Friedrich Nicolai
Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker
Friedrich Nicolai

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

›Lieber Herr! sagte der Mann, nachdem er ein wenig Athem geschöpft hatte, ich bin ein Baumwollenweber. Ich wohnte in einem Flecken in Böhmen, ich hatte sonst mein gutes Auskommen, aber unser Gutsherr war ein harter Mann, er wollte uns nicht Gott nach unserm Glauben dienen lassen, wir sollten in die Messe gehen, und wir hielten dieß wider unser Gewissen. Ich will mich aufmachen, sagte ich, und in ein protestantisches Land gehen, wo ich Gewissensfreyheit habe. Ich flüchtete, ich kam bis in eine einige Meilen von hier entfernte Stadt, ich ward wohl aufgenommen, und konnte frey in die Kirche gehen. Doch es ist nicht genug in die Kirche zu gehen, man muß auch Frau und Kinder ernähren. Ich fieng also an mit Mühe einen Stuhl zurecht zu bringen, und webte Kottonade. Dieses Zeug war dort bisher noch unbekannt gewesen, es fand viele Käufer, sobald es bekannt wurde. Plötzlich ward ich auf das Rathhaus gerufen, und bekam Befehl, meine Arbeit einzustellen. Ich fragte erstaunt: weswegen? Weil Ihr ein Pfuscher seyd, rief der Altmeister der Raschmacher, welches die stärkste Zunft in der Stadt war, weil Ihr keinen Lehrbrief vorzeigen könnt, und weil Ihr kein Meisterstück gemacht habt. – In Böhmen, erwiederte ich, giebt man keine Lehrbriefe, sondern es kann jeder weben, wer will, und was er will, und was das Meisterstück anbetrifft, so seht meine Waare an, ob sie nicht so gut ist, als irgend Kottonade seyn kann. – Eben dieses Zeug sollt Ihr gar nicht machen; es ist verboten, sagte ein Rathsherr sehr ernsthaft. – Weswegen? sagte ich noch mehr erstaunt. – Weil es nicht der Vorschrift gemäß ist; weil es der Grundverfassung der Stadt zuwider seyn würde. Schon vor langen Jahren haben die Gewerke Streit miteinander gehabt, und da ist durch ein Gesetz festgesetzt worden, was für Zeuge, und wer sie machen soll, die Leinweber Leinwand, die Tuchmacher Tuch, und die Raschmacher Rasch. – Aber, lieber Gott! rief ich, was kann ich dafür, das derjenige, der das Gesetz machte, alle möglichen Zeuge in Leinwand Tuch und Rasch abtheilte, und daß keiner daran dachte, daß es auch Kottonade in der Welt geben könnte. – Kurzum, hieß es, Euer Gesuch ist wider alle gute Policey, laßt ab das neue Zeug zu machen, das wir nicht dulden wollen, oder man wird Euch Ernst weisen.

Ich fuhr aber fort zu arbeiten, und mußte, wenn ich leben wollte, und so kamen des andern Tages die Altmeister, schlugen meinen Stuhl auseinander, und brachten ihn mit allem meinem Werkzeuge aufs Rathhaus. – Ich schrie über Gewalt. Hat man Euch nicht genug gewarnt? sagte der Rathsherr frostig. – Aber lieber Gott! ich muß ja Hungers sterben, wenn ich nicht arbeiten soll. – Wer sagt denn, sprach der Rathsherr mit weiser Miene, daß Ihr nicht arbeiten sollt, Ihr sollt nur nicht solches Zeug machen, das wir hier bey uns nicht leiden wollen; es sind ja sonst Handwerke genug. – Aber, lieber Herr! sagte ich, die werden auch zünftig seyn, und werden mich nicht aufnehmen, und denn habe ich einmal nichts anders gelernt, als Kottonade weben. – Ich merke wohl, Ihr seyd widerspenstig; seht zu, ob man Euch sonst wo dulden will, bey uns werden wir Euretwegen die Gesetze nicht ändern: – dieß war mein Abschied.

Ich mußte also mit meiner Familie fort. Gestern Abend kamen wir bey der benachbarten Stadt an, wo man uns nicht einlassen wollte, weil wir keinen Paß hatten. Ich besaß keinen Heller mehr, wir alle hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Wir mußten in diesem Walde unter einem Baume bleiben, die Kinder schrien bis nach Mitternacht um Brodt. Ich war außer mir, daß ich ihnen nichts geben konnte. Nach ein Paar Stunden unruhiges Schlummers, erwachte ich vor Sonnenaufgang; ich betrachtete meine unglückliche Frau und Kinder, und dachte voll Entsetzen, daß sie alle in diesem Walde verschmachten müßten. Ich erblickte von fern einen einzelnen wohlgekleideten Menschen. Die Verzweiflung gab mir einen bösen Rath. – Ich stutzte einen Augenblick beym ersten Schritte, den ich that; aber der Anblick meiner schmachtenden Kinder brachte mich aufs neue in Wut. – Und wenn er sich wehrt, und deiner mächtig wird? dacht' ich. – Ey nun! so mag man mich gefangen nehmen, aber denn wird man doch meine Frau und Kinder im Spitale versorgen müssen. Ich stürzte wie ein Unsinniger auf Sie zu, aber Sie wehrten Sich nicht. Sie gaben mir ruhig, und mehr, als ich für die itzige Noth brauchte. Wars nicht abscheulich, den Mann zu berauben, der mir gutwillig würde gegeben haben. – – Ich bin in Ihren Händen, machen Sie mit mir was Sie wollen, aber retten Sie nur meine unglückliche Frau und Kinder.‹

Ich war äußerst gerührt. Ich ließ diesen unglücklichen Leuten, was im Beutel war, und eilte fort, um mich ihrem Danke zu entziehen.

Mein Gott! dachte ich, dieser arme Mann leidet auch, weil die Vorfahren ein Symbolum für die Weber erdacht, und alle Zeuge, die man weben soll, auf Tuch, Rasch und Leinwand eingeschränkt haben! Und dieser übelverstandnen Formalie wegen sollen seine vier armen Kinder Hungers sterben? Er ist in Verzweiflung gerathen. Natürlich! das zahmste Thier wird wütend, wenn es seine Jungen darben siehet! – Und ich, der ich auch Vater bin, soll ich mich in Gefahr setzen, die Meinigen darben zu sehen, oder soll ich – ja, ich will unterschreiben, was man will. Die Erhaltung meiner selbst und der Meinigen ist die erste Pflicht, der alle andern, die damit in Kollision kommen, weichen müssen. Kann ich den Lauf der Welt ändern? Die Könige und die Priester haben den Erdkreis unter sich getheilt, so daß nichts mehr übrig ist. Auf dem Flecke, auf dem ich athme, regiert jemand, wohin ich mich wenden könnte, wird ein anderer regieren. So wenig ich für mich unabhängig bestehen, ohne Regenten seyn, oder mir Regenten und Regierungsform nach meinem Gefallen einrichten kann, eben so wenig kann ich für mich allein, mit meiner besondern Religion, leben. Jede Religionspartey, die Gewalt gehabt hat, hat einen Zaun um sich gezogen, habe ich nicht ihr Schiboleth, so heißts noch Menschenliebe, wenn sie mich bloß ausstößt. Ich kann ihretwegen in die ganze weite Welt laufen, aber wohin ich trete, bin ich im Zaune einer andern, die mich wieder ausstößt. Wohl denn! ich will bleiben, wo ich bin, und dulden, was ich nicht ändern kann.

Mit diesen Gedanken kehrte ich zurück, unterschrieb, ohne die Augen aufzuthun, und trat mein Amt an. Meine Pfarrkinder, die mich predigen und Beichte sitzen und Kranken trösten sahen, so wie meine Vorfahren, wurden bald mit mir versöhnt, und wunderten sich selbst, wie sie mich für einen so garstigen Ketzer hätten halten können. Aber nicht so meine Gegner, welche, ob sie gleich vor der Hand still schwiegen, nur auf eine Gelegenheit lauerten, mir den empfindlichsten Stoß zu versetzen. Ich gab sie ihnen selbst an die Hand, durch einige Abhandlungen ohne meinen Namen, die ich in ein Wochenblatt einrücken ließ. Mein Superintendent entdeckte bald, daß weder die Rechtfertigung, noch die Wiedergeburt, noch die Erbsünde, noch der thätige Gehorsam, noch die Homoousie, an der Stelle standen, wohin er sie gesetzt wissen wollte. Ich wurde vor eine meinetwegen niedergesetzte Kommission citirt. Man begegnete mir im voraus als einem teuflischen Ketzer, man verlangte Erklärung, mit Ja, oder Nein, ob ich den symbolischen Büchern, quia, beyfiele, oder nicht? Ich vertheidigte mich, und brachte die Kommissarien noch mehr in Harnisch; denn sie hatten einen bloßen Widerruf und Abbitte von mir erwartet. Kurz, meine Absetzung war unwiderruflich beschlossen, und ich hätte vielleicht mein Leben, als ein Uebelthäter, in einem Kerker endigen, oder mein Brodt erbetteln müssen, wenn nicht mein edelmüthiger Freund, der junge Officier, sich abermals meiner angenommen, und mir eine Hofmeisterstelle bey einem jungen Reichsgrafen verschafft hätte. Ich bin mit meinem Grafen durch ganz Europa gereiset. Ich habe gesehen, daß allenthalben Aberglauben und Priestergewalt sich der Erleuchtung des menschlichen Geschlechts mit unüberwindlicher Macht entgegensetzen, daß allenthalben Dummköpfe, die eingeführten Lehren und Gebräuchen ergeben sind, laut sprechen und herrschen, und daß weise Leute, welche Mißbräuche einsehen, und ihnen abhelfen könnten, nicht laut sprechen wollen, oder dürfen. Nachdem mein Graf volljährig geworden, bin ich nun ganz unabhängig, und danke Gott, daß ich in einer Lage bin, in der ich meine Gedanken nicht ferner verhehlen, noch meine Ausdrücke auf Schrauben setzen darf.«

»Ja wohl, sagte Sebaldus, daß ist die große Glückseligkeit, die man in Berlin genießet. Hier ist das wahre Land der Freyheit, wo jedermann seine Gedanken sagen darf, wo man niemand verketzert, wo christliche Liebe und Erleuchtung in gleichem Maße herrschen.«

»Ey! Sie haben ja von Berlin eine sehr gute Meinung, sagte Hr. F. lächelnd. Freylich, wer, so wie Sie und ich, kein Amt sucht, und nicht von der Meinung des Publikums abhängen darf, kann in Berlin denken und sagen, was er will; mit demjenigen aber, dem es nicht so ganz gleichgültig ist, was man von seinen Religionsmeinungen denkt, ist es eine ganz andere Sache. Die Regierung begünstigt die Freiheit zu denken, besonders in Religionssachen; wir haben auch einige sehr würdige Geistlichen, die die Untersuchungen wichtiger Wahrheiten nicht für Ketzerey halten, aber das Publikum ist nicht völlig so tolerant. Die Einwohner von Berlin sind so wenig, als die Einwohner irgend einer andern Stadt, geneigt, Neuerungen in der Lehre machen zu lassen.«

»Das sollte ich kaum denken, wenigstens stehen sie auswärts in einem ganz andern Rufe. Man glaubt vielmehr, Berlin sey voll von Atheisten, Deisten, Naturalisten, und wer weiß von was für isten mehr. Man glaubt, jeder dürfe sich daselbst in Religionssachen, was er wolle, erlauben. Ich selbst, ob ich gleich nicht lange in Berlin bin, habe zuweilen zufälliger Weise Reden gehört, die man anderer Orten vielleicht nicht so frey hätte führen dürfen, ohne öffentliche Ahndung zu befürchten.«

»Nein! öffentliche Ahndung hier freylich nicht. Unsere Regierung hat schon seit langen Jahren klüglich eingesehen, daß man die Meinungen der Menschen von Religionssachen deshalb nicht bessert, wenn man sie einschränkt und ahndet, sondern, daß man vielmehr dadurch jede Thorheit eines Eiferers oder Schwärmers zu einer wichtigen Sache macht. Sie verfolgt niemand wegen Meinungen. Daher machen gute und schlechte Meinungen in Berlin überhaupt nicht so viel Aufsehen, als an andern Orten. Hierdurch geschiehet es, daß sich in Berlin, in dieser Absicht, die Menschen mehr so zeigen, wie sie sind. Sie können in Berlin vielleicht unter spekulativen Gelehrten einige gefunden haben, die die Offenbarung für unnöthig halten, und unter lockern Weltleuten auch wohl einige, die alle Religion verachten. Aber Leute von solchen Grundsätzen werden sie unter Gelehrten und unter Weltleuten allenthalben, obgleich nur etwas verborgner, finden können, und in Berlin machen sie gewiß eine sehr geringe Anzahl aus. Wenigstens, wer solche Meinungen an sich merken läßt, wird weder hochgeschätzt noch geliebt werden. Der Berlinische Pöbel ist noch eben so beschaffen, als der, welcher im Jahre 1748, nachdem er eine erbauliche Predigt wider die Freygeister gehört hatte, dem bekannten Edelmann die Fenster einwarf. Und den Pöbel ungerechnet, sind auch unsere guten Berlinischen Bürger überhaupt zu nichts weniger, als zu so freyen Meinungen, geneigt. Ich wollte wohl Bürge für sie seyn, daß sie auch nicht einmal die geringste Heterodoxie verschlucken würden, sie müßten sie denn etwa, mit gutem Herzen, für Orthodoxie halten.«

»Das dächte ich doch nicht. Sie müssen neuen Meinungen nicht ganz abgeneigt seyn, wenigstens haben die Versuche, durch Gebrauch der Vernunft die Vorurtheile in der Religion wegzuräumen, bisher noch in Berlin den größten Beyfall erhalten.«

»Ja! vergleichungsweise: Weil sie an vielen andern Orten ganz und gar nicht geduldet werden. Aber vermengen Sie nur ja nicht wenige Schriftsteller und ihre wenigen Freunde mit den Einwohnern Berlins, die aus vielen tausenden bestehen. Lernen Sie diese besser kennen! Wenn diese je von der Dogmatik abgehen, oder irgend worinn über die Schnur hauen sollten, so möchte es gewiß weniger von der Seite der Vernunft, als von der Seite der erhitzten EinbildungskraftBerlin ist vielleicht die einzige Stadt in der Welt, wo man auf den Einfall gerathen ist, in Versen zu predigen. Verschiedene Prediger versuchten dieß, zu verschiedenen Zeiten, mit Beyfall der Zuhörer, bis endlich, durch einen ausdrücklichen Befehl des Oberkonsistoriums, das Predigen in Versen verboten ward. geschehen. Keine große Stadt in Deutschland hat, seit dem Anfange dieses Jahrhunderts, da wir Inspirirte hatten, welche weißagten und Wunder thaten, so viel Schwärmer gehabt, als Berlin, und itzt, wenn ich, den allgemeinen Charakter der Bürger von Berlin, mit Einem Worte bezeichnen sollte, so würde ich eher sagen, sie wären pietistisch als heterodox

»Pietistisch? rief Sebaldus aus; die Bürger von Berlin pietistisch

»Ja! ja! versetzte Herr F. pietistisch, oder orthodox von der pietistischen Seite; denn Sie wissen, es sind noch nicht funfzig Jahre, daß große Streitigkeiten zwischen der orthodoxen Orthodoxie und zwischen der pietistischen Ortodoxie geführet wurden, und zu der letztern hat sich ein großer Theil der Einwohner von Berlin schon damals und in der Folge geneigt: woher wäre sonst der große Beyfall entstanden, den nebst Leuten, wie Spener und Schade, auch Fuhrmann, Schulz, Woltersdorf und andere nach einander gehabt haben.«

»Sie reden von vergangenen Zeiten, seitdem aber hat sich wohl in Berlin vieles gar sehr abgeändert.« –

»In den Schriften, die herauskommen, ist die Veränderung geschwinder und allgemeiner, als in den Gemüthern der Einwohner gewesen. Diese sind, in Absicht auf Religionsgesinnungen, noch beynahe eben das, was sie vor vierzig Jahren waren. Ich habe sogar bemerkt, daß sich ihre dogmatischen Gesinnungen nach den Gegenden der Stadt, wo sie wohnen, modificiren. In der alten guten Stadt Berlin findet man noch alte Gewohnheiten, und auch alte Dogmatik. Die Pfarrkinder der uralten Pfarrkirche zu St. Nikolai, am Molkenmarkt, und in der Stralauer Straße bis zur Paddengasse hinauf, halten am meisten auf reine Orthodoxie. Ich versichre Sie, daß Sie daselbst noch ehrenfeste Bürger über Erbsünde und Wiedergeburt können disputiren hören; desgleichen haben die Gärtner und Viehmäster in den Berlinischen Vorstädten noch alle löbliche Anlage auf einen Ketzer mit Fäusten loszuschlagen. In Kölln, in der Gegend des Schlosses, könnten noch am ersten die Freygeister anzutreffen seyn. In dieser Gegend war es auch, wo der Probst Reinbeck, im Haudenschen Buchladen auf der Schloßfreyheit, seine Betrachtungen über die Augspurgische Konfession schrieb, welche zuerst in den Damm, den Eifer und verjährtes Vorurtheil, gegen die menschliche Vernunft, für die Orthodoxie, aufgeworfen hatten, ein kleines Loch machten, das hernach so sehr erweitert worden ist. Die Nachbarschaft des Hofes trägt auch wohl etwas bey, daß die Leute hier freyer denken. Man komme hingegen nur in die bürgerlichern Gegenden der Fischerstraße und Lappstraße, und man wird die Neigung für die Orthodoxie viel stärker finden, ja ich vermuthe, daß sie bey den Gerbern, Pergamentmachern und Seifensiedern in Neukölln bis zum Eifer steige. In den dumpfigen Gassen des Werders wohnen die Separatisten, welche Gott einsam dienen; in den höher gelegenen die stillen Gichtelianer,Diese harmlose Religionspartey unterscheidet sich sehr rühmlich durch sehr ansehnliche Almosen, (zuweilen von einigen tausend Thalern,) die sie giebt, und zwar mehrentheils so unbekannter weise, daß man die Geber nur muthmaßen kann. die ruhige Beschaulichkeit lieben, und unerkannt wohlthun. Um die Gegend der Hospitalkirche zu St. Gertraut fangen die Herrnhuter an sich zu zeigen, und so wie die breiten und hellen Straßen der Friedrichsstadt anfangen, so fangen auch die Religionsgesinnungen der Einwohner an, luftiger und geistiger zu werden. Pietisten, die in Gefühlen und innigen Empfindungen ihre Religion suchen, und Schwärmer von allen Gattungen, finden sich hier, und der innere Trieb der Raschmacher und Wollkämmer bricht hier oft in Erbauungsstunden und Weißagungen aus. Die Dorotheenstadt wird zum Theil von ketzerischen Reformirten und Franzosen bewohnt. Aber in allen Gegenden der Stadt ist eine andere Gattung Leute verbreitet, die ich oft in Gesellschaften angetroffen habe, denen man es anmerkt, daß sie niemals weder Orthodoxie noch Heterodoxie untersucht haben, bey denen es hingegen festgesetzt bleibt, daß alles darinn bleiben soll, wie es war. Es giebt unter ihnen so gar deliirte Weltleute, die scherzen, Karten spielen, mit Frauenzimmern tändeln, und doch die Nase rümpfen können, wenn sich die geringste Ketzerey spüren läßt.«

»Dieß sollte mir herzlich leid thun, sagte Sebaldus; denn wenn solcher Leute in Berlin viele sind, so kömmt mir Ihre Nachricht nur allzu glaubwürdig vor, daß hier die Erleuchtung und die Freyheit zu denken noch nicht so groß ist, als ich mir vorgestellt habe. Ich habe immer gefunden, daß diejenigen, die aus Trägheit und Nachläßigkeit die Wahrheit nicht suchen wollen, die Selbstdenker am meisten hassen, weil sie sich sonst ihrer Trägheit und Nachläßigkeit schämen müßten. Mir ist aber immer, selbst derjenige, viel ehrwürdiger gewesen, der, durch Liebe zur Untersuchung der Wahrheit, auf Irrthümer verfällt, als derjenige, der sie gar nicht untersuchen mag.«

»In diesen Gesinnungen werden viele Einwohner Berlins nicht mit ihnen übereinstimmen, und vielleicht nicht einmal alle Berlinischen Geistlichen.«


 << zurück weiter >>