Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Achtzehntes Kapitel.

Ein neues Leben

Wir setzten unsere Reise zu Wasser an der Eiskante entlang fort. Am 14. Juni gingen wir an einer Stelle an Land, wo zwei sehr große Gruppen von Walrossen auf dem Eise lagen und einige daneben tauchten und schnauften. Es roch weithin nach Walrossen. Eine solche Menge hatten wir noch nie gesehen, es mußten mehrere Hundert sein. Wir hatten sowol Fleisch wie Speck nöthig: hier war von beidem genug vorhanden.

Nansen schoß aus der einen Gruppe zwei junge Walrosse (von den ausgewachsenen hatten wir genug bekommen!), doch als wir hinzuspringen wollten, um sie zu holen, nahmen die Walroßmütter ihre Jungen unter der Finne mit, und wir standen mit langen Gesichtern da. Dann gingen wir nach der andern Gruppe und schossen dort ein Junges sammt der Mutter; nun mußte sie da bleiben.

Von der Mutter nahmen wir den Speck und füllten unsere Kajaks damit; von dem Fleische des Jungen kochten wir uns einen gehörigen Topf voll und schwelgten in frischem Fleische. Die Rippenstücke des jungen Walrosses waren wirklich gut, sie schmeckten wie Hammelfleisch. Im Laufe des Tages hatten wir auch so viele Alke geschossen, daß das ganze Deck der Kajaks voll war; wir waren also wieder gut mit Nahrungsmitteln versehen.

Nach einem Bären hatten wir uns in der letzten Zeit sehr gesehnt; aber wie gewöhnlich: wenn man jemand braucht, so kommt er nicht. Jetzt konnte es uns auch einerlei sein, da wir entdeckt hatten, daß die jungen Walrosse so gut schmeckten.

Nachdem wir geschlafen und wieder gegessen hatten (wir suchten es so einzurichten, daß wir nur ruderten, wenn die Strömung uns half), zogen wir mit zusammengebundenen Kajaks weiter, um besser gegen etwaige Angriffe von Walrossen gesichert zu sein, von denen es im Wasser und auf dem Eise wimmelte. Ja, wir konnten hören, daß sie ab und zu unter uns im Wasser schnauften, ohne zum Vorschein zu kommen. Von Zeit zu Zeit lösten wir die Kajaks, mußten sie aber alle Augenblicke wieder zusammenbinden, sobald die Walrosse uns zu nahe kamen.

Die Nacht auf den 15. Juni hindurch zogen wir bei stillem, schönem Wetter dahin. Allmählich wurden es weniger Bestien, und schließlich waren wir allein.

Als der Morgen kam, ruderte ich voran, Nansen dicht hinterdrein. Da tauchte ein Stückchen vor uns ein einzelnes Walroß auf, verschwand aber, sobald es uns erblickte.

»Wir wollen sehen, wo es wieder erscheint«, sagte ich; »hier liegt es sich so fein.«

Unter der Wasserfläche sprang ein Eisfuß ein paar Meter vor, und die Eiskante war hier niedriger, als sie sonst zu sein pflegte. Hier machten wir halt, hatten dies aber kaum gethan, als das Walroß auch schon dicht neben Nansen's Kajak auftauchte, das außen und ein wenig hinter dem meinigen lag. Plötzlich und unerwartet kam das Ungethüm aus der Tiefe emporgeschossen; schnaubend und die langen Hauer zeigend, legte es die Vorderfinne auf den Rand des leichten Fahrzeugs, um es zu kentern.

Nansen drückte sich an den entgegengesetzten Rand und schlug das Walroß mit dem Ruder auf den Kopf. Die Bestie drehte den Kopf ein wenig, richtete sich im Wasser höher auf und schien zu mir, der ich mit dem Ruder bereit stand, kommen zu wollen. Doch plötzlich wurde sie andern Sinnes, warf sich mit solcher Wucht im Wasser herum, daß es hoch aufschäumte, und fort war sie.

Dies ging sehr schnell vor sich, und wir glaubten, jetzt würde weiter nichts erfolgen. Aber plötzlich sagte Nansen:

»Ich muß ans Land, schnell, die Bestie hat mir ein Loch in das Kajak gerissen!«

Ein Glück, daß wir auf dem Eisfuße waren. Das Kajak stand bald auf dem Grund, Nansen stieg aus, und ich brachte sein Kajak in eine Bucht an der Seite, wo die Eiskante sehr niedrig war. Es war ein großer Riß seitwärts am Vorderende des Kajaks, durch den das Wasser einströmen konnte. Ich mußte daher das Fahrzeug auf der andern Seite so mit der Hand niederdrücken, daß das Loch sich über die Wasserlinie erhob, während ich mit der andern Hand beide Kajaks ans Land ruderte und Nansen mit der Flinte auf der Scholle bereit stand, um das Walroß zu empfangen, falls es von neuem kommen sollte. Einige von den Alken, die wir unterwegs geschossen hatten, fielen ins Wasser und trieben fort. Ich ging nachher hinaus und fischte sie wieder auf.

Glücklicherweise war das Wetter schön und das Eis, auf dem wir uns niederließen, gut und eben; nur beim Wasser war es schlecht und weich. Nansen war bis über die Knie hinauf naß geworden; die durchnäßten Sachen nahmen wir aus seinem Kajak heraus und breiteten sie zum Trocknen aus. Den Schlafsack faßten wir an beiden Enden an und rangen ihn aus, bis er einigermaßen trocken war, krochen dann in die Koje und verschliefen die ganze Walroßgeschichte.

17. Juni abends. Große Dinge sind geschehen: wir haben drinnen im Lande Hunde bellen gehört!

Nachdem das Loch in Nansen's Kajak ausgebessert und die Fugen beider mit geschmolzenem Stearin verpicht worden waren, wollten wir heute weiter ziehen. Diesmal war Nansen an der Reihe, das Kochen vor dem Aufbruche zu besorgen.

Nachdem er den Topf mit jungem Walroßfleisch und Seewasser gefüllt und das Feuer in Gang gebracht hatte, kletterte er auf einen nebenan liegenden Eishügel, den wir schon mehrmals bestiegen hatten. Nach einer Weile rief er mir, der ich noch im Halbschlafe im Sacke lag, zu:

»Johansen, ich höre drinnen im Lande Hunde bellen!«

Ich schnell aus dem Sack und den Hügel hinauf. Dort horchte ich eine Weile, während Nansen sich mit dem Kochen beschäftigte. Ich war mir nicht klar darüber, ob das, was ich ein paarmal hörte, Hundegebell oder der Lärm von Tausenden von Vögeln sei, die auf den Bergen landeinwärts nisteten. Es wurde beschlossen, daß Nansen nach dem Lande hinübergehen und die Sache untersuchen sollte, während ich zurückbleiben und unser Eigenthum bewachen mußte, damit es uns nicht ausrückte; denn das Eis, auf dem unser Lager war, konnte sich sehr leicht loslösen und nach der See treiben.

Während des Essens erschöpften wir uns in Vermuthungen, wer es sein könnte, falls dort Menschen wären. Vielleicht war es die englische Expedition, von der die Rede war, als wir mit der »Fram« abreisten? Oder der Norweger Ekroll? Waren es überhaupt Menschen, so mußten wir bei ihnen eine ordentliche Ausrüstung bekommen können und erfahren, wo wir uns befanden.

Nachdem wir gegessen hatten, nahm Nansen mein Gewehr, da dieses mit einem Riemen versehen war. Wir besaßen jetzt jeder nur noch anderthalb Schneeschuhe; er bekam deshalb meinen ganzen, sodaß er ein benutzbares Paar hatte; den Aluminiumfeldstecher hing er sich um und versah sich reichlich mit Patronen. So ausgerüstet zog er ab, nachdem wir erst noch die Verabredung getroffen hatten, daß ich ein Hemd auf einer Bambusstange aufhängen sollte, damit er sehen könnte, wo ich war.

Als Nansen fort war, ging ich auf den Hügel und lauschte wieder. Noch immer hörte ich den Lärm der Vögel. Nansen konnte doch diesen nicht für Hundegebell gehalten haben?

Plötzlich erschallte, durch den Wind vom Lande hergetragen, das Gebell mehrerer Hunde mit rauhen und feinen Stimmen; mehrere male schlug es so deutlich an mein Ohr, als wäre es ganz in der Nähe auf dem Eise und nicht landeinwärts, in einer Entfernung von mehr als 5 Kilometer. Jetzt war ich überzeugt: dies kann nichts anders als Hundegebell sein, und dort müssen sich Menschen befinden.

Wie eigenthümlich, nach einem so langen Aufenthalte in der Wildniß wieder mit Menschen zusammenzutreffen! Es ist beinahe unfaßbar! In seliger Erwartung klettere ich den Eishügel hinauf und hinunter und lausche. O, möchte Nansen doch Leute finden und bald wieder hier sein!

Immer gespannter wurde ich auf die Auflösung dieses Räthsels. Mein eines Hemd flatterte hoch oben auf einer langen Stange auf dem Eishügel und mußte, so schwarz, wie es gegen das weiße Eis abstach, weithin zu sehen sein.

Endlich sah ich dann und wann auf dem hügeligen Eise am Lande einen dunkeln Punkt erscheinen und wieder verschwinden. Ich glaubte erst, es sei Nansen, der zurückkehrte; aber bald bemerkte ich, daß der Mann keine Schneeschuhe hatte, und als er näherkam, erblickte ich auf seiner Schulter einen langen Gewehrlauf. Es war ein fremder Mann – der erste seit drei Jahren!

Ich eilte hinunter, holte eine unserer Flaggen und hißte sie neben dem Hemde auf, damit der Fremde sehen sollte, welche Nation hier vertreten war. Jetzt sah ich, daß der Mann einen reinen, civilisirten Anzug trug und sein Gesicht reingewaschen war; ich konnte ihn stark atmen hören und sah ihn dann und wann in den Schnee fallen. Er trug hohe, bis zu den Hüften reichende Stiefel.

Ich eilte ihm entgegen; er schwenkte die Mütze, ich meinen alten, fettigen Hut, und bald drückten wir einander die Hand.

» English?« fragte er.

» No«, sagte ich.

Leider war ich seiner Sprache nicht mächtig. Ich versuchte es also mit dem Deutschen und dem Französischen, aber leider konnte keine Verständigung zu Stande kommen. Und dennoch herrschte Verständniß zwischen uns, das aus dem Herzen kam.

Herr Child – so hieß der Mann – hatte sich sofort auf den Weg gemacht, als er von Nansen gehört hatte, daß dieser draußen an der Eiskante einen Kameraden zurückgelassen habe. Nansen hatte nur noch Zeit, ihm nachzurufen, daß ich des Englischen nicht mächtig sei.

Ich führte ihn nach dem Lager. Als er unsere Schlitten und Kajaks, unser schlechtes Zelt, das Kochgeschirr mit dem Speck und dem Fleische erblickte, da sah ich seine schönen dunkeln Augen bald mich, bald die Sachen anschauen, und Verwunderung prägte sich in seinen Zügen aus. Ich bediente mich, so gut ich es verstand, der Zeichensprache. Nachdem wir uns gegenseitig eine Weile verwundert hatten, gesellten sich noch zwei Männer zu uns.

Es waren die Herren Burgeß und Fisher. Dieselbe herzliche Begrüßung, dieselbe Verwunderung; der eine sprach ein wenig Deutsch und Französisch, aber sie thaten so viele Fragen und wollten über so vielerlei aufgeklärt sein, daß ich sie nicht im entferntesten zufrieden stellen konnte. Sie warteten deshalb darauf, bis ein Finne Namens Blomqvist käme.

Endlich traf dieser ein, und noch zwei mit ihm; es waren, wie ich hinterher erfuhr, Dr. Koetlitz und der Zweitkommandirende Herr Armitage. Sie brachten zwei prächtige Schlitten mit, die sofort meine Aufmerksamkeit erregten; die müssen gewiß aus Norwegen sein, dachte ich.

Nun hielt ich eine kleine Ansprache an Blomqvist, eine kraftvolle Erscheinung mit scharfgeschnittenem Gesicht, die mich an Runeberg's Gestalten erinnerte. Ich erzählte ihm schnell die Geschichte der Expedition in großen Zügen; daß wir die »Fram« verlassen hätten, bis 86° 14' vorgedrungen seien und nördlich von hier überwintert hätten, ohne zu wissen, wo wir uns befanden, da unsere Uhren stehen geblieben u. s. w.

»Erzählen Sie es nun den andern«, sagte ich.

»Versteh' den Herrn nicht!« sagte er.

Er hatte so lange unter Ausländern gelebt, daß er seine Muttersprache beinahe vergessen hatte, und sich über das, was ich ihm in zusammengedrängter Form erzählt hatte, erst ein bischen besinnen mußte. Deutsch ging jedoch die Conversation tadellos; der Doctor war in Deutschland geboren und fungirte nun als Dolmetscher.

Armitage holte eine Feldflasche hervor, schenkte einen Becher Portwein ein und bot ihn mir an. Alle nahmen die Mützen ab und entblößten Hauptes brachten sie, zu unserer Flagge emporsehend, ein Hoch auf Norwegen aus.

Meine Gefühle in diesem Augenblick lassen sich eher denken, als beschreiben. Da stand ich mitten unter diesen liebenswürdigen Leuten, ein schwarzer, häßlicher, zerlumpter Wilder mit langem Haar, plötzlich der Civilisation wiedergegeben in einer Gruppe fremder Menschen, die nach Seife und reiner Wäsche dufteten! Um uns herum dehnte sich das Eis, mit dem wir beide diese Jahre hindurch gekämpft hatten, und dort oben wehte die Flagge, die ich vertrat, das fühlte ich – nie hatte ich es so gefühlt, daß ich ein Vaterland habe, wie damals! –, und erhobenen Hauptes leerte ich den Willkommensbecher, während das Hurrah der Engländer auf dem Eise widerhallte.

Wir brachen das Lager ab. Mit aufrichtiger Befriedigung schüttete ich nun unsern Vorrath an Fleisch und Speck aus; jetzt brauchte all dieses nicht mehr mitgeschleppt zu werden: dort, wohin wir gingen, gab es sicher etwas zu essen.

Die Alke, die Nansen und ich geschossen hatten, lagen auf einem Haufen auf dem Eise. Die Engländer schnitten ihnen den Kopf und die Füße ab, um ein Andenken an diese Stunde mit nach Hause zu nehmen. Ich durfte gar nichts thun, ich mußte nur sagen, wie ich alles transportirt haben wollte, und ich vergaß nichts von unserm schlechten Hab und Gut. Ich wollte nicht, daß von dem, was uns bisher so sehr von Nutzen gewesen war, auch nur das Geringste hier liegen bleiben sollte.

Dr. Koetlitz hatte mir sogleich eine Pfeife in den Mund gesteckt, und Child versah mich augenblicklich mit einem wohlgefüllten Tabacksbeutel. Dann zogen wir auf das Land zu, drei vor jedem Schlitten. Ich lief los und ledig auf den mangelhaften Schneeschuhen nebenher und rauchte meine Pfeife, und wenn sie sich ausruhten, mußte ich Dr. Koetlitz von unserer Reise erzählen.

Jetzt waren wir schon so nahe, daß ich die Ansiedelung der Engländer, ein großes Haus und vier kleine, auf dem Strande sehen konnte. Als wir näher kamen, erblickte ich vor dem größten Hause Nansen, der gerade in seiner ganzen häßlichen Schmutzigkeit mit den zottigen Haaren photographirt wurde. Ich schwenkte den Hut, und er schwenkte den seinen zum Gruße. Ich sagte ihm, daß dies von all unsern verschiedenen Reisearten im Treibeise die beste sei, die ich erprobt hätte, worin er mit mir ganz übereinstimmte.

Jetzt kam mir der Chef der Expedition, Herr Jackson, entgegen; Nansen war Dolmetscher. Was gesagt wurde, darauf achtete ich eigentlich wenig; der Händedruck, den er mir gab, und sein heiteres, wohlwollendes Gesicht sagten mir, daß die bekannte englische Gastfreiheit an ihm einen vorzüglichen Vertreter habe. Hier traf ich auch Herrn Hayward, den Koch, der eiligst Waschwasser für die beiden angekommenen Wilden heiß machen mußte.

Nansen hatte, nachdem er mich verlassen, auf dem Wege wieder Hundegebell gehört und war schließlich einem Manne mit einem Hunde begegnet; es war Jackson. Es gab eine herzliche Begrüßung. Sie hatten alle beide ihre Gewehre abgeschossen; es war merkwürdig, daß ich es nicht gehört hatte, vermuthlich hatte der Wind gerade zum Lande geweht.

Nansen hatte schon gespeist. Nun kam die Reihe, an dem reichbesetzten Tische Platz zu nehmen, an mich. Ich saß auf einem richtigen Stuhle und aß mit Messer und Gabel, hatte vor mir Butter und Brot, Zucker, Thee, Chocolade u.s.w., lauter civilisirte Genüsse. Ich sah meinen Anzug, sah meine schmutzigen, fettigen Hände an und wußte nicht recht, wo ich damit bleiben sollte.

Da kam einer und hielt mir von ungefähr einen Spiegel vors Gesicht. Du lieber Himmel, welcher Anblick! Ich mußte lachen, kannte ich mich doch kaum selbst wieder. Dann aber nahmen wir ein warmes Bad mit Seife und Handtüchern, und das war von allem das Beste. Ah, welch ein Hochgenuß, dem über ein Jahr alten Schmutze Lebewohl sagen zu können! Und dann wieder reine Wäsche anzuziehen, wovon wir mehr als einmal gesprochen hatten!

So begannen jene unvergeßlichen Tage in Jackson's Station Elmwood auf Kap Flora. Jeden Tag wurde aus London ein Schiff erwartet. Es sollte erst eine Tour an der Westküste des Landes entlang machen und dann den Kurs nach Hause richten.

Nansen wurde in Jackson's Zimmer einquartirt, und Dr. Koetlitz zog aus Armitage's Stube aus und überließ mir den Platz bei seinem Kameraden. Die übrigen schliefen in dem gemeinschaftlichen großen Zimmer, in dessen Mitte ein prachtvoller Ofen stand, auf dem Fußboden. An den Wänden und der Decke standen und hingen Bücherbretter; die Gewehre hatten ihren Platz in einer Ecke, wo auch eine große Spieluhr stand. Ueberall hingen Photographien und Bilder: ja, hier sah es anders aus als in unserer Hütte droben im Norden! Wir erhielten schöne, reine wollene Nachthemden und vor jeder Mahlzeit Waschwasser und Seife!


Die Zeit vergeht schnell und angenehm. Wir werden in jeder Weise bedient; diese liebenswürdigen Leute wetteifern förmlich, uns das Leben so gemüthlich wie nur möglich zu machen; sie sind voll Bewunderung über unsere Reise, da sie sich alle für arktische Forschung interessiren.

Ich begann sofort mit dem Englischlernen. Nansen und Dr. Koetlitz waren mir dabei behülflich; der letztere suchte einige englische Witzblätter heraus und war unermüdlich, mir den Text ins Deutsche zu übersetzen. Blomqvist hatte ein altes englisch-schwedisches Wörterbuch; dieses half mir sehr, und dann fand ich in der Bibliothek alle Cooper'schen Romane, die ich aus frühern Jahren so gut kannte. Es dauerte gar nicht lange, so sagte Nansen, in Zukunft werde er mit mir nur englisch sprechen.

Es kommt uns ganz eigenthümlich vor, daß wir jetzt täglich so viele Mahlzeiten haben, nachdem wir so lange Zeit hindurch gewohnt gewesen sind, in vierundzwanzig Stunden nur ein- bis zweimal zu speisen. Wir essen aber jetzt bei jeder Mahlzeit doch ebensoviel wie sonst und finden durchaus nicht, daß es zu oft ist, sondern freuen uns jedesmal, wenn das Essen auf den Tisch kommt.

Merkwürdigerweise sind Nansen und ich bedeutend stärker geworden, seit wir die »Fram« verlassen haben; das kommt wol von dem Stillliegen in der Hütte und der ausschließlichen Bärenfleisch- und Speckdiät. Hier sieht es auch nicht danach aus, als würden wir wieder »abnehmen«.

Als Jackson mit seiner Expedition von Europa abreiste, nahm er Briefe aus Norwegen für Nansen und einige andere an Bord der »Fram« mit; es konnte ja sein, daß die beiden Expeditionen einander begegneten. Den Blechkasten, in dem die Briefe waren, erhielt Nansen sofort, als wir bei Kap Flora ankamen. Es waren zwei Jahre alte Briefe darin an ihn und einige Kameraden, an mich keiner; aber Nansen erhielt nur gute Nachrichten.

Jetzt konnten wir auch herausbekommen, wie es sich mit unsern Beobachtungen verhielt, da Armitage Nansen's Uhr längere Zeit mit dem Chronometer in Elmwood verglich. Wir überzeugten uns, daß unsere Länge doch nicht so verkehrt gewesen war und der Gang der Uhren sich gut gehalten hatte. Nun lösten sich also alle Räthsel, wenn man den Mangel an Uebereinstimmung zwischen Payer's Karte und dem Lande, wie wir es auf unserer Fahrt gefunden hatten, ausnimmt.

Nansen begann sofort, eine Karte von Franz-Joseph-Land nach unsern Aufnahmen und nach der Karte, die Jackson über seine Reise auf diesen Inseln aufgenommen hatte, auszuarbeiten. Ich machte mich daran, unsere meteorologischen Beobachtungen seit unserm Abschiede von der »Fram« aus Nansen's Tagebuch zusammenzustellen und zu copiren, eine Arbeit, die oft schlimm genug war, weil Fett und Schmutz die Zahlen manchmal beinahe unleserlich gemacht hatten.

Eines Tages kam ein Bär vom Ufer her auf das Haus zu spaziert. Nansen und Jackson eilten hinaus, jener mit der Flinte, dieser mit dem photographischen Apparate. Jackson wollte versuchen, ihm so nahe wie möglich zu kommen, um ein gutes Bild von dem Raubthiere in seiner Freiheit zu erhalten; der Bär ging ihnen jedoch aus dem Wege. Nansen schickte ihm ein paar Schüsse nach, worauf er hinfiel und im Schnee zu kratzen begann.

Wir übrigen standen alle oben auf dem Uferrande und schauten zu, wie der Bär fortzukommen versuchte. Manchmal machte er einen Ausfall gegen zwei Hunde, die ihm zu dreist wurden; der eine wurde in der Seite gepackt und fortgeschleudert, dem andern, der der flinkste Bärenhund war, wurde an dem einen Fuße die Pulsader aufgerissen. Jackson wollte, nachdem er die gewünschten Photographien aufgenommen hatte, dem Bären mit dem Revolver den Garaus machen und gab ihm zwei Schüsse in den Kopf; doch nun wurde das Thier ganz wüthend und fauchte, biß und schlug mit den Tatzen um sich, während sein Blut den Schnee roth färbte. Eine Flintenkugel in den Schädel machte seinen Leiden ein Ende.

Hinter dem Platze, auf dem das Haus lag, ging es einen hohen, steilen Abhang hinauf, und über diesem erhob sich ein Basaltberg mit einer Gletscherdecke lothrecht in die Luft. In den Wänden dieses Berges nisteten eine Menge Vögel, Alke und verschiedene Mövenarten. Wir hörten sie immer kreischen, sobald wir aus dem Hause kamen.

Droben auf dem Abhange zu sitzen und die Alke zu schießen, die zwischen dem Berge und den offenen Stellen im Eise pfeilschnell hin- und herflogen, war eine herrliche Jagd, und kein Tag verging, an dem wir nicht gebratene Alkenbrüste gespeist hätten. Jackson zog auch mit langen Leitern aus und nahm Eier aus den Nestern an den steilen, brüchigen Basaltfelsen; diese großen Eier, die wir zu jedem Frühstück bekamen, waren außerordentlich wohlschmeckend.

Armitage oder Dr. Koetlitz und ich machten gewöhnlich am Vormittag einen Spaziergang in der Umgegend der Station. Am 28. Juni ging eine kleine Expedition nach Kap Gertrud ab; sie bestand aus Armitage, dem Doctor, dem Botaniker Fisher und mir. Wir zogen am Morgen aus und kamen abends wieder heim. Es that mir gut, in den stillen Tagen eine längere Tour machen zu können. Den größten Theil des Weges gingen wir auf Schneeschuhen über einen Gletscher. Es waren prächtige Menschen, mit denen ich zusammen war. Wir hatten gute Schneeschuhe; sie waren für die englische Expedition durch Nansen's Bruder in Norwegen bestellt worden. Auf Kap Gertrud fanden wir Walroßzähne, versteinertes Holz, Walfischknochen, Sandsteine im Basalt und noch verschiedenes andere.

Eines Tages machte ich allein einen Ausflug. Ich wollte zum Gletscher auf dem Gipfel des Berges hinauf und über ihn hinweg nach der andern Seite der Insel hinunter. Als ich endlich oben angekommen war, hüllte ein so dichter Nebel die Spitze ein, daß ich die Hand nicht vor den Augen sehen konnte und mich beinahe nicht vom Flecke zu rühren wagte, da ich von dem abschüssigen Felsen leicht hätte abstürzen können. Nun mußte ich den Weg, auf dem ich gekommen war, auf Schneeschuhen im Zickzack mit kleinen Schritten wieder hinuntergleiten, und kam auf diese Weise schließlich aus dem Nebelgürtel heraus.

Ich stieß auf eine Moräne und sammelte dort in einen mitgebrachten Sack einige Versteinerungen, die ich Nansen gab. Er und der Doctor gingen ab und zu zusammen auf die Jagd nach Versteinerungen. Wenn sie dann mit ihren Säcken von einem solchen Ausfluge zurückkehrten und ihren Fund auf dem Tische ausbreiteten, entstand zwischen ihnen eine lebhafte Discussion darüber, wer das Beste gefunden habe.

Eines Tages erschien Armitage mit einer großen Schneeeule, die er geschossen hatte. Es war einige Tage vorher gerade die Rede davon gewesen, ob dieser Vogel hier existire oder nicht. Weder Nansen noch Jackson glaubten es; doch jetzt hielt ihnen Armitage die Beute vor die Augen. Er hatte sie aus ziemlich weiter Entfernung mit der Flinte erlegt.

Am 5. Juli wurde draußen auf einem Eisberge in der Nähe des Ufers wieder ein Bär erlegt; Nansen und Armitage hatten ihn zur Strecke gebracht. Eine Menge Schüsse waren abgefeuert worden, ehe er liegen blieb, und da zeigte sich, daß fünf getroffen hatten. Auch diesmal standen wir andern als Zuschauer auf der Uferböschung und folgten gespannt dem Laufe der Jagd. Jackson, der auf der Alkjagd gewesen war, kam noch rechtzeitig mit seinem Apparate herbei, ehe der Bär stürzte. Es war das letzte Exemplar, das Nansen und ich von diesen Thieren sahen, die uns so lange Zeit hindurch unentbehrlich gewesen waren. Hier wurde von den Bären nichts weiter gegessen als das Herz und das Lendenstück.

Eines Tages sammelten Jackson und ich am Ufer eine Strecke westlich von der Station Walfischknochen auf einen Haufen, damit man sie nachher leichter auf das Schiff bringen konnte, wenn dieses kam, um die Expedition nach Hause zu holen; auch eine Menge Muscheln waren hier zu finden. Walrosse konnten wir beinahe täglich draußen in den offenen Stellen im Eise grunzen hören.

Die Tage verflossen angenehm. Abends wurde oft Karten gespielt; Armitage, Dr. Koetlitz, Fisher und ich bildeten eine Whistpartie. Die Engländer pflegten an den Freitag- und Sonnabend-Abenden ein Glas Portwein zur Erinnerung an ihre Freundinnen und Freunde in der Heimat zu trinken; Nansen und ich hatten nichts dagegen, diesen Brauch mitzumachen.

Allmählich wurden wir ungeduldig, daß das Schiff, das eigentlich schon hätte da sein müssen, noch nicht eingetroffen war; den Eisverhältnissen, sowie der Richtung und Stärke des Windes wurde mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es konnte ja leicht sein, daß das Schiff des Eises wegen nicht an das Land herankommen konnte, und dann mußten Nansen und ich da, wo wir waren, noch einen Winter bleiben. Wir sprachen davon, nach Spitzbergen hinüberzugehen, doch jetzt im Juli war es nicht sicher, daß wir rechtzeitig genug einträfen, um dort gleich ein Fahrzeug zu finden, und dann hätten wir die Aussicht, auf Spitzbergen überwintern zu müssen. Die einzige Möglichkeit, noch in diesem Jahre nach Hause zu gelangen, war, daß das Schiff jetzt gleich kam.

Es ist schön, wieder unter civilisirten Menschen zu sein und nicht mehr das harte Leben im Eise führen zu müssen; es ist schön, bei diesen liebenswürdigen Engländern zu sein, die alles thun, was sie können, damit wir es nach fünfzehn langen Monaten so gut wie möglich haben aber – wir wollen gern in diesem Jahre nach Hause! Es gibt wol nicht viele Menschen, die sich mehr als wir danach gesehnt haben, den Fuß auf heimatlichen Boden zu setzen. Unser Leben hier oben im ewigen Eise ist schuld daran. Wir haben allerlei Schweres durchgemacht, und mehr als einmal ist es gut gewesen, sich des Lebens in der Heimat erinnern zu können. Und wenn wir auch alle beide fest an die Freuden des Wiedersehens geglaubt haben, so sind doch auch viele Lagen gekommen, die uns daran erinnerten, daß unser Leben eine Zeit der Prüfung ist, daß der Mensch, der sich den Herrn der Schöpfung nennt, ein armes, vergängliches Wesen ist. Nur ein Staubkorn ist er vor der Macht, die alles, was wir sehen und nicht sehen, erschaffen hat, der Macht, die von Ewigkeit her alles regiert und in Ewigkeit alles nach ihren uns unfaßbaren Gesetzen regieren wird, der Macht, die uns auf dieser Reise so oft vom Untergange errettet hat!

Mit menschlichen Augen gesehen war der Winter, den wir zuletzt in unserer Hütte zugebracht haben, entsetzlich. Er war grauenhaft mit seiner Dunkelheit und seiner Kälte, mit seinen Entbehrungen und seiner Sehnsucht! Aber wie gering erscheint uns alles dieses, wenn wir an den unfaßbaren Willen denken, der den Menschen und Millionen von Lebewesen in die Welt setzt und sie dort ein Bruchtheil einer Secunde leben läßt; denn längere Zeit ist es nicht, an der Ewigkeit gemessen! Eine Winternacht, wie wir sie durchlebt haben, lehrt uns besser als alles andere verstehen, daß die Sorgen und der Kummer der Menschen nichtig sind!


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