Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Elftes Kapitel.

Das Ende der letzten Winternacht

Neujahr 1896!

Was wird uns das neue Jahr bringen? Gutes oder Böses, Gefangenschaft oder Freiheit? Wer das vorhersagen könnte!

Doch nein! Denn gesetzt, es wäre mir vergönnt, einen Zipfel vom Schleier der Zukunft zu heben und hineinzuschauen, und ich sähe dann ein Schiff von merkwürdig breiter und kurzer Bauart mit drei hohen Masten und einer Ausgucktonne auf dem Hauptmaste am Jahresschlusse, wie schon bei seinem Beginne, zwischen hochaufgethürmten Eismassen eingefroren liegen; gesetzt, daß dies das Bild wäre, das mir die Zukunft zeigte, und ich mir dann selbst sagen müßte, daß die Männer, die ich ohne Rast und Ruh auf dem Deck auf- und abwandeln sehe, wie wilde Thiere in einem Käfig unaufhörlich hin und herschreitend, meine Kameraden und ich selbst seien ... Nein, nein! Lieber will ich nichts wissen, aber hoffen dürfen!

Jedermann wird begreifen, daß jetzt, da wir unsere Aufgabe mit Recht als gelöstDie höchste beobachtete Breite hatten wir am 25. November 1895 mit 85° 57,5' erreicht. Es ist aber höchst wahrscheinlich, daß wir in jener Nacht den 86. Breitengrad passirt haben. betrachten konnten, unsere Sehnsucht, aus dem Eise loszukommen, den Kiel der Heimat zuzuwenden, unsern Lieben entgegen, die in Angst und Bangen unser warteten, stärker geworden war, als sie je gewesen. Deshalb wurden auch die Zweifel immer quälender, ob unsere Hoffnung sich wol erfüllen würde.

Konnten wir also Sylvester nicht in besonders heiterer Stimmung verbringen – bei den meisten war sie vielmehr recht gedrückt –, so versuchten wir es doch unter allen Umständen, dem Jahreswechsel ein so festliches Gepräge zu verleihen, wie uns irgend möglich war. Um 12 Uhr wünschten wir einander herzlich »ein glückliches neues Jahr« und ließen die Schiffsglocke dann 12 Uhr schlagen. Wunderbar feierlich hallten die Schläge durch die stille Luft.

Ich war auf Deck gegangen, um diesen Feiertagsauftrag auszuführen. Ich fühlte einen Luftzug von Nordwesten, was bedeutete, daß der Wind sich zu unserm Vortheile gedreht hatte. Ich eilte sofort, »Lina« zu befragen. Ganz richtig, auch sie hatte sich zum Bessern gewendet. Um spätern Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich hier gleich einschalten, daß jetzt, da wir nach Süden und nach Hause wollten, nicht mehr ein Wind aus südlicher Richtung, sondern der Nordwind unser Freund war. Also accurat wie früher, nur gerade das Gegentheil.

Wer in den Salon hinunterstürmte, den Kameraden diese frohe Neujahrskunde zu bringen, war ich. Man wird mir glauben, daß ihre Mienen sich mit einem Schlage aufhellten. Es war, als wären sie wie ausgewechselt. Die Unterhaltung kam plötzlich in Gang, und wir verbrachten noch eine wirklich gemüthliche Stunde miteinander, die erste im neuen Jahre, unter Gesprächen über alles Mögliche, hauptsächlich natürlich über unsere Aussichten für die Zukunft.

Den ganzen Januar hindurch war an Bord außer der täglichen Küchenarbeit und dergleichen wenig oder gar nichts zu thun. Das Einzige war, daß Amundsen sich damit beschäftigte, Blechhülsen für die Minen zu verfertigen, mit denen späterhin das Eis gesprengt werden sollte, und daß Scott-Hansen die Hülsen füllte und ein paar Versuchsminen zurechtmachte. Sonst eigentlich nichts von Interesse. Ein paar Citate, aufs gerathewohl meinem Tagebuche von dieser Zeit entnommen, beleuchten die Verhältnisse vielleicht am besten:

»9. Januar. Der Einzige, der ein wenig Beschäftigung hat, ist Amundsen, der an Pulverminen arbeitet. Hendriksen haut jeden Morgen das Wasserloch auf und ist außerordentlich gefällig, wenn es etwas zu thun gibt. Nichts Neues zu bemerken. Der Wind ist gut.«

»14. Januar. Dasselbe Faulenzerleben wie gestern. Sverdrup construirt Boottypen. Scott-Hansen ladet eine der von Amundsen verfertigten Pulverminen und bereitet alles vor, um ihre Wirkung durch ein Bohrloch in dem etwa 3- ½ Meter dicken Eise zu erproben. Blessing machte heute Nachmittag ein paar Luftelektricitätsuntersuchungen. Petterson ist in der Kajüte, ich bei den Instrumenten. Heute wurden Finnenschuhe an die ausgegeben, die welche haben wollten.«

»21. Januar. Wovon soll ich schreiben? Der eine Tag verläuft genau wie der andere. Dieselben Menschen, dieselben Thiere, dieselbe Eiswüste rundumher, dieselben Bewegungen in dieser Wüste. Derselbe Geist ...«

»23. Januar. Ließen das Loth 3000 Meter auslaufen; vor Mittag wurde es wieder eingeholt, aber kein Grund. Vormittags machten Scott-Hansen und ich eine Ortsbestimmung. Scott-Hansen setzt neue Böden in seine Hülsen. Jacobsen führt das Schiffsjournal, Amundsen betreibt die Fabrikation von Pulverminen ...«.

In derselben Tonart geht es den ganzen Januar hindurch. Dieses Faulenzerleben nach der angestrengten Thätigkeit und der oft fast übertriebenen Arbeit im Herbst und zu Anfang des Winters war jedoch nichts weniger als gesund. War man schon vorher zu Reizbarkeit und Schwermuth geneigt, so konnte eine solche Unthätigkeit nicht zur Verbesserung der Stimmung beitragen, besonders da die Winternacht uns jetzt dicht, schwarz und beklemmend umgab, uns jede Aussicht versperrte und uns bösen Zweifel und Mißmuth in das oft nur allzu offene Ohr flüsterte.

Dann darf nicht vergessen werden: elf Männer haben über zweieinhalb Jahre in täglichem Zusammenleben so dicht beieinander verbracht, als es überhaupt möglich ist. Es gab zwischen Himmel und Erde kaum ein Ding, wovon wir nicht wieder und wieder geredet hätten, bis zur Unerträglichkeit, ich möchte sagen, bis zum Ekel. Schließlich endete es damit, daß wir ganz einfach das Reden nicht nur selbst sein ließen, sondern auch die Unterhaltung anderer nicht mehr ertragen konnten. Ja, es war ein eigenthümliches Zusammenleben, wenn ich jetzt daran zurückdenke – ein Zusammenleben, in dessen Verlauf wir oft bissig gegeneinander wurden und gleich wilden Thieren nacheinander schnappten, obgleich wir es im Innersten unsers Herzens gar nicht so bös meinten. Hatten wir doch in der langen Zeit unsere Eigenschaften gegenseitig kennen und würdigen gelernt. Aber das lange faule Leben hatte uns schließlich in dem Grade krankhaft nervös gemacht, daß wir ordentlich den Drang fühlten, zu schreien, wenn uns etwas reizte. Und dazu gehörte eigentlich ein Nichts. So machten wir denn, jeder für sich, unsern Spaziergang auf Deck und redeten nur das Allernothwendigste miteinander.

Diese krankhafte Empfindlichkeit kam ganz komisch zum Ausbruch, wenn wir abends im Salon versammelt waren und etwa zwei von uns eine Frage, die sie zufällig interessiere, zu discutiren begannen. Es waren nämlich einige unter uns, die ein Steckenpferd besaßen, das sie gern zusammen ritten. Da hätte man uns andere sehen sollen! Stumm, mit unsern eigenen Gedanken beschäftigt, saßen wir da. Da aber die beiden laut redeten, allmählich immer lauter und eifriger wurden, war es uns schließlich geradezu unmöglich, gar nicht hinzuhören. Gewöhnlich ertrugen wir es eine Weile, ohne etwas zu sagen, obgleich diese Art, das Blaue vom Himmel herunterzuschwatzen – denn dafür sahen wir in unserer momentanen Laune jedes Gespräch an – unserm Trommelfelle ganz schrecklich war. Doch, wenn das Gerede gar kein Ende nehmen wollte, wurde es uns schließlich unerträglich. Dann konnte man erst den einen, dann noch einen, dann wieder einen sehen, wie er sich wie auf der Folter wand, um sich dann plötzlich mit einem energischen Ruck und einem ausdrucksvollen, nicht mißzuverstehenden Blick auf die Redenden zu erheben, in seine Kabine zu eilen und die Thür hinter sich zuzuwerfen.

Den ganzen Januar hindurch hatten wir günstigen Wind, und am 31. zeigte sich, daß wir uns jetzt auf 84° 51' nördlicher Breite und 29° 59' östlicher Länge befanden. Die Stimmung an Bord war daher in dieser Zeit im ganzen recht gut. Wir hatten nun die Länge von Vardö überschritten. Natürlich war dies nicht gleichbedeutend damit, daß wir jetzt ganz einfach nur südwärts, nach der Heimat zu steuern brauchten. Dies stand leider noch in sehr weitem Felde. Noch mußten wir eine gute Strecke weiter treiben und viele Kämpfe bestehen, ehe wir durchzukommen hoffen konnten. Aber etwas war schon gewonnen, und darüber mußten wir froh sein.

Im Februar begann das Eis zu bersten und sich zusammenzupressen. Die Boote und unser Depot auf dem Eise schwebten in solcher Gefahr, daß wir wieder eiligst an das Bergen denken und unsere Sachen an sichern Plätzen verwahren mußten. Ganz in der Nähe des Schiffes bildeten sich ziemlich achtunggebietende Rinnen, sodaß wir beständig eine Wiederholung der Eispressungen des vorigen Jahres befürchten mußten. Deshalb wurde Tag und Nacht andauernd scharfer Ausguck auf die Bewegung im Eise gehalten, damit wir nicht unvorbereitet überrascht würden.

Am 12. Februar sahen wir das gepriesene Tageslicht zum ersten mal wieder. Welch glückliches Gefühl durchströmt die Seele, wenn man nach der langen schwarzen Winternacht das Licht wieder erblickt! Es ist, als erwache man von einem langen schweren Alpdrücken und könne nun wieder aufathmen.

Der 12. war auch sonst ein guter Tag. Der Wind war anhaltend günstig, und wir wußten, daß wir ein gutes Stück nach Süden getrieben sein mußten. Deshalb hießen wir das Tageslicht in der freudigen Hoffnung willkommen, daß die nun beendete Winternacht auch unsere letzte gewesen sei. Am 15. Februar ergab sich, daß wir uns auf 84° 20' nördlicher Breite und 23° 20' östlicher Länge befanden, es ging wirklich wie gewünscht.

Am 21. trat ebenso plötzlich wie gewaltsam eine Temperaturänderung ein, und das Thermometer stieg von -47° bis auf -6°. Das Barometer fiel gleichzeitig. So tiefen Barometerstand hatten wir bisher noch nicht gehabt. Der Wind kam aus Südsüdosten und wurde im Laufe des Tages immer stärker, bis er am Abend in einen orkanartigen Sturm mit Schneetreiben überging. Der Wind war so stark, daß es beinahe eine Unmöglichkeit war, sich ins Freie zu wagen. Infolge des plötzlichen Temperaturumschlags aus strenger Kälte in für unsere Verhältnisse mildes Wetter empfanden wir den Wind allerdings nur wie daheim eine lauwarme Sommerbrise, aber der Luftdruck war ungeheuer und der Schnee schlug uns mit solcher Heftigkeit ins Gesicht, daß wir uns in möglichster Eile ehrfurchtsvoll zurückzogen. Die plötzliche Temperaturänderung hatte noch eine andere merkwürdige Folge: wir wurden alle von Kopfweh befallen, das jedoch etwas nachließ, als wir Antipyrin eingenommen hatten.

Der Sturm währte mit unverminderter Kraft mehrere Tage hindurch, während die Temperatur dagegen wieder bis unter -30° sank. Es konnte keine Rede davon sein, bei diesem Wetter auch nur das Geringste auszuführen. Der Aufenthalt im Salon war auch nicht besonders gemüthlich, da der Ofen des Sturmes wegen nicht geheizt werden konnte. Er rauchte wie ein Fabrikschornstein, sodaß wir glaubten, ersticken zu müssen. Wir hielten uns deshalb meistens auf dem Vorderdecke unter dem Schutze des Schneesegels auf und verbrachten dort die Zeit mit Hin- und Herwandern oder zogen uns in unsere Kabinen zurück.

Bei diesem Sturme bildeten sich noch mehr Rinnen um das Schiff herum, als dort schon vorher waren, und das Eis begann, theilweise sogar recht heftig, sich zusammenzupressen. Wir mußten daher mehrmals auf das Eis, um unsere Sachen zu bergen, und gingen in beständiger Angst herum, die Pressungen könnten die Eismassen über uns wälzen und uns zwingen, das Schiff zu verlassen. Inzwischen erweiterten sich die Rinnen sogar zu großen Seen, die es uns mehrere Tage lang unmöglich machten, zu unserm Beobachtungshause und verschiedenen Gegenständen zu gelangen, die uns mit der losgerissenen Scholle fortgetrieben waren. Wiederholt machten wir den Versuch, über die Rinnen zu setzen, mußten es aber schließlich aufgeben und geduldig warten, bis das Unwetter ein wenig nachließ. Es war kein Vergnügen, diese Landungsversuche mitzumachen, bei Sturm und 30° Kälte! Da spürt man es doppelt. Obwol wir unsere wärmsten Fellanzüge anhatten, ging uns der Wind wie ein eisiger Hauch durch Mark und Bein. Es war gerade so, als wären wir im bloßen Hemd ausgegangen.

Endlich hatte sich selbst dieser Sturm müde getobt. Sobald das Unwetter ein bischen nachließ, war es unser Erstes, unsere Sachen draußen auf dem Eise zusammenzusuchen, denn dort war alles zugeschneit. Es war eine kalte Arbeit, sie wieder auszugraben, sie wurde aber doch gethan. Hiermit fertig, hieß es versuchen, eine Beobachtung anzustellen, denn nach der Gewalt des Sturmes zu urtheilen, hatten wir Grund, das Schlimmste zu befürchten: daß wir wieder erheblich nach Norden getrieben worden seien. Die Beobachtung befreite uns glücklicherweise von einem großen Theile unserer Furcht. Wir waren ein wenig zurückgetrieben, aber lange nicht soviel, als wir angenommen hatten.

Es waren nicht weniger als sechzehn Monate vergangen, seit wir zuletzt die Ehre gehabt, Se. Majestät den Polarbären begrüßen zu dürfen, und über ein Jahr, daß wir frisches Bärenfleisch gegessen hatten. Es erweckte daher an Bord geradezu Begeisterung, als Petterson, der mit der Segelbekleidung des Verdecks zu thun gehabt hatte, früh am Morgen des 28. Februar in den Salon mit der Meldung stürmte, auf dem Eise sei ein Bär mit einem Jungen im Anzuge. Kapitän Sverdrup, der die Nachricht zuerst erhalten hatte, fuhr augenblicklich in die Kleider, ergriff eine Flinte und eilte nach oben; wir andern kamen ihm alle hurtig nach. Die Bären hatten sich jedoch in der Zwischenzeit wieder ein wenig entfernt – einem so wunderlichen, ihnen bisher noch nicht vorgestellten Geschöpfe wie der »Fram« gegenüber fühlten sie sich wol ein wenig unsicher – und es war nun die Frage, wie wir sie mit List und Schlauheit auf Schußweite heranlocken könnten. Denn sich jetzt einen solchen Leckerbissen aus den Händen kommen zu lassen, wäre doch gar zu verdrießlich.

Petterson wußte Rath. Wie der Blitz war er in der Küche, machte Feuer unter den Herd, that Butter, Speck und Zwiebeln in eine Bratpfanne und schürte das Feuer so, daß es meilenweit nach gebratenem Speck und gebräunten Zwiebeln roch. Der Wind trug diese Düfte glücklicherweise in der Richtung der abziehenden Gäste fort, und so dauerte es nicht lange, bis wir merken konnten, daß der süße Duft bis zu ihnen gedrungen war, sie in der Nase zu kitzeln begann und leckere Gelüste in ihnen wachrief. Alle frühern Bedenken über eine nähere Begrüßung der »Fram« waren vergessen; sie machten mit einem mal kehrt und kamen, die Bärin voraus, das Junge hinterdrein, in vollem Galop auf uns zugelaufen. Sobald sie sich in guter Schußweite befanden, legte Kapitän Sverdrup das Gewehr an, zielte auf die Mutter und drückte ab. Sie stürzte zu Boden, erhob sich aber wieder und brüllte vor Wuth und Schmerz. Da knallte die Flinte des Kapitäns noch einmal und ein drittes mal. Die Bärin war nun mausetodt.

Das Junge war, als es die Mutter stürzen sah, ängstlich hinter einen Eishügel geeilt, um sich dort zu verstecken. Als es aber gewahrte, daß die Mutter liegen blieb, konnte es sich dies augenscheinlich gar nicht erklären und wagte sich wieder aus seinem Verstecke hervor, um die Mutter zu beschnüffeln. Damit war der arme kleine Bär geliefert. Er erhielt eine Kugel in den Hals, die, wie es sich später herausstellte, zum Nacken herauskam, und sank an der Seite seiner Mutter nieder. Als wir zu ihnen hintraten, war nur noch ein bischen Leben in ihm.

Man kann sich denken, wie eilig wir es jetzt hatten. Sollten wir doch wieder schönen frischen Bärenbraten bekommen, nachdem wir solange von den greulichen Conserven gelebt hatten, deren wir so sehr überdrüssig waren! Wir legten die Bären auf je einen Schlitten und transportirten sie bis ans Schiff. Dort ging es an ein Schlachten! Daß wir mittags Bärenbraten aßen, versteht sich von selbst, und daß wir noch gesunde Kerle mit gutem Appetit waren, konnte unser Koch bezeugen, als er sah, was von der gar nicht knapp zugemessenen Portion übrig geblieben war.

Am 4. März konnten wir die Sonne wieder willkommen heißen.

Ein herzliches Willkommen war es, wie gewiß niemand bezweifeln wird. Für uns alle war es ein Freudentag, als wir in geschlossener Reihe auf dem Hinterdeck standen und die Sonne gegen 11 Uhr vormittags über den Horizont guckte und uns gemüthlich zunickte, gerade als wenn sie sagen wollte: »Guten Tag, meine Jungen, liegt ihr noch da und wartet auf mich?«

Ja, so verhielt es sich. Wir lagen noch da und hatten fünf Monate lang auf die liebe Begleiterin gewartet. Weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über. Als die Sonne über dem Horizonte erschien, war unser erster, sofort laut ausgesprochener Wunsch, daß sie uns nun nicht wieder verlassen, sondern uns den Heimweg nach den Gebirgen, Ufern und grünen Gehängen des alten Norwegen zeigen möchte.

Ungefähr eine Woche vorher – an dem Tage, als wir die beiden Bären schossen – war unter einigen Kameraden ein recht unangenehmer Streit entstanden. Ich habe schon erzählt, wie Einsamkeit und Finsterniß hier droben auf unser Gemüth eingewirkt hatten; es war also nicht erstaunlich, daß es gelegentlich zu einem kleinen Zusammenstoße kam. Dieser war jedoch der ernsthafteste, der während der ganzen Reise vorgekommen war, und leider hatte er einige Bitterkeit zurückgelassen. In dem Augenblicke aber, da wir zu einer Gruppe versammelt die Sonne begrüßten, zerstoben alle bittern Gedanken den Erdgeistern gleich vor ihrem Lichte, und wir fühlten uns alle wieder als treue Brüder und Kampfgenossen, bereit, Freud und Leid mit einander zu theilen.

Der Tag war überhaupt einer unserer Glückstage, da auch die Beobachtungen günstig waren und darthaten, daß die Drift nach Süden über Erwarten gut ging. Unsere Hoffnung, in diesem Sommer aus dem Eise herauszukommen, war deshalb stärker denn je, sodaß wir alle miteinander frohen Sinnes und aufrichtigen Herzens ein »Sonnenfest« feierten. Wir nahmen ein opulentes Mittagsmahl ein: erster Gang Fischpudding mit zerlassener Butter, zweiter Gang frischer Bärenschinken mit Dessert und hinterher Kaffee, das »herrlichste aller Getränke«. Nach dem Abendessen wurde wieder eine Bowle hereingebracht, unser traditioneller Fram-Punsch, und als wir uns genau zwölf Stunden nach unserm Wiedersehen mit der Sonne zur Ruhe begaben, thaten wir es mit dem Gefühle, daß es eine der allergemüthlichsten festlichen Vereinigungen gewesen sei, die wir je an Bord gehabt hatten.

Und gut war es, daß so hervorragende Lichtpunkte all die Traurigkeit und Einförmigkeit unterbrachen. Denn sonst hätte man gar nicht wissen können, was auf die Dauer aus dem Zusammenleben an Bord geworden wäre, so nervös und reizbar hatte uns dieses Polarleben gemacht. »Ja, aber mußtet ihr denn so nervös werden?« wird vielleicht mancher fragen. Man wird uns am Ende gar sagen, daß es »unmännlich« von uns war, sich als erwachsene Männer von übler Laune beherrschen zu lassen, um so mehr, da wir es an Bord besser hatten als alle andern Seeleute. Auf all diese hinterdrein hinkende Weisheit der Zuhausegebliebenen habe ich nur die Antwort: »Versucht es selbst!« Ich glaube, daß sie ein anderes Lied singen würden, wenn sie die Suppe selbst auslöffeln sollten.

Am 14. März hatten wir wieder einen Gedenktag: es war der Jahrestag unsers Abschiedes von Nansen und Johansen. Wir alle nahmen fest an, sie seien nun schon lange – schon seit dem letzten Herbste – wieder daheim und hätten nicht nur gute Botschaft von ihrer eigenen Reise mitgebracht, sondern auch unsere Grüße an die Lieben in der Heimat sicher übermittelt. So wußten sie zu Hause wenigstens, daß wir es noch vor einem Jahre an Bord der »Fram« gut gehabt hatten, und brauchten nicht in allzu großer Angst um uns zu sein.

Es war für uns gut, daß wir selbst in diesem Glauben lebten. Denn hätten wir gewußt, was wir später erfuhren, daß Nansen und Johansen an diesem Tage, ein Jahr nachdem sie die »Fram« verlassen, im Winterlager auf einem unbekannten Lande in einer selbsterbauten Steinhütte lagen, dort schon seit Ende August 1895 gelegen hatten und ganz wie die Wilden lebten, statt, wie wir glaubten, daheim im gemächlichen Familienkreise bei Tisch zu sitzen: hätten wir damals alles dieses ahnen können, so hätten wir uns beim Gedenken dieses Tages schwerlich so froh gefühlt, als wir es waren. So aber feierten wir den Tag, so gut es mit unsern bescheidenen Mitteln ging, und brachten ein herzliches Hoch auf die beiden aus in der festen Ueberzeugung, daß ihre Namen jetzt die Welt durchflögen, und vom Wunsche erfüllt, auch uns möchte bald vergönnt sein, ihnen die Hand zu drücken.

Den ganzen März hindurch war das Wetter mild, gleichzeitig aber gab es auch oft Nebel und so unsichtige Luft, daß es unmöglich war, eine zuverlässige Beobachtung zu machen. Der Wind wehte meistens aus West oder Westsüdwest. Nach der Windrichtung mußte man also begründete Furcht hegen, daß die Drift statt vorwärts rückwärts ging, und es fehlte denn auch nicht an Unglückspropheten. Aber »Lina« wies tapfer den rechten Weg, und die meisten von uns vertrauten ihr. Und als wir endlich eines Tages eine Beobachtung machen konnten, stellte es sich wieder, wie schon so manches mal, heraus, daß »Lina« recht hatte. Und wieder sagten wir, was wir schon so manches mal gesagt: »Hurrah, Lina! Nun könnt ihr euch schämen!«


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