Friedrich Nicolai
Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker
Friedrich Nicolai

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Vierter Abschnitt.

Nachdem Mariane, beinahe eine halbe Meile lang, so geschwind sie konnte, gelaufen war, mußte sie sich endlich, aus Mangel des Athems, ohnweit der Landstrasse, niedersetzen. Als sie sich ein wenig erholet hatte, fieng sie an, ihren Zustand zu überdenken. Sie war in einer unbekannten Gegend, von jedermann verlassen, und mußte befürchten, ihrem Nachsteller, der sie vermuthlich verfolgen laßen würde, wieder in die Hände zu gerathen. Als sie indessen in ihrer Tasche ihr Geld wiederfand, so verzweifelte sie nicht, Mittel zu finden, sich geschwinder zu entfernen, und da eben ein Bauerwagen vorbey fuhr, welcher in ein einige Meilen entlegenes Dorf gehörte, setzte sie sich auf denselben und ließ sich unverzüglich weiter bringen. Sie fuhr auf diese Art, beynahe ohne auszuruhen, von Dorfe zu Dorfe fort, in der Absicht des Freyherrn v. D*** Güter zu erreichen. Indessen, da sie selbst den Weg dahin nicht recht wußte, und niemand als Bauern darum fragen konnte, deren Kenntniß sich gemeiniglich nicht weiter als einige Tagereisen in die Runde erstrecket, so ward sie anstatt ins Hildesheimische, tief in Westphalen hineingefahren. Nachdem sie so acht Tage lang fortgereiset war, fieng ein eingefallnes Regenwetter an, ihr beschwerlich zu werden, da sie ganz leicht bekleidet war. Indessen bestand sie doch darauf, weiter zu reisen, bis sie ein Platzregen und Ungewitter nöthigte, in einem im Walde stehenden einzelnen Hause einzukehren. Der Regen hörte den ganzen Tag nicht auf, der Bauer wollte nicht warten, weil er den andern Tag einen Hofedienst zu thun hatte, und da sie von dem Bewohner des Hauses, welcher, weil er in seiner Jugend Soldat gewesen, die Gegend weit und breit kannte, auf ihre Erkundigung nach dem Wege, vernahm, daß sie sehr weit von dem Hildesheimischen entfernt sey; so entschloß sie sich kurz, den Bauer abzulehnen, und bis zur Besserung des Wetters in diesem Hause zu bleiben.

Das Haus war von einem Greise, seiner Frau und seiner Tochter bewohnt, die sich theils vom Spinnen, der gewöhnlichen Winternahrung der Westphälischen Hausleute, erhielten, theils die Milch einer Kuh, und die Früchte eines Krautgartens verzehrten, der durch ihren eignen Fleiß war urbar gemacht worden. Der alte Hauswirth verband mit der treuherzigen Ehrlichkeit eines Landmanns, die Weltkenntniß, die lange Feldzüge gewähren. Er hatte mit seinem Gutsherrn, der sein Oberster gewesen war, alle Gefahren der Feldzüge in Braband getheilt, und war ihm in allen Vorfällen so treu und ergeben gewesen, daß der Gutsherr, aus edler Dankbarkeit, das Schicksal seines alten Kriegskammeraden zu verbessern suchte. Als der Mann alt ward, ward der Hof dessen Sohne übergeben, und er auf LeibzuchtLeibzucht, heist in Westphalen die Wohnung eines vom Hofe abgegangenen Bauers. gesetzt. Der Markenherr gab ihm aber nicht allein aus der Mark einen beträchtlichen Zuschlag, und gab ihm seine Tochter, von Hofediensten frey, mit auf die Leibzucht, sondern er ließ ihm auch in einem angenehmen SundernEin Sundern heist in Westphalen ein beträchtliches Gehölz, welches in Absicht der Viehweide offen, aber was das Holz betrifft, davon gesondert, oder einem Herrn zuständig ist. S. Mösers patriotische Phantasien 2 Th. S. 493. ein eignes bequemeres Haus, mit einem Schornstein bauen, so daß sich der Leibzüchter, nicht, wie seine Nachbarn, mit seinen Schinken zugleich, räuchern durfte. Dabey hatte er, unter seinem Strohdache, eine besondere abgeschlagene Kammer, welche eigentlich diente, seinen Wintervorrath zu verwahren, jetzt aber Marianen zur Schlafkammer angewiesen ward.

Sie genoß darinn nach einer ungewohnt langen Reise die erste Nacht eine süße Ruhe. Sie stand des Morgens erquickt auf, das Wetter hatte sich aufgeklärt, sie sah aus dem Fenster das Wäldchen im schönsten Laube, und hinter demselben grünende Wiesen. Als sie herunter kam, ward sie von den Hausleuten mit ländlicher Gastfreundschaft empfangen. Nach dem Frühstücke spazierte sie in der umliegenden Gegend, wo sie die Natur in aller ihrer Schönheit fand. Sie irrte auf einem Fußsteige, der, zwischen dichten Büschen, zu einem kleinen grünbewachsenen Hügel führte, neben dem sich ein klarer Bach schlängelte. Diese Gegend schien ihr ungemein reizend. Sie bestieg den kleinen Hügel, von welchem sie in dem Wäldchen umherschauen konnte, und in der Ferne die Aussicht auf wallende Kornfelder hatte. Hier überlegte sie ihren Zustand, sie sahe, daß sie von dem Zwecke ihrer Reise weit entfernt war, daß sie, wenn sie auch wieder zurückreisen wollte, nicht gewiß wissen könnte, in welchen Gesinnungen sie den Herrn von D*** finden möchte, daß sie vielleicht von ohngefehr dem Obersten in die Hände fallen könnte u. d. m. Dagegen schien ihr dieser Winkel der Erde, ganz paradiesisch zu seyn. Es dünkte also ihrem ohnedieß etwas zum romantischen geneigten Geiste das zuträglichste, wenn es möglich wäre, in diesem Aufenthalte der Ruhe und der Unschuld, von der ganzen Welt abgesondert zu leben.

Sie entdeckte ihren Vorsatz ihren Wirthsleuten, welche sich denselben wohl gefallen ließen, falls sie mit ihrem Hauswesen, so wie es war, vorlieb nehmen wollte. Mariane war vielmehr entzückt darüber. Ihr Wirth, mit seinem ehrwürdigen schneeweißen Haupte, und mit seiner ungekünstelten Aufrichtigkeit, schien ihr, mit seiner redlichen Hausfrau, ein Philemon und Baucis, das Häuschen ein Tempel, und die Gegend eine arkadische Flur zu seyn. Alles verschönerte sich in ihren Augen. Wenn sie mit Spinnen und andern häuslichen Arbeiten einen Tag zubrachte, einen andern, mit Besorgung der Milchkammer, oder einmahl ihr eigen Gerücht pflücken und in den Topf werfen konnte, glaubte sie, aus dem Prunke eines verderbten Zeitalters, zur Einfalt und auch zur Unschuld der ersten Welt, zurückgekehret zu seyn. Und wenn sie des Abends, mit der Tochter ihres Wirthes, einem guten Mädchen, nach dem Hügel spazierte, oder sich mit ihr am Rande des Bachs ins Gras setzte, schien sie sich zu den Nymphen Dianens zu gehören, und wenn sie sang, welches oft geschah, schienen ihr die Hamadryaden aus dem Walde von fern zu antworten.

Wahr ists inzwischen, daß diese reizenden Vorstellungen, wie mehrere poetische Phantasien, ins gemeine Leben gebracht, nicht allzulange Stich hielten, und daß, nach einem Monate, die gute Mariane ihre Einbildungskraft schon anstrengen mußte, wenn sie in das seelenvolle Gefühl übergehen wollte, das ihr sonst so natürlich schien. Als aber vollends der späte Herbst die Blätter streifte, und der Nordwind mit ungestümem Brausen, jeden Schritt außer dem Hause verwehrte, sank Philemon in ihrer Idee wirklich zu einem gemeinen Bauer herab, und Baucis zu einer westphälischen Hausmutter, die auch wohl, wenn ihr in der Haushaltung nicht alles nach Sinne gieng, schelten und schmollen konnte. Der Tempel ward wieder eine enge und unbequeme Hütte, in welcher die harte Kost, so sehr sie der Einfalt unschuldiger Hirtenvölker gemäß war, doch nicht schmecken wollte. Ja, Mariane hat nachher ganz natürlich gestanden, daß sie ihrer phantasiereichen Vorstellungen ungeachtet, dennoch zuweilen, bey einem patriarchalischen Milchbrey in einer hölzernen Satte, nach einem wohlfiltrirten Kaffee in meisnischer Schaale, lüstern gewesen sey.

In den ersten Tagen dieser ländlichen Einsamkeit, hatte sie sich, in liebliche Ideen von arkadischer Unschuld versenkt, bereden wollen, daß ihr Herz von Liebe frey sey. Aber eben diese kleinen empfindsamen Schwärmeleyen, öfneten es jedem süßen Eindrucke. Sie lebte die vorigen glücklichen Zeiten in Gedanken noch einmahl, sie erinnerte sich ihres Säuglings ehrerbietiger, zärtlicher, inbrünstiger Gesinnungen, sie besann sich, wie er sich ihrer bey einer schimpflichen Beleidigung angenommen habe. Dann machte sie sich Vorwürfe, daß sie ihm, wider ihre Neigung, so kalt begegnet habe, sie konnte nun nicht begreifen, wie sie ihr Herz vor ihm nicht habe ausgießen können.

Diese Erinnerung war, als im Winter, durch lange Weile und Widerwillen, ihr Geist täglich mehr zu erschlaffen begann, ihr einziger Trost. Sie wiegte sich in dem Gedanken, daß Säugling sie wirklich noch liebe, daß sie noch einst mit ihm vereinigt und glücklich seyn werde. Sie maß seinen Schmerz von ihr entfernt zu seyn, nach dem ihrigen ab, und fand oft Wollust darinn, wenn sie, indem sie ihren eigenen Schmerz beweinte, den Schmerz ihres Geliebten zu beweinen glaubte.

Als der Frühling wieder kam, und alle ihre Empfindungen heitrer wurden, drangen die zärtlichen Gefühle mit jedem Frühlingshauche tiefer in ihre Brust. Säuglings Bild spiegelte sich ihr in jedem hervorgrünenden Blatte, in jeder entfalteten Knospe. Bey ihren einsamen Spaziergängen nach dem Bächlein, begleitete es sie. Dann saß sie in wonnetrunknem Staunen, dann glaubte sie es zu umfassen, dann sprang sie auf, und erröthete vor ihrem eigenem Phantome. Dann wandelte sie am Ufer herab, und sang Lieder, die er auf sie gemacht hatte, zu dem Falle des kleinen Stroms, der über glatte Kiesel herabrieselte, und indem er sich ausbreitete, den grünenden Wiesengrund, zu Entsprossung neuer Blumen befeuchtete.

Mit diesen anmuthsreichen Phantasien verband sie auch Betrachtungen über ihren gegenwärtigen Zustand. Sie sahe ein, es sey ihr unmöglich, noch einen Winter in diesem Hause zuzubringen, gleichwohl sahe sie auch kein Mittel, wie sie auf eine anständige Art, ihre Lage verändern könnte. Sie schien sich einzeln, von aller Welt verlaßen zu seyn, besonders, nachdem sie auf einen Brief an Hieronymus schon seit ein paar Monaten keine Antwort erhalten hatte, vermuthlich weil er nicht zu handen gekommen war. Da nunmehr ihre Liebe zu Säuglingen sich ihrer ganzen Seele bemächtigte, und sich das Verlangen, auch von seinen Gesinnungen gegen sie unterrichtet zu seyn, in ihre innersten Gedanken einflocht; so entschloß sie sich endlich, nach vielem vergeblichen Zaudern, ihm, nach Wesel, wohin sie wußte, daß er mit Rambolden hatte reisen sollen, ihren Aufenthalt zu melden.

Der Entwurf dieses Briefs kostete verschiedene Tage, denn sie hatte sich fest vorgenommen, alle Merkmale der Liebe daraus wegzuwischen, und blos als ein unglückliches Frauenzimmer zu schreiben, das sich, weil sie von jedermann verlaßen ist, an einen edelmüthigen Jüngling wenden muß. Dennoch hatte sie die Spuren ihrer Leidenschaft nicht ganz auslöschen können, denn die Liebe, wie ein süsser Geruch, duftet unvermerkt um sich. Säugling, dessen Empfindungen den ihrigen so sehr entsprachen, würde auch gewiß mit unnennbarer Wollust gefühlet haben, was in ihrer Seele war, wenn er so glücklich gewesen wäre, diesen Brief zu erhalten. Der Brief ward vom Postamte zu Wesel, nach seines Vaters Gute, gesendet, und war eben derselbe, den Rambold erst aus Schäkerey beysteckte, nachher aus Zerstreuung las, und da er daraus Marianens Aufenthalt ersahe, nicht einen Augenblick säumen wollte, zu ihr zu eilen, denn der Ort ihres Aufenthalts war in der That nicht eine Meile entlegen.

Rambold that, als ob ihn ein ungefährer Zufall dahin geführt hätte, und hütete sich wohl, von dem gelesenen Briefe etwas zu erwähnen. Mariane verwunderte und freuete sich, ihn zu sehen, weil sie von ihm, Nachricht von ihrem Säugling zu empfangen hoffte. Aber er schwieg, und da sie endlich mit einigen Umschweifen nach demselben fragte, nahm er eine betrübte Mine an, und versicherte sie, weil ihm eben nichts anders einfiel, daß Säugling gestorben sey. Diese Nachricht setzte Marianen außer sich. Rambold war zwar sehr bemüht, sie zu bereden, daß sie sich dessen Tod nicht gar zu sehr zu Sinne ziehen möchte, weil Säugling ein Häschen gewesen, der allen Frauenzimmern Süßigkeiten vorgesagt hätte; aber, bey Marianen wollten diese leidigen Trostgründe keinen Eingang finden, daher kürzte er seinen Besuch ab, und ritt wieder nach Hause.

Er unterließ aber doch nicht, oft wieder zu kommen, und ward von Marianen, die nunmehr in beständiger Traurigkeit lebte, gern gesehen, weil er sie an Säuglingen erinnerte, von welchem er ihr, auf ihre Fragen, allerhand Mährchen erzählte, welche, so unbeträchtlich sie waren, doch in Marianens zum Trauren gestimmter Einbildungskraft, ein mitleidiges Wohlgefallen erregten.

Der Herr von Haberwald merkte Rambolds öftere Abwesenheit, und unterließ nicht, ihn darüber zu hohnnecken. Rambold mußte endlich gestehen, daß er ein hübsches Mädchen besuchte, welches er zu seiner Frau machen würde, wenn er eine Versorgung hätte. Der Herr von Haberwald spitzte hierüber die Ohren, und bestand darauf, daß er ihn mitnehmen sollte. Dieß geschah, und weil Rambold dem Herrn von Haberwald einen Wink gegeben hatte, daß er klug seyn sollte, so wuste er sich so ehrbar zu betragen, daß Mariane an beider Aufführung nichts auszusetzen haben konnte.

Als sie zurückkamen, so wurde, nachdem, bey einigen Flaschen Wein, Marianens Schönheit von beiden Theilen war gepriesen worden, von dem Hrn. von Haberwald die weise Anmerkung gemacht, daß eine hübsche Frau Pastorinn in einem Kirchspiele eine nützliche Sache wäre. Durch diese Aeußerung ward eine kleine Unterhandlung eröfnet, die, wenn sie weitläufig auf dem Papiere beschrieben werden sollte, Lesern von feinen Empfindungen, niederträchtig und widerwärtig scheinen könnte, die aber, im Laufe der Welt, unter manchen Leuten ohne Bedenken statt findet, eben, weil sie keine feine Empfindungen haben. Das Resultat derselben war, daß der Herr von Haberwald feierlich versprach: sobald Rambold von Marianen das Jawort erhalten hätte, sollte er die Adjunktur des abgelebten Pfarrers, mit einem bestimmten Gehalte, bekommen.

Rambold warb nun im Ernste um sie. Mariane gab ihm zwar eine ausdrückliche abschlägige Antwort, und brachte, in ihrem Herzen, dem Andenken ihres Säuglings dieses Opfer. Indessen wiederholte Rambold, obgleich ohne Hofnung einiges Erfolgs, so oft einen Antrag, über den, an sich, ein junges lediges Frauenzimmer niemals zornig wird, wenn er nicht gerade zu wider ihre Absichten streitet; daß ihn Mariane mit einiger Nachsicht anhörte. Die Heldinn eines Romans, hätte freylich eine unverletzte Beständigkeit an den Tag legen, und sich eher tödten laßen müssen, als sich einem Gegenstände zu ergeben, für den sie nicht die heißeste Liebe fühlte. Aber im gemeinen Leben haben wir häufige Beyspiele, daß wohlgezogene Frauenzimmer, wenn sie gleich zur brünstigsten Leidenschaft in sich Zunder fühlten, dennoch, selbst nicht in so mißlicher Lage wie Mariane, mit kalter Vernunft überlegt haben, was vieles junge Volk nicht wissen will, daß Liebe nicht ewig in gleicher Anspannung dauren kann, und daß neben der Liebe, so wünschenswerth sie ist, dennoch noch mehr Gegenstände in der Welt sind, edlen Seelen auch wünschenswerth. Da nun Rambold von Person nicht widrig war, da er sich seit der ersten Zeit seines Umgangs mit Marianen, in ihre Gemüthsart geschickt, und sich dabey so fein hatte zu verstellen wissen, daß sie von seiner schlechten Seite fast nichts gemerkt hatte; so ist schwer zu entscheiden, wozu sie sich vielleicht noch endlich könnte entschlossen haben, wenn das Schicksal, welches doch, wie die Poeten versichern, beständig über die Verliebten wachen soll, ihr beständig, Nachricht von Säuglings Leben verweigert hätte.


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