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Ein wieder gefundener Hermann

Conrad fand im Lager die größte Unordnung. Die Seuche hatte in der kurzen Zeit, welche zwischen der Einladung des Seneschalls und der Ankunft des Geladenen verfloß, einen fürchterlichen Fortgang gehabt; die Ebene, welche von den französischen Gezelten bedeckt wurde, glich mehr einem großen Siechhause, als einem Heerlager. Die Vergiftung der entzündeten Luft ward mehr als einem Sinne merkbar, so wie man sich der Gegend näherte, welche mit einem bläulichen, übel riechendem Dunste bedeckt war. Kranke, Tote und Trauernde traf man auf jedem Schritte; auch die, welche den Namen von Gesunden führten, hatten ein bleiches, schmachtendes Ansehen, und aus ihren hohlen Augen sprach die Gewißheit, bald das zu werden, was ihre beweinten Brüder waren. Das Entsetzen, welches hier herrschte, war diesen Morgen durch die Zeitung vermehrt worden, welche sich allgemach ausbreitete, und die man lange genug verschwiegen hatte, um es nun nicht länger zu können. Auch der König, der gute Vater seines Volks, von ihm aufs innigste geliebt, ungeachtet er es hierher den Weg zum Grabe geleitet hatte, auch er sei gefährlich befallen worden, befallen mit der hier wütenden Seuche, die uns die Geschichtsschreiber nicht scheußlich genug beschreiben können.

Conrad fand viele der Krieger, die wohl um sich und ihre nächsten Freunde zu trauern hatten, weinend und händeringend über den Tod des guten Königs, den man vor Augen sah, und hier und da schon als geschehen beklagte.

Ludwig lebte noch; aber die Bestätigung seiner äußersten Gefahr fand der deutsche Ritter in den Augen des Herrn von Joinville, der ihm, sobald er sich den königlichen Gezelten nahte, entgegen kam.

»O Herr von Feuchtwangen!«, schrie der Freund des Königs von Frankreich; »wozu habe ich euch eingeladen? zur Trauer um das, was ihr kaum wieder gefunden habt! Vielleicht zum eigenem Tode! – O kehrt zurück! kehrt zurück, wenn ihr euch noch retten wollt! Wäre das Übel hier bereits so verzweifelt gewesen, da ich meinen Brief abgehen ließ, als es nun ist, ich hätte ihn nicht geschrieben.«

»Da hättet ihr unrecht getan, Herr von Joinville!«, versetzte Conrad.

»Die Kranken bedürfen der Wartung der Gesunden; für völlig gesund halte ich mich, seit ich in diesen Gegenden bin: auch ihr seht noch ganz wohl aus; wir beide können hier mächtig viel Gutes schaffen.«

Joinville schwieg und weinte; denn er dachte an Ludwig.

»Was macht der König?«, fragte Conrad, der den Gegenstand von Joinvilles Gedanken erriet.

»Er ist äußerst schwach.«

»Kann ich ihn sprechen?« – –

»Unmöglich! er sieht niemand mehr, als seinen Beichtvater, mich, und die Personen, welche unmittelbar zu seiner Wartung nötig sind.«

»Aber meinen Bruder?«

»Den Herrn von Montfaucon? Schwerlich. Er kommt fast nicht von dem Könige. Ich besorge, der Grund zu seinem eigenen Tode ist an Ludwigs Krankenlager schon gelegt. Montfaucon ist ein geborner Hospitaliter; er tut offenbar zuviel. Was allen zusammen zu schwer ist, verrichtet er allein! – Ich weiß nicht, ob wir ihn zu sehen bekommen, bis das Ärgste, das ich für unvermeidlich halte, erfolgt ist. Doch folgt mir! Gelingt es mir, den Namen seines Verwandten vor seine Ohren zu bringen, so erscheint er uns vielleicht wenigstens auf Augenblicke.«

Der deutsche Ritter folgte dem Seneschall in das Zelt, das dem königlichen das nächste war. Leise Botschaften von Ludwigs Krankenlager wurden hier mit Gebeten und Tränen vermischt, von Einem zum Andern geflüstert. Joinville ging ab und zu. Der Mann, in welchem Conrad einen Bruder zu finden hoffte, erschien nicht. Er dachte vor Ungeduld, Angst und Kummer zu vergehen. Endlich gegen die Nacht kam der erwünschte Anblick. In Joinvilles Arme trat ein schlanker, bleicher Jüngling, welcher dem Herrn von Feuchtwangen die Rechte entgegen streckte, und ihn mit einem: »Ist's möglich! Ist's möglich?« bewillkommte.

Conrad sah eine Gestalt, die er unter den Höflingen des Königs sehr oft bemerkt hatte, die ihm aber immer, so schön sie auch sein mochte, sehr gleichgültig gewesen war. Wenigstens den wackern Hermann, der schon in seinem zehnten Jahre höhern Wuchs und mehr Männlichkeit versprach, als dieses zarte Geschöpf, ihn, den er jetzt als einen dreißigjährigen, völlig ausgebildeten Helden wieder zu sehen hoffte, hätte er in dieser Gestalt nicht vermutet.

*

»Ist's möglich«, schrie Montfaucon, »für den, der so lange Jahre nie einen Verwandten kannte, in dem bewunderten Ritter Conrad von Feuchtwangen so nahe am Grabe noch einen zu finden?«

»Und ihr seid also wirklich mein Bruder?«, stammelte Conrad.

»Bruder, oder wie ihr mich nennen wollt! mir ist's genug, daß ich euch angehöre! – Himmel! Himmel! so werde ich also nicht ganz verlassen sterben! so werde ich die Geheimnisse meines Herzens vor meinem Tode noch in einen verwandten Busen ausschütten können! So wird noch jemand sein, der mir über die dunklen Tage meines frühern Lebens ein Licht aufstecke! Herr von Feuchtwangen, ihr wisst ohne Zweifel alles, und von euch werde ich erfahren« – – –

Hier eine Botschaft vom Könige, der Herr von Montfaucon sollte eilig kommen, um den hohen Kranken beim Gebete zu unterstützen, das er, so schwach er war, immer auf bloßer Erde kniend zu verrichten pflegte. Der junge Mensch schüttelte seinem neu gefundenen Bruder noch einmal mit einer Träne im Auge die Hand, und flog dahin, wohin man ihn rufte. Joinville ging mit ihm, und es war Conraden also nicht möglich, das, was er dachte, gegen irgendjemand laut werden zu lassen.

Er verließ das Zelt, und ging ins Freie. Allzu weit durfte er sich nicht entfernen, weil er nicht wusste, was für wichtige Augenblicke er vielleicht durch seine Abwesenheit versäumte: er wählte also zu seinem Spaziergange den Begräbnisplatz, wo sich in wenig Tagen Totenhügel zu Totenhügeln gehäuft hatten, und den man – freilich sehr schicklich – wie es denn in diesem Lager nicht an seltsamen Anstalten fehlte – in der Nähe des königlichen Zeltes gewählt hatte. Conrad ging in Gedanken verloren zwischen Gräbern umher: doch waren Grab und Tod nicht das Einzige, was ihn hier beschäftigte; dieser neu gefundene Bruder, dieser seinsollende Herrmann riss all seine Aufmerksamkeit an sich. Es war unmöglich; er konnte es nicht sein. Wuchs, seine Züge, sein Charakter, nichts stimmte mit dem Bilde überein, das er sich aus Hermanns Knabenjahren von seinem männlichen Alter machen konnte; und sein mutmaßliches Alter, selbst dieses gab reichlichen Stoff zu neuen Zweifeln.

Conrad konnte nicht begreifen, wie dieser zarte Jüngling vor zwanzig Jahren schon als Kind in die Hände des Seneschalls könne gekommen sein. Der schüchterne Blick der Weltunerfahrenheit, die sanfte süß tönende Stimme, selbst die Leichtgläubigkeit, mit welcher dieser Montfaucon gleich bereit war, den, der sich seinen Bruder nannte, voll Entzücken aufzunehmen, und ihm volles Zutrauen zu schenken, selbst das weiße mit blauen Adern durchzogene Kinn, um welches sich noch kein Härchen krümmte, sprach von seiner Jugend, und ließ ihn glauben, Joinville habe ihn mit der ganzen Erzählung zum besten gehabt.

Doch war dies wohl die Zeit zu ähnlichen Scherzen? hätten sie nicht wenigstens heute widerrufen werden müssen? heute, da alles hier das traurigste Ansehen trug? –

Während Conrads Anwesenheit auf dem Begräbnisplatze öffneten sich mehrere Gräber, neue Leichname zu empfangen, man gab ihnen ur wenige Hände voll Erde; damit die Seuche ja unaustilgbar bliebe, so lange ihr gieriger Zahn hier noch Menschenleben zu würgen fand.

*

Conrad nahm sich ernstlich vor, mit dem Seneschall, so bald er ihn sähe, auch hierüber zu sprechen; aber als dieser erschien, kein Wort weder von Montfaucon noch von den schlecht verwahrten todatmenden Grabhügeln: die Nachricht, die der Ankommende im Munde führte verscheuchte jeden andern Gedanken, und ließ Conraden auf einige Zeit sich selbst vergessen.

»Ach!« schrie Joinville, dem man den Ort, wo der deutsche Ritter sei, gemeldet hatte, und der sich ihm jetzt mit dem höchsten Ausdrucke des Schmerzens in seine Arme warf: »ich kann ihn nicht sterben sehen, ich kann den besten König nicht sterben sehen! Alles, alles ist vorüber, nach einigen schrecklich durchkämpften Stunden – das öftere Brustschlagen und der Name der heiligen Stadt, der fleißig über seine Lippen ging, zeigte von seinen Sorgen – liegt er nun in Totenmattigkeit, stille, sprachlos und mit lechzender Zunge. Die Arzte sagen, einige Tropfen kühles Wasser können ihn laben, vielleicht retten; aber ist das Wasser, das wir hier haben, auch ein Labetrank? Eher findet ihr bei uns die teuersten Weine, als das, was in unserm schönen Europa Erquickung des gemeinsten Bettlers ist!«

»Wasser? kühles Wasser?«, schrie Conrad; »das mangelt euch? sah ich nicht bei meiner Überkunft in dem Wäldchen, eine Viertelstunde vom Lager, einen klaren Quell? Und das ist euch unbekannt? Doch keine Beschreibung dessen, was eure verblendeten Augen übersahen! Lebt wohl, Seneschall! in kürzerer Zeit, als ihr denken mögt, bin ich wieder bei euch, eurem Könige die Labung zu bringen, nach welcher er schmachtet.«


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