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Montfaucon

»Noch immer irre ich einsam und freundlos in der Welt umher, wo ich keinem menschlichen Wesen angehöre. O wo bist du, wo bist du, dessen Anblick ich, so lange ich denken lernte, vom Himmel erflehte, Mann oder Weib von meinem Blute, zu dem ich sagen kann, du bist mir näher, als alle andern? Aber wie soll ich dich finden? kenne ich auch selbst so viel von meinem Ursprünge, um dich in Irrgängen zurecht zu leiten, worin du dich so hülf- und ratlos verirrst, als ich? – Vielleicht bist du bereits tausend Mal vor mir übergegangen, ohne mich zu kennen! wer will den Zauber lösen, der unser beider Augen gefangen hält?

Hermann und Adelheid, ihr teuren, ihr einzigen Namen, deren ich mich noch aus den dunklen Tagen meiner Kindheit erinnere! ihr seid noch das, woran ich mich mit einer Festigkeit halten konnte, aber auch ihr habt mich irre geleitet. Ich habe der Menschen eures Namens viel gesehen, aber keinen, der die Person sein konnte, welche mir mein Herz unter denselben schilderte. Ach vielleicht würde ich auf der ganzen Erde vergebens suchen; vielleicht seid ihr bereits dahin gegangen, wo wir uns alle wieder finden, alle uns kennen werden!

Eine Wallfahrt zu dem heiligen Nicolaus von Varengis hat mein Herz beruhigt – Es muss ja nicht eben mein Freund oder mein Bruder, muss ja nicht eben meine Mutter sein, die ich wieder finde. Es gibt der guten Menschen mehr; und habe ich ihn nicht bereits gesehen, gesehen im heiligen Traume, den Engel, der mir den Weg zum Grab erleichtern wird? – Ich lag, so dünkt es mich, auf dem Bette der Schmerzen; da trat ein Mann zu mir, ein freundlicher schöner Mann, der mich Bruder nannte, und mir weinend die Augen schloss. – O du, der mir einst diesen letzten und besten Dienst erzeigen wird! du, an welchen von diesem Augenblicke an mein Herz mit der heißesten Sehnsucht hangt! an dich will ich diese Blätter richten. Du mußt den kennen, den du so liebreich Bruder nennen wirst: und da vielleicht die Zeit unseres Umgangs kurz ist; da ich vielleicht erröte, dir mündlich die Wahrheit zu gestehen, so erfahre es durch diese Blätter, das heimlichste all meiner Geheimnisse, das von den jetzt Lebenden niemand weiß: wisse, du liebtest in mir keinen Bruder, nein, eine unglückliche Schwester.

Mein Name ist Adelheid; so nannte sich meine verlorne Mutter: ob ihr und mir der Name Montfaucon zukommt, weiß ich nicht. Als ich noch keinen Namen unter meinen jetzigen Bekannten hatte, hatten sie Ursache, mir diesen zu geben, und ich hatte Ursache zu glauben, er könne mir zukommen. Mir ist's, als hätte meine Mutter, eben jene Adelheid, einen ähnlichen oft genannt. Ein Montfaucon konnte ja wohl mein Vater sein.

Das früheste Bild aus meiner zarten Kindheit – in Bildern besteht fast meine ganze Erinnerung aus diesen dunklen Gegenden – eins der frühesten Bilder, das mir vorschwebt, ist eine große Reise über Land und Meer. Ich war ein zartes Kind, und saß fast immer auf dem Schöße meiner Mutter. Einmal wurde ich aus demselben gerissen. Es war viel Streit und Unruhe um uns her. Menschen wurden erschlagen, andere verwundet. Meine Mutter weinte, und ich erfüllte die Luft mit meinem Geschreie. – Hier ist eine große Lücke in meinen Erinnerungen. – Ich mag krank gewesen sein – denn die nächste Vorstellung, die ich mit aller Mühe in meinem Gedächtnisse finden kann, zeigte mich mir auf einem Bette liegend, meine Mutter weinend an meiner Seite, und um mich her stille Düsterheit, welche zum Schlafe einzuladen schien. Ich schlief, und schlief, wahrscheinlich bis es besser mit mir ward. Wir waren in schönen wohlgeschmückten Gemächern; es fehlte uns an nichts von allen den Dingen, deren Wert wohl auch ein Kind zu schätzen weiß. Viel Personen waren um mich her, unter denen aber keine mich so sehr interessierte, als ein Knabe, den ich für sehr groß hielt, weil er einige Jahre mehr haben mochte, als ich, und den man Hermann nannte.

O Hermann! Hermann! entzückender Laut! welche Erinnerung führst du meiner Seele aus dem schönsten Teile meines Lebens, aus den Tagen der ersten Kindheit zu! Mich dünkt, dieser Knabe, der mein Spielgefährte ward, und den meine Mutter mich Bruder nennen lehrte, hatte noch einen Namen; aber die Zeit hat ihn gänzlich aus meinem Gedächtnisse verwischt: doch wenn ich zuweilen in meinem Gehirne nach demselben forsche, so ist mir's, als würde ich, wenn mir ein ähnlicher vor die Ohren gebracht würde, mich so wohl auf denselben besinnen, als auf den Namen Montfaucon, den meine Mutter zuweilen zu nennen pflegte.

Ich ward ein, vielleicht auch zwei Jahre älter, und lernte besser verstehen, was um mich vorging. Ich erinnere mich, daß meine Mutter und Hermann sehr oft heimliche Ratschläge hielten, in welchen das Wort, Entkommen fleißig genannt wurde; dieses einzige Wort ist es, was mir jetzt Mutmaßung gibt, warum ich auf ein Mal meiner Mutter beraubt wurde, und sie, ungeachtet alles Weinens und Suchens, nirgends finden konnte: sie war wahrscheinlich entkommen, aus dem Orte, wo sie, wie mir es jetzt dünkt, nicht ganz mit ihrem guten Willen war. – Warum sie mich doch nicht mit sich genommen haben muss? Wie viel Kummer hätte das mir, vielleicht auch ihr ersparen können!

Hermann ward mein Tröster, und tröstete mich sehr bald. Die Leute, welche für uns sorgten, schalten mich, daß ich nie ohne ihn sein konnte, und sagten, ich müsse mich von ihm entwöhnen, weil er bald frei werden würde. Ich konnte dieses Wort damals nicht begreifen; erst in der Folge habe ich es verstehen gelernt.

Einst in einer Nacht kam Hermann in meine Kammer, wo meine Wärterinnen schliefen. Er weckte mich, verbot mir zu schreien, und trug mich davon. An einem verborgenen Orte hüllte er mich in Knabenkleider, und sagte mir, von nun an sei ich ein Knabe, und heiße Barthelemy. Darauf führte er mich zu einem alten Manne, der an der Mauer wartete, und wollte mich ihm übergeben. Ich erhob ein mächtiges Geschrei. Auch der Alte schien mich ungern anzunehmen. Man stritt; man ward endlich einig; und nachdem mir Hermann schmeichelnd vorgesagt hatte, Arnold, so hieß der Alte, wollte mich zu meiner Mutter führen, so ließ ich mit mir machen, was man wollte. Ein Hüter an der äußersten Pforte befragte uns. Arnold nannte seinen Namen, und sagte, ich sei das Kind, welches er heute ranzioniert habe. ›Ich bin ein Knabe, und heiße Barthelemy‹, rief ich hier mit den Worten, die mir mein junger Freund in den Mund gelegt hatte. Arnold gebot mir Stillschweigen, und führte mich davon, einen weiten Weg, dessen Ende wir nie erreichten. Ach! Arnold brachte mich nicht zu meiner Mutter, so oft ich auch fragte, ob ich sie bald sehen würde. Wir hatten den mühseligen Weg, der zu ihr führen mochte, vielleicht kaum zur Hälfte zurück gelegt, so gerieten wir wieder unter wilde Krieger, und ich sah die Auftritte noch ein Mal, die ich in den allerersten Jahren meines Lebens im Arme meiner Mutter schon einmal erlebt hatte. Arnold ward an meiner Seite tödlich verwundet; das Getümmel der Waffen zog sich von uns hinweg. Die Stelle, wo Arnold blutend und ich weinend lag, war einsam. Arnold schmachtete nach einem Trunk frischen Wasser, und sandte mich aus, ihm denselben zu holen. Meiner Rechnung nach, die freilich mein Alter sehr ungewiß angibt, konnte ich damals kaum das fünfte Jahr erreicht haben. Ein Sarazene fand mich an dem Brunnen, wo ich mühsam schöpfte. Er half mir, und brachte mich zu der Stelle zurück, die ich ihm bezeichnete, und wo er Arnolden mit dem Tode ringend fand.

Kaum hatte der wohltätige Morgenländer Zeit, den sterbenden Alten mit dem Wasser, das wir brachten, zu laben, und ihm auf seine Art einigen Trost einzusprechen; kaum hatte Arnold Zeit, mich Verlassene seinem Tröster mit einigen Worten zu empfehlen; so entfloh seine Seele: seine Augen schlössen sich auf ewig, und mit ihm starb für mich die Möglichkeit, je die Stelle wieder zu finden, auf welche mich das Schicksal bei meiner Geburt gesetzt hatte. Ich wusste weder den Namen meines Vaterlandes noch meiner Eltern; ich gehörte von nun an niemand an, als der Hand der Menschenliebe, die sich meiner erbarmen wollte. Diese treue wohltätige Hand war gegenwärtig die Hand meines Sarazenen, des guten Billah, der, als sein Stand es ihm unmöglich machte, weiter für mich zu sorgen, mich dem Herrn von Joinville empfahl, der für mich tat, was nur ein Mann für ein fünfjähriges Kind tun kann. Freilich mißte ich überall die zärtliche Pflege von Weiberhänden; das zeigte meine Kleidung und meine ganze Person, welche nun seit mehreren Wochen weder geändert, noch gereinigt worden war. So schmutzig ich war, so hatte ich doch das Glück, des eben wieder frei gewordenen Königs von Frankreich Augen auf mich zu ziehen. Er ließ sich von Joinville die Art erzählen, wie ich in seine Hände gekommen sei, und fragte nach meinem Namen. ›Ich bin ein Knabe, und heiße Barthelemy‹, antwortete ich. Joinville lachte, und sagte, dies sei die Formel, mit welcher ich allemal diese Frage zu beantworten pflege; auch setzte er hinzu, man halte mich aus verschiedenen Umständen für einen Sohn des Ritters Amis von Montfaucon, der in der sarazenischen Gefangenschaft gestorben sei, und ich behielt also den Namen Barthelemy von Montfaucon, bis auf diesen Tag.

›Wahrhaftig‹, sagte der fromme König mit einer Träne im Auge; ›wer ein solches Kind aufnimmt in Gottes Namen, der nimmt ihn selbst auf. Seneschall, schenkt mir euren angenommenen Sohn; wir wollen den versprochenen Lohn an jenem Tag teilen!‹

›Mein König‹, antwortete Joinville, ›der möchte wohl ganz allein auf die Rechnung des Sarazenen Billah fallen: weder ihr noch ich taten für den jungen Montfaucon, was dieser Ungläubige tat.‹

Das Ende von diesem Gespräche, welches ich damals nicht so beachtete, sondern es nach der Zeit erst, wenn mir die Geschichte meiner ersten Kindheit wiederholt ward, oft erzählen hörte, das Ende von diesem Gespräche war, daß mich der König, so wie ich war, auf seine Arme Keine besondere Überwindung für den, welcher aus Andacht einst einem Aussätzigen die Hand küßte. nahm, mich küßte, und einem seiner hinter ihm stehenden Hofbedienten übergab.

Mein Glück sorgte wunderbar für mich. Unter was für guten Menschen hatte es mich Verlassene stufenweise gebracht! Arnold, der Sarazene, Joinville und sein König wetteiferten zu meinem Besten; aber den Preis vor allen trug doch derjenige davon, der mich aus des Königs Hand in seine Arme nahm, und nach seiner Wohnung trug, mir daselbst die zahllosen Dienste zu leisten und leisten zu lassen, deren ich so sehr bedürftig war. Es war der alte Ysembart, der Koch des Königs, der mit ihm in Turanschahs Gefangenschaft gewesen war, und ihm daselbst die höchste Treue erwiesen hatte. Seit er nebst seinem Herrn frei geworden war, bekleidete er unter den Höflingen eine Stelle, die er nicht so wohl darum gewählt hatte, weil sie ansehnlicher war, als seine erste, sondern weil sie ihn der Person seines lieben Herrn näher brachte.

Keine frömmere, edlere, truglosere Seele, als dieser Ysembart, gibt es nicht: ihm danke ich mein ganzes All; ihm danke ich die Erziehung, die Grundsätze, die mich in dieser und jener Welt glücklich machen müssen, die mir mein hiesiges Los erleichterten, und mich dort ein besseres hoffen lehrten.

Ysembart wusste sehr wohl, daß sein Zögling eine Adelheid und kein Barthelemy war; aber ehe er es dem Könige meldete, hielt er es für gut, deshalb mit seinem Beichtvater, einem alten Franziskanermönche, darüber zu sprechen. Die Ursache, warum dieser für gut hielt, daß ich meinen Namen beibehalten sollte, die Ursache, warum mir, so wie ich älter ward, von diesen beiden, welche meinen wahren Namen allein kannten, unablässig eingeschärft wurde, mich niemanden zu offenbaren, habe ich nie erfahren können: ich folgte den Anweisungen, die ich von meinem Pflegevater und dem Bruder St. Remi, meinem Lehrer, erhielt, blindlings, und noch habe ich nicht Ursache gehabt, meine Folgsamkeit zu bedauern; als Mädchen würde ich in der Welt eine noch armseligere Rolle gespielt haben, denn als Jüngling.

Der edle Herr von Joinville ließ sich den Anteil an meiner Erziehung, auf welchen er Ansprüche zu haben glaubte, nicht nehmen: er sähe mich täglich mehrere Stunden, und strebte mich zu dem zu machen, was ich vermöge meines Charakters, vermöge meines Geschlechts nie werden konnte. Ach! dieser Arm war zu schwach, das Heldenschwert führen zu lernen, das er mir so oft in die Hände gab! diese stille Seele neigte sich von Natur mehr zu frommer, andächtiger Melancholie, als zum kühnen Mute eines Kriegers! Ich gestehe, daß ich dieserhalb viel von ihm gelitten habe, und daß ich, bloß um seine Achtung nicht ganz zu verlieren, oft über mein Vermögen tat: doch kann ich mich nie rühmen, eine Rittertat, würdig seines Beifalls, vollbracht zu haben, als ein Mal, da es Ludwigs Leben galt, und es mir gelang, ihn zu retten.

Zu ihm, zu diesem Könige neigte sich meine ganze Seele hin; ich liebte ihn ihm nicht allein den Fürsten, der der Abgott seines ganzen Volkes war, nicht allein meinen Vater und Versorger, nicht allein den, der, um einem Verlassenen persönliche Lehre und Unterricht zu erteilen, oft die königliche Würde vergaß; nein, auch Ludwig den Heiligen. Mein Pflegevater, Ysembart, und mein Lehrer, St. Remi, lehrten mich ihn bereits bei seinem Leben als ein überirdisches Wesen betrachten, und zeigten mir sichtbar die Glorie um sein Haupt, die ihn einst in himmlischen Welten verherrlichen musste.

Ysembart, der Zeuge seines Lebens, seiner Andacht, und seiner Leiden in Turanschahs Gefangenschaft, zu der Zeit, da den heiligen König niemand beobachtete, war unerschöpflich in kleinen Geschichten, welche meine Andacht zu ihm fast über die Gebühr erhöhten. Es entzückte ihn, das nämliche Feuer für den geliebten König in mir zu entzünden, das in seinem eigenen Herzen glühte. ›Ich bin alt‹, hörte ich ihn einst zu dem Bruder St. Remi sagen; ›es ist billig, daß ich unserm Ludwig bei meinem Tode eine gute Seele hinterlasse, welche, so wie ich getan habe, für sein Bestes wachen wird. Schade ist's, daß unser Montfaucon ein Weib ist; wie nahe könnt' ich ihn, war' er ein Jüngling, an die Person unsers Königs fesseln!‹

›Nicht schade, Ysembart!‹, antwortete der Franziskaner: ›das Geschenk, das ihr ihm in unserer Adelheid macht, ist um desto köstlicher. Kein männliches Herz ist der Stärke und Zärtlichkeit, des Ausdauerns im Elende, der Treue bis zum Tode so fähig, als das weibliche. Unsere Pflegetochter wird mehr für Ludwigen tun, als selbst ihr leisten konntet. Ihr Geschlecht tut hierbei nichts, da es verborgen bleibt.‹

Dankbarkeit, Bewunderung und natürliche Sympathie waren es also nicht allein, was mich für diesen König fesselte, auch der Wille meiner Freunde. Was ich zu Ludwigs Ruhm von Ysembart und St. Remi täglich hörte, das wiederholte mir auch Joinville, nur in etwas nüchternerem, weniger überspanntem Tone, als jene; und was diese drei mir sagten, das bejahte das Volk im Chor, und mein eigenes Herz sprach Amen dazu, da ich Gelegenheit hatte, den mildtätigen, frommen, fehlerlosen König in seinen geheimsten Stunden zu beobachten. Wunsch, diesen Heiligen nachzuahmen; Wunsch, wenn ich dieses nicht könnte, mich wenigstens seinem Dienste ganz aufzuopfern, brannte in meiner Seele, und nichts konnte mich niedergeschlagener machen, als der Gedanke, einst von ihm scheiden zu müssen.

*

Ich wuchs heran: der Herr von Joinville sprach mit mir von den Waffen, und Ysembart nebst dem Franziskaner, ich weiß nicht, ob mit vollem Ernste, vom Kloster. Ich verwarf das eine und das andere, und erhielt, ohne weitere Rücksprache mit einem von meinen Ratgebern zu halten, einst ohne Mühe vom Könige die Anweisung zu dem einzigen Geschäfte, das ich mir im Leben wünschte, eine Stelle unter den Kämmerlingen des heiligen Königs.

Joinville zürnte mit mir, und nannte mich einen weibischen Menschen: meine anderen beiden Vormünder ergaben sich gern in das, was sie, vielleicht Ysembart wenigstens, ernstlich wünschten. Der Franziskaner meinte, die Zeit müssen meinen Beruf bestätigen, und ich könne, fände ich dereinst eine andere Stimme in meinem Herzen, alle Mal noch heimlich dem Hofe entfliehen, und mich dem Kloster widmen.

Zwei Dinge machten mich in der Folge gewiss, wenn ich auch noch irgend gewankt hätte, und der Dienst des heiligen Ludwigs ward und blieb dem Dienste jedes andern Heiligen, welchen mir der Beichtvater vorschlug, unabänderlich vorgezogen.

Der König ward bald nach seiner Rückkunft in sein Land gefährlich krank; der Tod seiner Mutter, der Königin Blanca, der Gram beim Wiedersehen aller geliebten Gegenstände, die er in Frankreich zurück gelassen hatte, nur sie zu vermissen, war es ohne Zweifel, was ihn danieder warf: nie hat man ein Herz voll frömmerer, kindlicher Liebe gefunden, als das seinige.

Seine Gemahlin, die Königin Margarethe, kam bei Tage nicht von seinem Lager, Ysembart, St. Remi und ich waren die Hüter seiner Nächte. In einer Nacht, in welcher ich mit dem ersten die Wache hatte, war es, da mich eine Begebenheit völlig zu jener tiefen Verehrung des heiligen Königs hinriß, welche mich einst lehren wird, auch mein Leben willig für ihn aufzuopfern. Ysembart hatte mich bis um Mitternacht mit dem unterhalten, was er ehedem an der Seite seines Herrn in der orientalischen Gefangenschaft erfuhr, wie nur er, der glückliche Ysembart, den Zutritt bei dem königlichen Gefangenen behielt, nur er sein Tröster in mancherlei Leiden und Demütigungen, sein Pfleger in der fürchterlichen Krankheit war, mit welcher der Heilige damals befallen wurde.

Ich beneidete das Geschick des Erzähler, das ihn so großer Proben der Treue fähig machte. Tränen flössen in seine Worte. Unsere Empfindungen übermochten uns; wir schwiegen beide; der geliebte Kranke schlief; die Kerzen brannten dunkel; rund um uns her ruhte die tiefste Stille der Mitternacht.

Meine Augen waren fest auf eine große Flügeltür gerichtet, welcher ich gegenüber saß; sie öffnete den Eingang zu des Königs Kapelle, und es ist zu erraten, mit welchen Gedanken ich meine Blicke zu dem Heiligtume erhob, wo ich ihn so oft mit der Miene eines Verklärten hatte beten gesehen.

Auf einmal erhob sich ein leises Geräusch im Zimmer: die Flammen der Kerzen wehten, wie von sanftem Winde bewegt; die Tür ging auf, und eine dünne Nebelgestalt schwebte herein, die ich nicht beschreiben kann; sie war zu leicht, zu unwesentlich, um mit irdischen Augen ganz gefasst zu werden.

Ich hatte mir wohl oft in Stunden schwärmerischer Andacht die Erscheinung überirdischer Wesen gewünscht: auf diese hier war ich nicht vorbereitet. Mein Herz schlug hörbar. Ich machte eine Bewegung, als wenn ich mich erheben wollte; da winkte mir mein bejahrter Gefährte mit ernster Miene, zog meinen Sitz dichter zu sich heran, und hielt meine Hand fest in der seinigen.

Ich zitterte, nachdem die Gestalt die Runde im Zimmer gemacht hatte, sie sich dem Bette des erlauchten Kranken nähern zu sehen; ich besorgte irgend ein Übel für ihn, und wollte zum zweiten Male aufstehen; Ysembarts zürnender Blick und seine starke Rechte hielten mich fest auf meinem Orte, bis der Geist von Ludwigs Lager zurück kam, schnell vor uns vorüber gleitete, und in der Tiefe des Zimmers wie Dunst zerfloß.

Wir sahen seinem Verschwinden nach, ich wahrscheinlich mit mehr Empfindung, als mein Beisitzer; denn meine Haare sträubten sich empor, und ein Fieberschauer bebte durch alle meine Glieder. ›Montfaucon‹, sagte Ysembart, nachdem er aufgestanden war, nach dem Könige gesehen, und die Lichter heller brennen gemacht hatte, ›ihr müßt diese Dinge gewohnt werden; die Erscheinung, welche euch so mächtig bestürzt macht, sah ich heute nicht zum ersten Male. Als Ludwig, der wohl mit Recht unter besonderer Obhut guter Geister ruht, zu Mansure dem Tode nahe war, erhellte die nämliche Gestalt unsern Kerker, trat zu des Königs Strohlager, und legte die Hand auf seine Stirn. Dieses Wesen sei was es sei, ich halte es für den Engel der Genesung, und verzage nun nicht an Ludwigs Aufkommen. Er genas auch jenes Mal; der Sultan von Ägypten ließ ihn frei, und wir sahen nach manchen Mühseligkeiten das Vaterland wieder, das wir auf ewig für uns verloren glaubten. Auf alle Fälle sehet ihr, daß dies ein Gesicht guter Deutung ist, und daß wir nicht zu zittern haben.‹

Was der treuherzige Alte voraus zu sehen glaubte, geschah: unser guter König genas. Auf mich tat diese kleine Begebenheit, welche vielleicht bei den Wenigsten Glauben finden wird, die Wirkung, daß sie meinen Entschluss, mich ganz dem Dienste meines frommen Herrn zu weihen, unumstößlich machte.

Teils meiner Bestimmung noch gewisser zu werden, teils mir zu derselben die nötigen Kräfte zu holen, unternahm ich eine Wallfahrt nach dem heiligen Grabe. Ich entfloh heimlich von des Königs Hofe; ich achtete es nicht, alle, die ich liebte, ein Jahr lang in Kummer und Ungewißheit zu lassen, wohin ich geraten, oder was aus mir geworden wäre, und kam in der bestimmten Zeit von dem Orte, den man mit großer Heereskraft und weitläuftigen Anstalten so selten erreicht, glücklich zurück, ohne etwas Anders, als die gewöhnliche Pilgermühseligkeiten, erfahren zu haben.

Mein gewagter Zug, der denen, welche mein Geschlecht und meine natürliche Furchtsamkeit kannten, noch gefährlicher dünkte, erwarb mir überall Liebe und Achtung, und, ich kann mich rühmen, von dieser Zeit an Ludwigs liebster Diener geworden zu sein. Er hörte mich gern von den heiligen Orten sprechen, die ich gesehen hatte, und fasste vielleicht in diesen Augenblicken Entschlüsse, deren Ausführung ich nun mit Entzücken entgegen sehe.

›Himmel!‹, höre ich ihn oft sagen; ›meine Gemahlin, mein Diener haben es gewagt, was ich nicht wagte; gesehen, was ich nicht sah. Steht nur für Ludwigen der Weg zum heiligen Grabe nicht offen? soll nur er nicht an der heiligen, gebenedeiten Stelle knieen?‹ –

So hoff' ich denn zu Gott, meinen Herrn noch ein Mal auf einem Zuge wider die Ungläubigen zu begleiten. O daß er uns nur genau in die Gegenden führen möchte, wohin ich wünsche! Gott verzeihe mir, wenn meine Begierde nach dem heiligen Kreuzzuge nicht das Verlangen ist, das Blut der Feinde des Glaubens fließen zu sehen! Ich bin ein Weib, und verabscheue jeden Blutdurst, auch selbst wenn ihn, wie man sagt, die Religion rechtfertigt: friedliche Andacht zieht mich wieder in jene Gegenden, und dann noch ein Gedanke, der freilich zu profan ist, um einen rechtmäßigen Grund zu einer heiligen Reise abgeben zu dürfen. Ich weiß, es war eine der orientalischen Städte, Gott weiß welche, in welcher ich meine erste Jugend zubrachte, meine Mutter verlor, und meinen Freund Hermann zurück ließ: sollte es nicht möglich sein, dort auf Spuren zu kommen, welche zu meinem Glücke leiteten?

Ich arme Verlassene, Einsame, in die Welt Hingeworfene! wer bin ich? weiß ich auch nur meinen Namen? und ist mir's zu verdenken, wenn ich Sehnsucht nach dieser Kenntnis fühle? – O du mein unbekannter Freund und Verwandter, an den ich diese Blätter richte! nicht denkbar ist dir meine traurige Lage, nicht denkbar die Sehnsucht, mit welcher ich dem Augenblicke, der uns vereinigen soll, entgegen sehe.

Seit ich die Welt sah, seit ich besser beurteile, welch seliges Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern und Blutsverwandten Statt findet, seitdem fühle ich mit doppelter Bangigkeit, wie einsam ich bin; noch mehr fühle ich es, seitdem mein Pflegevater Ysembart und der fromme St. Remi nicht mehr sind. Mit ihnen ist alles Irdische mir abgestorben; kein Sterblicher weiß jetzt mehr um meine wahre Lage. Sollte Ludwig sterben – früher Tod ist ihm geweissagt – sollte ich dann, wie gewiss geschehen wird, dieses Lebens müde werden, und mich nach der Stille eines Klosters sehnen, wer soll mir dann in die heiligen Schatten verhelfen? – Sollte ich selbst frühzeitig ins Grab sinken – und solche Ahndung schwebt mir oft vor – welche Beschimpfung hat mein Andenken noch nach dem Tode zu gewarten? Wird nicht selbst der edle Joinville, auf dessen Beifall mir nächst Ludwigs alles ankommt, wird er nicht mit Verachtung, Misstrauen und dem schimpflichsten Verdachte auf das verkappte Mädchen hinsehen, mich eine Falsche, eine Betriegerin, Gott weiß, was alles schelten, anstatt meine Asche zu segnen, und für die Ruhe meiner Seele zu beten? O du, dem ich mich einzig anvertrauen möchte, dessen Erscheinung mir auf mein Gebet verheißen ward! Freund, Bruder oder Verwandter! komm bald! mein Schicksal gebietet Eile.«


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