Friedrich Nicolai
Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker
Friedrich Nicolai

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Vierter Abschnitt.

Indeß war der Gottesdienst geendigt. Alle Zuhörer verließen die Kirche, und Sebaldus mit ihnen. Nun fiel ihm wieder ein, daß er nicht wußte, wohin er gehen sollte, indem er in seiner Tasche keinen Pfennig hatte, und in dieser weitläuftigen Stadt gänzlich unbekannt war. Er fieng an, darüber verschiedene traurige Betrachtungen zu machen.

Indem er damit beschäfftigt war, gieng der Kandidat vor ihm vorüber, welcher gepredigt hatte. Sein volles und rundes Gesicht, auf welchem die frühe Jugend blühte, war in eine weißgepuderte, in sanften Locken wallende Perücke gehüllet, die auf beiden Schultern sanft auffiel, und sich bis gegen die Mitte des Rückens in lang gezogenen Ringen kräuselte. Er sahe, mit einer süßen selbstgefälligen Miene, immer gerade vor sich hin, und dankte, mit langsamem Kopfneigen, rechts und links den gemeinen Leuten, die seinen steifgestärkten Kragen, und den auf seinem Rücken schwimmenden Mantel grüßten, den er zuweilen mit der linken Hand zierlich aufnahm, indeß er mit dem in der rechten Hand habenden Hute, den Layen, für ihren Gruß, eine Art von Segen zu ertheilen schien.

Er gieng in ein nicht weit entlegenes Haus, und in Sebaldus Geiste stieg plötzlich der gute Gedanken, oder nach gelehrter Exegese zu reden, die Offenbarung auf, daß er sich, in seiner gegenwärtigen Bekümmerniß, am besten an den Jüngling wenden könnte, welcher so fein von der christlichen Liebe gepredigt hatte. Er klopfte also an die Thür an.

Die Thür öffnete ein ältlicher Mann, der, wie sich hernach auswies, der Vater des Kandidaten war. Er war ein ehrlicher guter Krämer, der in den Abendstunden und Sonntagsnachmittagen gern Erbauungsschriften las, die er nicht ganz verstand. Er war daher in des hochtrabenden Oemlers, in des mystischen Trescho, in des wortreichen Tiedens Schriften sehr belesen, und galt deshalb bey seinen Nachbarn für einen gelehrten Mann.

Das Herz hüpfte dem ehrlichen Krämer, als Sebaldus nach dem Prediger fragte, von welchem er eben die schöne Predigt von der Liebe gehört habe. »Es ist mein Sohn, rief er freudig aus: treten Sie doch näher, mein lieber Herr!« und damit führte er ihn in die Stube.

Sebaldus fand den Kandidaten, unter den Händen seiner, über die erste Predigt ihres Sohnes noch entzückten Mutter, die ihm eben einen leichten Schlafrock angezogen und eine weiße Mütze aufgesetzt hatte, und noch beschäfftigt war, ihm den gelehrten Schweiß von der Stirn zu wischen.

Sebaldus redete ihn an: »Seine Predigt mache ihm Muth, sich bey seiner itzigen Verlegenheit an ihn zu wenden. Er sey selbst ein Prediger, obgleich seines Amts entsetzt. Er habe zweymal durch Räuber seinen letzten Heller, nebst seinen Empfehlungsbriefen verloren. Er bitte ihn nur um ein Obdach, und um guten Rath, wie er nothdürftig sein Brodt verdienen könne.«

Der Kandidat fragte ihn mit einer sehr weisen und ernsthaften Miene: »Warum er seines Amtes sey entsetzet worden?«

Sebaldus glaubte, dem Berichte seines gewesenen Reisegefährten zu folge, er werde sich am besten empfehlen, wenn er sich als einen Heterodoxen angebe. Er gestand also ohne Umstände, »daß er wegen Abweichungen von den symbolischen Büchern abgesetzt worden.«

»Abweichungen! rief der alte Krämer, o! wenn Sie doch das schöne Büchlein gelesen hätten, das wir neulich hier hatten: Fritz! wo wars doch gedruckt? in Nürnberg? oder in Jena? da würden Sie haben lesen können, wie der liebe Mann die Abweicher abführt; 's ist 'n gelehrter Mann, warlich 'n gelehrter Mann, er würde Sie verachten, wenn er Sie kennete. Der Mann hält was auf Orthodoxie.«

Er würde noch weit mehr geplaudert haben, aber der Kandidat, der es ungern sah, daß sein ungelehrter Vater geschwinder antworten wollte, als er, fiel ihm mit pathetischer Stimme ins Wort, und sagte: »Es thut mir sehr leid, daß Sie nicht besser auf die symbolischen Bücher gehalten haben. Hier zu Lande schwören wir leider! zwar nicht darauf, sie sind aber doch ein Pactum, und Pacta sunt servanda. – Und worinn fuhr er mit aufgeworfenem Unterkinne fort, worinn fanden Sie denn für so nöthig von den symbolischen Büchern abzugehen?«

Sebaldus, etwas kleinlaut, antwortete: »In der Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen.«

Der Kandidat schlug seine Hände über seine weiße Mütze zusammen, und rief aus: »Wie ist es möglich, daß jemand an einer so göttlichen Lehre zweifeln kann? Haben Sie denn den ersten Theil meiner Predigt nicht gehört?«

»Nein, sagte Sebaldus, weil er erst gegen das Ende derselben gekommen sey.«

»Das thut mir leid, sagte der Kandidat; denn ich habe darinn bewiesen, die wahre christliche Liebe erfodere, daß man alle diejenigen, welche nicht den wahren evangelischen seligmachenden Glauben haben, durch alle nur möglichen Mittel in den Schooß der Kirche zurück zu bringen suche, eben deshalb, damit man ihre Seelen rette, und sie nicht ewig verdammet würden.«

Er würde seine ganze Predigt wiederholt haben, wenn nicht der Vater in großem Eifer aufgefahren wäre: »Was? keine ewige Höllenstrafen? das wäre schön, wenn mein Nachbar an der Ecke gegenüber nicht sollte ewig verdammt werden! Er, der das Predigtamt verachtet, der in gar keine Kirche gehet, der mir einen Proceß an den Hals geworfen, der ihn gewonnen hat! der gottlose Mann! der Atheist! der Separatist!«

Sebaldus wollte sich vertheidigen; aber der Krämer nahm ihn beym Arm, und schob ihn höflich zur Thür hinaus.

Sebaldus war sehr betreten; weil er aber sahe, wie äußerst nothwendig es sey, sich an irgend jemand zu wenden, so gieng er zu dem Nachbar gegenüber, von dem er bessere Gesinnungen hoffte, weil er nicht so orthodox seyn sollte, als der Krämer.

Er fand einen Mann von blassem sanftmüthigem Ansehen, in einem simpeln grauen Rock, und einer baumwollenen Perücke, der, an seinem Pulte sitzend, einen Posten in sein Hauptbuch trug.

Sebaldus erzählte ihm, was in des Nachbars Hause vorgefallen war, und wiederholte seine Bitte um einen guten Rath.

Der Separatist sagte mit schwacher und sanfter Stimme: »Ich wundere mich nicht über meines Nachbars unchristliche Rede, denn er hat den Geist nicht, der das Leben giebt. Freylich sind die symbolischen Bücher eine Erfindung des Teufels, so wie der ganze geistliche Stand. Ein jeder wahrer Christ ist ein Hoherpriester. Die Geistlichen haben die Welt von je her verführt, und da Er mein Freund! von dem Stande ist, so gehe Er in Gottes Namen, wohin Er will, ich habe nichts mit Ihm zu schaffen.«

Er klopfte noch an einigen Thüren an, wo man ihn, als einen gemeinen Bettler, abwies.

Endlich gerieth er in ein Gelag, wo vier lockere Brüder zwischen acht Flaschen saßen, und sämtlich von Weine glüheten. Sie hatten schon dreymal ihren gewöhnlichen Zirkel von schlüpfrigen Wortspielen und abgeschmackten Spöttereyen über ehrwürdige Sachen durchgegangen, und hatten schon dreymal sich gekützelt, über das zu lachen, was nicht lächerlich ist, und sie waren eben im Begriff, trotz der Dünste des Weins, mit dem sie ihre hirnlosen Köpfe anfeuerten, in ein allgemeines Gähnen zu gerathen. Der Zufall führte ihnen den Sebaldus zu, dem sie gleich ansahen, daß er sehr leicht aufzuzäumen seyn würde. Der witzigste unter ihnen, nachdem er den andern einen Wink gegeben hatte, nahm den Sebaldus, der eben wieder aus der Thür zurücktreten wollte, mit freundlicher Miene bey der Hand, ließ ihn sich niedersetzen, und fragte ihn um sein Anbringen. Er schien ihn recht sehr zu bedauren, fragte dem guten Sebaldus, dessen Herz gewöhnlicher Weise auf seiner Zunge saß, sehr bald seine Geschichte ab, und erfuhr auch von ihm seine Neigung zur Apokalypse, der er den lautesten Beyfall zu geben schien, indeß seine Gefährten im innern Munde lachten. Er bedauerte mit scheinheiliger Miene den Sebaldus, wegen seiner vielen erlittenen Unglücksfälle, und fragte ihn, wie er sie habe so geduldig ertragen können. »Unvermeidliches Unglück zu ertragen, wird einem weisen Manne leicht, und die Hoffnung jenes Lebens.« – Hier konnte sich einer der Gäste, der dem Sebaldus gegen über saß, und ihn schon lange, den Kopf auf beide Ellenbogen gestützt, angegaffet hatte, nicht länger halten, sondern schlug über jenes Leben eine laute Lache auf. »Du alter Narr, rief er, du wirst eben so wohl in nichts verwandelt werden, als ich und wir alle; drum laß uns noch eins trinken. Denn (er sang)

Unser Leben währet kurz,
Es vergeht geschwinde.«

Hiemit schenkte er ein volles Glas ein, und brachte es dem Sebaldus: »Da trink mit, auf der Babylonischen Hure Gesundheit!« Alle vier brachen in ein Pferdegelächter aus, und Sebaldus, der jetzt erst merkte in was für Gesellschaft er war, ließ sich durch kein Zureden aufhalten, sondern eilte zur Thür hinaus, und schöpfte nicht eher wieder frische Luft, bis er auf der Straße war. Er empfand den ehrlichen Unwillen, den ein kluger Mann allezeit empfindet, wenn er merkt, daß er einer Gesellschaft von Narren zum Schauspiele gedienet habe. Hiezu kam die Bekümmerniß über seine nun mehrmals fehlgeschlagene Hoffnung, sich die ersten Bedürfnisse des Lebens zu schaffen.

Er wollte eben in laute Klagen ausbrechen, als ihm sein gewesener Reisegefährte begegnete. Derselbe war in einen guten tuchenen Rock gekleidet, gieng mit niedergeschlagenen Augen ernsthaft einher, in Gesellschaft, eines braunen von der Sonne verbrannten Menschen von widriger Miene, der in Reisekleidern, und mit einem Hirschfänger umgürtet war. Er würde den Sebaldus nicht angesehen haben, wenn dieser ihn nicht bey der Hand genommen, und ihn also angeredet hätte:

»Ach! Sie haben wohl recht, daß in dieser Stadt alle christliche Liebe erloschen ist. Aus den Häusern weiset man mich weg, und auf der Straße bin ich unter hundert Menschen, die vor mir vorbey ihren Vergnügungen oder Geschäfften nacheilen, eben so einsam, als in einer Wüste. Der Tag fängt sich an zu neigen, und ich weiß noch nicht, wo ich ein Obdach finden soll. Großer Gott! was soll aus mir werden?«

»Ja freylich, sagte der Pietist, wo die seligmachende Gnade nicht ist, da ist keine Liebe; aber ein guter Christ muß doch nicht verzagen. Wissen Sie was? wenn es dunkler wird, so gesellen Sie sich zu den Nachtwächtern, und gehen mit ihnen auf eine Hauptwache, da können Sie schlafen. Morgen früh wird sich wohl etwas finden. Leben Sie wohl, ich muß eilen.«

Sebaldus wollte ihn noch aufhalten, aber er riß sich los; denn er sollte einem jungen Herrn noch heute unverzüglich Geld verschaffen, und das Pfand war sehr sicher.

Sebaldus, von aller Hülfe verlassen, irrte noch einige Stunden, fast ohne Besinnung, auf den Straßen herum. Er hatte, seit dem frühen Morgen, noch nichts gegessen, er war von der Reise, und vom Gram äußerst ermüdet, alle seine Glieder ermatteten, alle Hoffnung verließ ihn, und er sank, als es anfieng dunkel zu werden, beynahe ohne es selbst zu wissen, unter dem Bogengange der Stechbahn in einen Winkel trostlos nieder. Hier lag er, unter den traurigsten Betrachtungen. Bald fiel ihm die Hartherzigkeit des Stauzius und des Präsidenten ein, die ihm in seinem Vaterlande nicht einmal die Luft gegönnet hatten; bald gieng ihm die Gleichgültigkeit der Einwohner Berlins ans Herz, die auf das Elend eines Nebenmenschen so wenig Acht hatten. Die Standhaftigkeit, die ihm sonst sein ruhiges Temperament gewährte, hatte ihn ganz verlassen. Er stieß laute Seufzer und die bittersten Klagen aus. Er erregte dadurch die Aufmerksamkeit vieler Vorübergehenden, die von Gastereyen, oder Spaziergängen zurück kamen. Einige sagten: »Da liegt ein Mensch!« andere: »Was muß das für ein Mensch seyn?« andere warfen ihm ein Paar Dreyer zu, die einen Mann, dessen Gesinnungen das Elend noch nicht ganz hatte erniedrigen können, demüthigten, ohne ihm zu helfen.

Endlich, da es schon ganz dunkel war, gieng ein Mann mit einer Laterne in der Hand vorüber, eben als Sebaldus einen tiefen Seufzer ausstieß, und in unzusammenhängende Klagen ausbrach. Er leuchtete ihm mit der Laterne gerade ins Gesicht, und fragte, was er begehre! Ha! sagte Sebaldus mit starren Augen: »Ich möchte wohl einen mitleidigen Menschen sehen, denn in dieser Stadt kann eine menschliche Kreatur auf der Straße verschmachten, indeß in allen Häusern Freude und Wohlleben herrschet.«

Der Vorübergehende fragte weiter, und erfuhr in wenig Worten, wer Sebaldus sey, und die fehlgeschlagenen Versuche dieses Tages.

»Sie haben sich, mein Freund, sagte der Mann mit der Laterne, lächelnd, nur an allzureiche Leute gewendet. Ein wohlhabender Mann kennet das wahre Bedürfniß eines Unglücklichen nicht recht, wirft ihm aufs höchste einen Dreyer oder Pfennig zu, und geht weg. Königen können am besten Könige, und Armen am besten Arme helfen. Stehen Sie auf.« Er hob ihn auf, und führte ihn mit sich fort.

Dieser Mann war Schulmeister in einer von den Freyschulen für arme Kinder, die eine rechtschaffne Patriotinn,Die sel. Feldmarschallinn von Spaen, setzte zuerst ein Kapital zu einer Freyschule aus, die im Jahre 1699. eröffnet ward. Auch die folgenden Freyschulen sind bloß durch Vermächtnisse, und freywillige Beyträge edelmüthiger Wohlthäter bestanden. Im Jahr 1773 sind in sechzehn Freyschulen 980 arme Kinder umsonst unterrichtet worden. Der itzige Aufseher dieser Freyschulen, Herr Prediger Rauch, giebt jährlich eine Nachricht von dem Zustande derselben heraus. bloß aus Liebe zu guten Handlungen, ohne Ruhmbegierde oder Eigennutz, zuerst angelegt hat, und die bisher bloß durch die Mildthätigkeit von Menschenfreunden unterhalten worden. Er hatte bey einer sauern Arbeit gerade das nothwendigste Auskommen. Seine Frau und einzige Tochter halfen arbeiten, um sich zu erhalten. Er stellte ihnen bey seiner Zuhausekunft den Sebaldus vor, der von ihnen mit herzlicher Gastfreundschaft empfangen ward. Sie erquickten ihn mit einer frugalen Abendmahlzeit, und hernach ward ihm, in einer Art von Abschlage auf dem Boden, ein Lager von frischem Stroh angewiesen, zu dessen Verbesserung sowohl, der Alte, als das gute Mädchen, jeder ein Stück Bette, hergab.


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