eine riesige Kraft besaß, mehrere Male seine schlecht bewaffneten Mongolen zum Sturm vorgeführt. Doch war er jedesmal gezwungen worden, sich zurückzuziehen, nachdem er durch Maschinengewehrfeuer große Verluste erlitten hatte. Unerwartet erschien Tushegoun Lama. Dieser ließ die mongolischen Soldaten um sich herumtreten und hielt ihnen folgende Ansprache:

»Ihr müßt den Tod nicht fürchten und dürft nicht zurückweichen. Ihr kämpft und sterbt für die Mongolei, der die Götter eine große Zukunft bestimmt haben. Seht, was das Geschick der Mongolei sein wird.«

Er wies mit der Hand in die Ferne. Die Soldaten sahen, daß alles Land um sie herum mit reichen Jurten und Weidegründen bedeckt war, auf denen zahllose Herden von Pferden und Rindvieh grasten. Auf den Ebenen erschienen viele Reiter auf Rossen mit kostbaren Sätteln. Die Frauen trugen Gewänder aus prächtigster Seide, hatten massive Silberringe in ihren Ohren und wertvollen Schmuck im Haar. Chinesische Kaufleute brachten eine endlose Karawane zu einem vornehm aussehenden mongolischen Sait heran, der von bunt gekleideten Soldaten umgeben war und mit den Kaufleuten mit stolzer Gebärde wegen des Ankaufs der Waren verhandelte.

Kurz danach verschwand die Vision. Tushegoun sprach:

»Fürchtet den Tod nicht. Er ist die Erlösung aus unseren Mühen auf Erden und der Pfad zu den ewigen Segnungen. Seht nach Osten. Erblickt Ihr Eure in früheren Schlachten gefallenen Brüder und Freunde?«

»Ja, wir sehen sie, wir sehen sie,« riefen die mongolischen Krieger in höchster Verzückung; denn sie erblickten eine große Gruppe von Wohnungen, die Jurten oder Bogengänge von Tempeln sein mochten, die von warmem, freundlichem Licht umspielt waren. Diese Wohnungen waren mit roter und gelber Seide bedeckt, überall glänzten Pfeiler und Wände in goldenem Scheine. Auf dem großen roten Altar brannten Opferkerzen in goldenen Kandelabern. Auf weichen Kissen ruhten am Boden Mongolen, die bei den früheren Angriffen auf Kobdo gefallen waren. Vor ihnen standen niedrige Lacktische, die mit vielen dampfenden Fleischgerichten, mit hohen, Wein und Tee enthaltenden Gefäßen, mit Kuchen, getrocknetem Käse, Datteln, Rosinen und Nüssen bedeckt waren. Die gefallenen Soldaten rauchten goldene Pfeifen und plauderten fröhlich miteinander.

Auch diese Vision verschwand. Vor den in die Luft starrenden Mongolen stand der mysteriöse Kalmück mit erhobener Hand.

»Hinein in die Schlacht, keine Rückkehr ohne Sieg! Ich bin im Kampfe bei Euch.«

Der Sturm begann. Die Mongolen kämpften mit wütendem Mut, fielen zu Hunderten, aber eroberten Kobdo. Dann wiederholte sich der seit langer Zeit nicht mehr dagewesene Vorgang: die Zerstörung einer Stadt durch Tatarenhorden. Hun Boldon gab das traditionelle Zeichen zur Plünderung, indem er drei mit roten Bändern versehene Speere pyramidenförmig zusammengesetzt über seinem Haupte tragen ließ. Dadurch lieferte er die Stadt den Soldaten für die Dauer von drei Tagen aus. Mord und Plünderung. Alle Chinesen fanden den Tod. Die Stadt wurde verbrannt, die Mauern der Festung geschleift. Danach kam Hun Boldon auch nach Uliassutai, um auch dort die chinesische Festung zu zerstören. Als Zeugen dieses Ereignisses sind heute die Ruinen zu sehen, die zertrümmerten Mauern und Türme, nackt in die Luft ragende Tore und die Reste der verbrannten chinesischen Amtsgebäude und Kasernen von Uliassutai.


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