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2. Kapitel.
Das Geheimnis meines Reisebegleiters

Beim dämmernden Morgen wachten wir auf, um alsbald diesen meinen ersten Zufluchtsort hinter uns zu lassen. In die Satteltaschen wurde unser persönlicher Besitz gepackt und dann auf einem der Sättel befestigt. »Wir müssen vier- bis fünfhundert Werst reiten,« kündigte mein Reisebegleiter ganz gemütlich an.

Er hieß Iwan, ein Name, der für mich in Rußland, wo jeder zweite Mann diesen Namen trägt, nichts bedeutete.

»Also werden wir sehr lange Zeit zu reisen haben,« bemerkte ich im Tone des Bedauerns.

»Vielleicht eine Woche, vielleicht weniger,« antwortete er.

Die erste Nacht verbrachten wir im Walde unter freiem Himmel. Wie viele derartige Nächte waren mir noch in den anderthalb Jahren meiner Wanderungen bestimmt! Am Tage hatte scharfe Kälte geherrscht. Unter den Hufen der Pferde knirschte der gefrorene Schnee. Die Ballen, die von den Hufen losbrachen, rollten über die gefrorene Kruste und klirrten wie brechendes Glas. Birkhühner flogen in fauler Trägheit von den Bäumen. Hasen sprangen gemächlich das Sommerbett von Strömen hinunter. In der Nacht begann der Wind zu seufzen und zu pfeifen und bog die Wipfel der Bäume über unseren Häuptern zusammen. Doch unter den Bäumen herrschte Windstille und Ruhe.

Wir rasteten in einer tiefen Schlucht, die von wuchtigen Bäumen eingerahmt war. Dort fanden wir gestürzte Tannen, die wir für das Feuer in Klötze spalteten. Nachdem wir Tee gekocht hatten, nahmen wir die Mahlzeit ein.

Iwan schleppte zwei Baumstämme herbei, kantete sie an einer Seite mit seiner Axt ab und legte sie mit den abgekanteten Seiten aufeinander. Dann trieb er einen großen Keil an den Enden ein, der die Stämme drei oder vier Zoll auseinanderschob. Darauf legten wir Holzkohle in diese Oeffnung und beobachteten, wie das Feuer schnell die ganze Länge der abgekanteten Seiten uns gegenüber entlang lief.

»So werden wir noch am Morgen Feuer haben,« kündigte Iwan an. »Das ist die Naida der Goldsucher. Wir Goldsucher, die wir zur Sommer- und Winterzeit in den Wäldern wandern, schlafen immer neben einer Naida. Feine Sache. Das werden Sie selber sehen,« fuhr er fort.

Er schnitt Tannenzweige ab und stellte aus ihnen ein abfallendes Dach her, das er auf zwei Pfosten ruhen ließ, und zwar der Naida entgegen. Ueber unserem Astdach und unserer Naida breiteten sich die Zweige der schützenden Tannen. Iwan schleppte weitere Zweige herbei und legte sie auf den Schnee unter dem Dach. Diese bedeckten wir mit den Satteldecken. So entstand ein Lager, auf dem Iwan sich niederlassen und seine Ueberkleider bis zur Bluse ablegen konnte. Bald entdeckte ich, daß auf seiner Stirn Schweißtropfen standen. Er trocknete sie und seinen Nacken mit den Aermeln.

»Jetzt ist es nett warm,« rief er aus.

Nach kurzer Zeit war auch ich gezwungen, meinen Mantel auszuziehen. Ich legte mich bald ohne irgendwelche Bedeckung zum Schlafen hin. Während durch die Zweige der Tannen und unseres Daches die kalten, klaren Sterne schimmerten und jenseits der Naida schmerzende Kälte herrschte, waren wir hier gemütlich geschützt. Nach dieser Nacht fürchtete ich die Kälte nicht mehr. Am Tage im Sattel gründlich durchgefroren, ließ ich mich in der Nacht tüchtig von der freundlichen Naida erwärmen, ruhte ohne meinen schweren Mantel, indem ich lediglich mit meiner Bluse bekleidet unter dem Dach von Fichten und Tannen saß und den immer willkommenen Tee schlürfte.

Auf unseren Tageswanderungen erzählte mir Iwan seine Wandererlebnisse, die er in den Bergen und Wäldern von Transbaikalien auf der Suche nach Gold gehabt hatte. Diese Erzählungen bildeten eine lebendige Reihe von spannenden Abenteuern, Gefahren und Kämpfen. Iwan war der Typus der Goldsucher, die in Rußland und vielleicht auch in anderen Ländern die reichsten Goldminen entdecken und dabei selber Bettler bleiben. Er vermied mir zu erzählen, warum er Transbaikalien verlassen hatte und nach dem Jenissei gekommen war. Ich entnahm aus seinem Verhalten, daß er diese Sache für sich behalten wollte, und drängte ihn nicht. Indessen wurde der Schleier, der über diesem geheimnisvollen Teil seines Lebens lag, eines Tages ganz zufällig ein wenig gelüftet.

Wir befanden uns nahe am Ziel unserer Reise. Den ganzen Tag über waren wir nur mit Schwierigkeit durch ein Weidendickicht vorwärtsgekommen, indem wir uns dem Ufer des großen rechten Nebenflusses des Jenissei, der Mana, näherten. Ueberall sahen wir hartgefrorene Spuren von Hasen, die in dem Gestrüpp lebten. Diese kleinen weißen Waldbewohner liefen kreuz und quer vor uns her. Ein andermal erblickten wir den roten Schwanz eines Fuchses. Reinecke hatte sich hinter einem Felsen versteckt und beobachtete uns und die arglosen Hasen zu gleicher Zeit.

Iwan hatte eine lange Weile geschwiegen. Dann begann er zu reden. Er erzählte mir, daß nicht weit von hier ein kleiner Arm der Mana liege, an dessen Mündung sich eine Hütte befinde.

»Was sagen Sie? Wollen wir nicht dorthin vordringen oder sollen wir wieder die Nacht an der Naida verbringen?«

Ich schlug vor, bis zu der Hütte zu gehen, da ich mich zu waschen wünschte, und da es mir angenehm schien, wieder einmal eine Nacht unter einem wirklichen Dache zu verbringen. Iwan zog die Augenbrauen zusammen, gab aber nach.

Es wurde bereits dunkel, als wir uns einer Hütte näherten, die von dichtem Wald und Himbeergestrüpp umgeben war. Sie umfaßte einen kleinen Raum mit zwei winzigen Fenstern und einem riesigen russischen Ofen. An das Gebäude lehnten sich die Ueberbleibsel eines Schuppens mit Keller.

Iwan trank aus der von den Soldaten geerbten Flasche und wurde nach kurzer Zeit recht gesprächig. Seine Augen glänzten, seine Hände fuhren häufig und schnell durch seine langen Locken. Er erzählte mir die Geschichte eines seiner Abenteuer, hielt aber plötzlich inne, Furcht in den Augen, die in eine dunkle Ecke schielten.

»Ist dort eine Ratte?« fragte ich.

Er wurde von neuem schweigsam und dachte mit zusammengezogenen Brauen nach. Da wir häufig lange Stunden hindurch zu schweigen pflegten, erstaunte mich dieses Benehmen nicht. Auf einmal beugte sich Iwan zu mir herüber und flüsterte:

»Ich möchte Ihnen eine alte Geschichte erzählen. Ich hatte einen Freund in Transbaikalien. Er war ein Sträfling. Sein Name war Gavronsky. Durch viele Wälder, über viele Berge sind wir zusammen auf der Suche nach Gold gewandert. Wir waren übereingekommen, daß jeder an den Funden gleichen Anteil haben sollte. Doch plötzlich ging Gavronsky nach der Taiga am Jenissei fort und verschwand. Nach fünf Jahren hörten wir, daß er eine sehr ergiebige Goldmine gefunden hatte und ein reicher Mann geworden war. Dann sind er und mit ihm seine Frau später ermordet worden ...« Iwan schwieg einen Augenblick lang. Dann fuhr er fort:

»Dies ist ihre alte Hütte. Hier lebte er mit seiner Frau, und irgendwo am Fluß fand er das Gold. Aber er sagte niemandem wo. Alle in der Umgebung lebenden Bauern wissen, daß er eine Menge Geld auf der Bank und daß er Gold an die Regierung verkauft hatte. Hier wurden sie ermordet ...«

Iwan schritt zu dem Ofen, nahm ein brennendes Scheit Holz heraus und beleuchtete eine Stelle des Bodens, indem er sich nach vorn beugte.

»Sehen Sie diese Flecken auf dem Boden und an der Wand? Es ist ihr Blut, das Blut von Gavronsky. Sie starben, doch sie verrieten das Goldlager nicht. Das Gold war aus einem tiefen Loch genommen worden, das sie in das Flußufer getrieben hatten, und in dem Keller unter dem Schuppen versteckt. Doch Gavronsky gab nichts her ... Und großer Gott, wie habe ich ihn gefoltert! Ich habe sie mit Feuer gebrannt, ich habe ihre Finger umgebogen, ich habe ihre Augen mit den Fingern herausgedrückt. Doch Gavronsky starb schweigend.«

Er dachte einen Augenblick lang nach. Dann sagte er schnell zu mir:

»Alles dies habe ich von den Bauern gehört.« Iwan warf das Holzstück wieder in den Ofen und sank auf die Bank nieder. »Es ist Schlafenszeit,« stieß er hervor und wurde still.

Ich lauschte lange Zeit dem Geräusch seines Atems und einem Geflüster, das er mit sich selber führte, während er sich von einer Seite auf die andere warf und seine Pfeife rauchte.

Am Morgen verließen wir diese Stätte so schlimmen Leidens und Verbrechens.

Am siebenten Tage unserer Reise kamen wir in einen dichten Zedernwald, der an den Vorbergen einer langen Bergkette gelegen ist.

»Von hier,« so erklärte mir Iwan, »sind es achtzig Werst bis zur nächsten Bauernniederlassung. Das Volk kommt nach diesen Wäldern, um Zedernzapfen zu sammeln. Doch geschieht das nur im Herbst. Vor dieser Jahreszeit werden Sie also niemanden treffen. Sie werden auch viele Vögel und Tiere und reichen Vorrat von Nüssen finden, so daß Sie hier leben können. Sehen Sie diesen Fluß. Wenn Sie zu den Bauern gelangen wollen, dann müssen Sie dem Strome folgen, er wird Sie zu ihnen bringen.«

Iwan half mir eine Lehmhütte bauen. Doch war es keine richtige Lehmhütte, sondern eine Hütte, die entstand, indem wir zunächst das Wurzelwerk einer großen, wahrscheinlich in irgendeinem wilden Sturm gestürzten Zeder herauszogen. So bildete sich ein tiefer Raum, der das Zimmer meines Hauses ausmachte und auf einer Seite durch eine Lehmmauer geschützt wurde, die die umgedrehten Wurzeln hielten. Ueberhängende Wurzeln bildeten zugleich ein Gerüst, in das wir Stöcke und Zweige schoben. So wurde ein Dach hergestellt, das schließlich, um es festzuhalten, mit Steinen und zur Abwehr gegen die Kälte mit Schnee bedeckt wurde. Die Frontseite der Hütte blieb offen, war jedoch ständig durch die Naida geschützt.

In dieser schneebedeckten Hütte verbrachte ich zwei Monate, als wenn Sommer wäre. Ohne irgendein anderes menschliches Geschöpf zu sehen und ohne mit der übrigen von wichtigen Ereignissen erschütterten Welt in Berührung zu kommen, lebte ich hier in diesem Grab unter den Wurzeln des gestürzten Baumes im Angesicht der Natur und nur die schweren Sorgen um das Schicksal meiner Familie waren mir ständige Begleiter.

Iwan verließ mich am nächsten Tage. Er überließ mir einen Sack mit getrocknetem Brot und ein wenig Zucker. Ich habe ihn niemals wiedergesehen.


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