Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Neuntes Kapitel.

Im höchsten Norden.

Am 14. März 1895 dröhnte wieder Kanonendonner über die öden Eisfelder hin, und von der »Fram« wehte die norwegische Flagge. Diesmal wurde es Ernst mit der Reise.

Auch jetzt hatten wir Begleitung auf dem Wege, die uns über das erste Alleinsein hinweghelfen wollte. Sverdrup und Mogstad verließen uns gegen Abend, aber Scott-Hansen, Hendriksen und Pettersen blieben noch bis zum nächsten Tage bei uns. Nansen ging wieder voran, um den Weg zu zeigen; ihm folgte sein Kajakschlitten, der von »Kvik«, »Baro«, »Lilleräven« (Füchslein), »Sjölike« (Segeltau), »Narrifas«, »Freia«, »Barbara«, »Potiphar« und der »Klapperschlange« gezogen wurde. Dann kam der Mittelschlitten, und am Schlusse ich mit meinem Kajak. Der erstere war mit »Suggen«, »Barnet«, »Haren« (Hase), »Gulen« (der Gelbe), »Flint« (Feuerstein), »Kaiphas«, »Blok«, »Bjelki« und »Sultan« bespannt, und das letzte Gespann bestand aus »Barrabas«, »Kvindfolket« (Frauenzimmer), »Perpetuum«, »Katta« (Katze), »Livjägeren« (Leibjäger), »Storräven« (Großer Fuchs), »Isbjörn« (Eisbär), »Russen« (Russe), »Pan« und »Ulenka«.

Auf ebener Bahn ging es ausgezeichnet, aber die Eisrücken machten uns viel Mühe und kosteten uns viel Zeit. Ich brach gleich zu Anfang meinen einen Schneeschuh durch und erhielt dafür einen von Mogstad, der nun auf anderthalb Schneeschuhen heimstümpern mußte. Als wir halt machten, um das Lager aufzuschlagen, zeigte das Distanzmesserrad auf dem hintersten Schlitten, daß wir 11 Kilometer zurückgelegt hatten. Wir waren mit der Zeit hungerig und durstig geworden. Der Durst war vielleicht ein wenig größer als gewöhnlich, weil wir am letzten Abend noch ein Fest an Bord gefeiert hatten. Jedenfalls fühlten wir uns erst dann ganz wohl, als wir bei einer reichlichen Mahlzeit gemüthlich im Zelte saßen.

Am nächsten Tage trennten wir uns von unsern drei Kameraden, die die Nacht in einer mit Hülfe von Schneeschuhen und Schneeschuhstöcken erbauten Schneehütte zugebracht hatten. Es war dort natürlich nichts weniger als warm gewesen, weshalb sie am Morgen auch schon sehr früh auf den Beinen waren. Sie halfen uns beim Abbrechen des Lagers und beim Anspannen der Hunde. Dann dankten wir ihnen für ihre Begleitung, schüttelten einander die Hände und schlugen bewegten Herzens den Weg nach Norden ein. Als ich von Scott-Hansen Abschied nahm, wurde ich von dem einen Gespann, das in Unordnung gerathen war, umgeworfen und mußte hinter den Schlitten herlaufen; ich hatte aber doch noch Zeit, mich nach den Dreien umzusehen, die stehen geblieben waren und den nach dem unbekannten Norden Ziehenden gedankenvoll nachblickten.

Montag, 18. März. Heute ist unser fünfter Reisetag, und nach dem Meterrade haben wir über 45 Kilometer zurückgelegt. Auf ebener Bahn, bei glattem Eise geht es sehr schnell vorwärts; aber dann kommen Eisrücken und Rinnen, die wir nur mit großer Anstrengung überwinden. Am schlimmsten sind für uns die Rinnen, da wir dort erst nach einem Uebergange suchen müssen und dabei viel Zeit einbüßen.

Die »Fram« ist schon lange aus unserm Gesichtskreise entschwunden; außer uns beiden sind hier nur noch die Hunde zu erblicken. Das Eis sieht jedoch besser aus, je weiter wir nach Norden kommen, und die Schlitten werden mit jedem Tage leichter. Der mittelste Schlitten, der meistens ohne Aufsicht ist, wirft leider oft um, und wenn ich ihn dann wieder aufrichte, bleibt mein Schlitten gewöhnlich stehen und muß wieder durch Schieben in Gang gebracht werden.

Wir leiden von der Kälte, die sich beständig auf circa -40° hält. Bei Tage ist es warm genug, da wir uns oft so abplagen, daß uns der Schweiß von der Stirne rinnt, aber bei Nacht ist es dann um so schlimmer. Feucht ist es auch. Gestern breiteten wir die wollenen Decken auf unsern Kajaks aus, damit sie während der Fahrt trockneten. Unsere auf die Sonne gesetzten Hoffnungen wurden jedoch zu Schanden; sie ist so unbeschreiblich kalt und so weit fort, daß sie noch keinen Faden zu trocknen im Stande ist.

Abends sehnen wir uns danach, in den Schlafsack zu kriechen, und morgens sehen wir nur zu, wieder in Bewegung zu kommen. Aber langsam geht es damit, besonders weil wir jeden einzelnen Hund vor dem Einspannen erst loskoppeln müssen. Abends nach Schluß des Tagemarsches füttern wir die Hunde; sie haben dann etwas, worauf sie sich freuen können, und strengen sich den Tag über an, um so schnell wie möglich dorthin zu kommen, wo ihnen, wie sie wissen, die Fütterung winkt.

Den »Leibjäger« binde ich hinten an einen der beiden unter meiner Aufsicht stehenden Schlitten an; er ist ganz zum Wrack geworden und kann im Gespanne nichts mehr nützen; er wird jetzt nur noch als Schlachtvieh mitgenommen. Gestern wäre er beinahe erdrosselt worden; ich mußte daher das Tau, an dem er vom Schlitten mitgeschleift wurde, kappen. Neulich abends habe ich einen Finger erfroren, sodaß ihn Nansen mit Schnee reiben mußte. 19. März. Gestern hatten wir das Unglück, daß der mittelste Schlitten gegen einen Eisvorsprung prallte, wobei ein Proviantsack mit Fischmehl verloren ging. Dies hielt uns eine Weile auf, da der ganze Schlitten natürlich umgepackt werden mußte. Das Meterrad ist auch zerbrochen, und mein Kajak hat beim Umwerfen des Schlittens in der Seite ein Loch erhalten. Nansen hat die Scheide seines Bärenspeeres verloren und den Taschenkompaß auf einem Eishügel vergessen, auf dem ich ihn glücklicherweise noch erblickte.

Mittags halten wir ein wenig Rast und verzehren ein Butterbrot mit etwas Fleischchocolade, fangen aber gleich an zu frieren, weshalb wir uns so schnell wie möglich wieder aufmachen. Trotz aller, Widerwärtigkeiten legen wir doch täglich ungefähr 15 Kilometer zurück. Der Vormittag ist meiner Meinung nach die beste Tageszeit, da dann das warme Frühstück unsere Lebensgeister wieder frisch angeregt und unsern Körper erwärmt hat.

Die Tage, die bis zum Höhersteigen der Sonne und der damit verbundenen Abnahme der Kälte folgten, müssen als die schlimmste Zeit unserer ganzen Expedition bezeichnet werden. Tagsüber die ewige Anstrengung bis aufs äußerste, um weiterzukommen; nachts wenig Schlaf und viel Kälte.

Unsere Körperausdünstung während des Marsches zog in die Frieskleidungsstücke ein und machte sie schon in den ersten Tagen ganz steif. Mit der Zeit gefroren sie immer mehr und bei der anhaltenden strengen Kälte, die sogar das Quecksilber fest werden ließ, wurden sie schließlich zu vollständigen Eispanzern. Ich wechselte eine Zeit lang die Ueberkleider, wenn wir uns in den Sack legten, und zog einmal die Kamelhaarjacke, und das andere mal den Anorak an, mußte es aber bald aufgeben, da das Ausziehen der steifen steinharten Kleidungsstücke meinen von Frost geschwollenen Fingern gar zu große Schmerzen verursachte. Wir mußten sie ruhig sitzen lassen und schweigend dulden, daß sie uns die Kniekehlen und die Handgelenke wund scheuerten.

Den Hunden wurde das Ziehen allmählich auch langweilig. Sie blieben oft ohne weiteres stehen, fingen an, über die Zugleinen ihrer Gefährten zu springen, und trieben allen möglichen Unfug. Das Ordnen der Leinen war für unsere blutenden erfrorenen Finger eine saure Arbeit. Einige Hunde haben die Angewohnheit, in die Leinen zu beißen, sowie angehalten wird; den ärgsten Beißern ist freilich Stahldraht in die Zugriemen genäht worden, ja, der »Russe« ist sogar mit einem Drahtseile angebunden, aber was nutzt das? Können sie sich nicht selbst losbeißen, so beißen sie einen andern los. Dann verlieren wir durch das Einfangen der entlaufenen Hunde wieder Zeit, und bisweilen müssen wir nur mit wenigen Zugthieren fahren, während die freigekommenen Hunde der Karawane in gebührender Entfernung folgen.

Die Handschuhe wurden vor Eis so steif, daß wir schließlich, um unsere Finger zu retten, die Fausthandschuhe von Wolfsfell mit einer Einlage von Sennegras anziehen mußten. Unsere Füße sind merkwürdigerweise gut davongekommen. Wir waren aber auch sehr um sie besorgt und machten morgens und abends besondere Fußtoilette. Vor dem Schlafengehen zogen wir die ganze Fußbekleidung aus, drehten die Finnenschuhe um, rangen das nasse Sennegras aus, das wir nachts auf dem Leibe zu trocknen versuchten, legten dann Filz- oder Wolfsfellgamaschen an und steckten die Füße für die Nacht in die umgekehrten Finnenschuhe. Morgens schützten wir uns die Füße dann wieder so, daß sie den Tag über aushalten konnten.

Der Schlafsack war unser bester Freund; aber auch er wurde mit jedem Tage steifer und härter. Von Zeit zu Zeit drehten wir ihn um und klopften das darin befindliche Eis mit unsern Schneeschuhstöcken los. Wenn wir abends hineinkrochen, wurden er und unsere Kleider allmählich weich. Der arme Körper mußte auch diese erst aufthauen, bevor er sich selbst des Gefühls der Wärme erfreuen durfte. Die steifgefrorenen Fausthandschuhe und das nasse Sennegras, das uns zum Trocknen auf der Brust lag, trugen auch nicht zur Annehmlichkeit bei. Aber doch sehnten wir uns auf jedem Marsche nach dem Augenblick, wo wir in den Schlafsack kriechen und unsern ausgehungerten durchgefrorenen Leib mit etwas Warmem laben konnten, sei es nun mit Labskaus, Fiskegratin oder Knorr's Suppen. Auf die Tasse warme Molkenlösung, die wir hinterher bekamen, freuten wir uns schon den ganzen Tag. Dann machten wir die Klappe des Sackes so dicht wie möglich zu, schmiegten uns eng aneinander und streckten unsere müden Glieder zur Ruhe aus.

Wenn wir für die Tagesarbeit gestärkt erwachten, waren die Kleider weich und naß, und sobald wir die Klappe des Schlafsackes zurückschlugen, rieselte es von der weiß bereiften Zeltwand auf uns herab, und die Kleider wurden allmählich wieder zu Panzern.

Schon am Morgen nahmen wir genug Feuchtigkeit in uns auf, sodaß wir an dem sogenannten arktischen Durste eigentlich gar nicht litten. Manchmal mochte es ja schlimm sein, besonders wenn wir von Warmbier redeten. Doch wenn wir uns nur den Gedanken an Durst aus dem Sinne schlagen konnten, dann ging das Gefühl von selbst vorüber. Wir hatten Feldflaschen von Hartgummi, die wir morgens mit Wasser füllten und des Tags auf der Brust trugen; wir benutzten sie aber nur im Anfange der Reise, und überdies verlor ich die meinige bald.

21. März. Die Kälte wird immer schlimmer statt besser. Gestern kam uns unser Meterrad abhanden, wir verloren jedoch keine Zeit mit dem Suchen, da wir vorher des »Leibjägers« wegen längern Aufenthalt gehabt hatten. Als wir uns schon eine weite Strecke von unserm letzten Lagerplatze entfernt hatten, merkten wir, daß uns der Hund fehlte. Nansen kehrte also wieder um und fand ihn genau an der Stelle, wo er bei unserer Abfahrt gelegen, im Schnee. Der Hund macht uns viel zu schaffen; zweimal habe ich ihn schon vom Stricke abgeschnitten und wiederholt bin ich seinethalben auf dem Wege umgekehrt. Am nächsten Tage war die Kälte ebenso intensiv. Das Schlimmste dabei ist, daß wir nachts nicht schlafen können. Kälte und Feuchtigkeit halten uns wach. Nansen nahm heute zum ersten male die Mittagshöhe der Sonne und rechnete aus, daß wir uns auf 85° 9' nördlicher Breite befinden. Bisher hat ein schwacher Nordostwind geweht.

23. März. Gestern machten wir einen Tagesmarsch von circa 15 Kilometer und kamen erst nachts um 2 Uhr in den Sack. Ich habe während der letzten Tage so nach den Hunden schreien müssen, daß ich meine eigene Stimme kaum wiederkenne, und in Rücken und Seiten kann ich es spüren, wie schwer es ist, die Schlitten über die Eisrücken zu bringen, und wie sauer es wird, die umgeworfenen Schlitten wieder aufzurichten. Zur Feier des 85. Grades haben wir die Kajaks beflaggt.

24. März. 45° Kälte. Gestern scharfer Nordostwind, sehr schlechtes Eis und harte Arbeit. Der »Leibjäger« wurde gestern als Futter für die andern Hunde geschlachtet; er fand seinen Tod durch den Bärenspeer und hatte trotz seines jämmerlichen Aussehens ein sehr zähes Leben. Er schien den andern Hunden nicht besonders zu schmecken, sie sind noch zu verwöhnt. Der Wind hat sich nicht verändert, aber die Luft ist schwerer, und es steigen kalte Nebel auf. Es ist wirklich ein greuliches Wetter und einer der unangenehmsten Sonntage, die ich je erlebt habe. Es blieb auch ein harter Tag. Wir waren so müde und schläfrig, daß wir förmlich taumelten, bis wir einen Platz für unser Nachtlager erreicht hatten.

Am 25. waren wir etwa auf 85° 20' nördlicher Breite. Die strenge Kälte will noch immer nicht nachlassen. Mit dem Aufschlagen und Abbrechen des Lagers geht uns so viel Zeit verloren, daß uns der Tag fast zu kurz wird. Bei der Kälte ist jede Arbeit sauer und geht entsetzlich langsam. Das Füttern der Hunde ist ebenso beschwerlich wie zeitraubend, da ich mit meinen wunden Händen den gefrorenen Pemmikan aus den Bootsunterlagen herauskratzen und ihn in Portionen vertheilen muß, damit auch jeder nach Verdienst bekommt. Und dann müssen entsprechend dem Leerwerden der Pemmikansäcke solche von dem dritten Schlitten als Unterlage unter die Kajaks gestopft werden.

Am 27. schlugen wir unser Lager schon gegen Mittag auf und legten uns dann sofort schlafen, aber tags darauf machten wir wieder einen vollen Tagemarsch. Es ist immer dasselbe Elend mit Kälte und wenig Schlaf, gefrorenen Kleidern, steifem Schlafsacke und schweren Schlitten, aber vorwärts müssen wir, und nach Norden geht es.

Am 28. passirten wir einen großen Eishügel, den größten, den wir bisher gesehen haben; er glich einem richtigen Eisberg. Wir hatten einen längern Aufenthalt dadurch, daß sich plötzlich eine Rinne öffnete, nachdem wir schon mit einem Schlitten über die Stelle hinweg waren. Mit den andern mußten wir nun einen Umweg machen. Nachmittags bewölkte sich der Himmel plötzlich, und die Temperatur stieg um 5 bis 6 Grad; wir begrüßten diese Veränderung mit Freude, wenn wir uns auch auf einen Schneesturm gefaßt machten. Dieser kam jedoch nicht, wir hatten vielmehr am Tage darauf schönes, klares Wetter bei 36,5° Kälte. Nansen machte mit dem kleinen Theodoliten eine Breitenbestimmung. Danach befanden wir uns auf 85° 15', was wir nicht erwartet hatten. Entweder war ein Fehler in der Beobachtung, oder die Drift nach Süden war außergewöhnlich stark gewesen. Er nahm dann noch mit dem Sextanten eine Sonnenhöhe, woraus sich ergab, daß wir doch schon auf 85° 56' nördlicher Breite waren.

30. März. In der Nacht betrug die Temperatur -42°, und heute bei Tage haben wir -36°. Das Barometer fällt unaufhörlich, der Himmel ist bewölkt, und der Wind weht mit einer Stärke von ungefähr 4 Meter in der Secunde aus Südosten. Es scheint ein Witterungsumschlag eintreten zu wollen. Wir haben uns heute dazu entschlossen, den Kurs ungefähr einen Kompaßstrich (11 ¼ Grad) westlich vom astronomischen Norden zu halten.

Heute Nacht kamen wir gar nicht zur Ruhe, und unser Essen erhielten wir erst morgens 6 Uhr, da unser Primus in Unordnung gerathen war. Nansen versuchte auf alle mögliche Weise, ihn in Gang zu bringen, mühte sich damit aber vergeblich ab, bis er endlich dahinter kam, daß der in den Schraubengängen vereiste Deckel nicht fest schloß und deshalb die Luft trotz allen Pumpens aus dem Petroleumbehälter wieder entweichen konnte.

Auf unserm letzten Tagemarsche war das Eis geradezu scheußlich. Besonders an einer Stelle mußten wir uns sehr anstrengen; es galt, über altes, solides, gründlich zusammengepreßtes Scholleneis zu kommen, wobei vor den Eisrücken noch dazu eine breite Spalte gähnte. Der eine Schlitten mit den Proviantsäcken fiel richtig hinein und einige Hunde mit. Einer von uns mußte nun in die 3 bis 4 Meter tiefe Spalte hinabspringen und dort die Säcke abladen. Es war keine Kleinigkeit, die schweren Säcke und den nichts weniger als leichten Schlitten wieder aus der Spalte herauszubringen. Als dies geschehen war, holten wir die Hunde vermittelst der Leinen empor.

31. März. Ich sitze jetzt im Sacke und schreibe, mit Fingerhandschuhen an den Händen, diese Aufzeichnungen in aller Muße nieder. Was ich bisher auf dieser Reise in das Tagebuch eingetragen habe, wurde stets im Augenblicke vor dem Abbruche des Lagers auf meinem Kajak geschrieben, und ich trug dabei die großen Wolfsfellfausthandschuhe, in denen der Bleistift beinahe verschwand.

Heute Nacht ging die Reise anfangs vorzüglich, da wir den Wind gerade im Rücken hatten. Dann trafen wir eine Rinne, über die wir noch mit allen Schlitten glücklich hinüberkamen, obgleich sie gerade im Begriffe stand, sich zu öffnen. Nun kamen wir aber wieder an eine Rinne, die uns mehr zu schaffen machte. Wir hatten sie eben mit dem ersten Schlitten passirt, als die Ränder der Rinne sich voneinander entfernten, und nun waren Nansen und ich mit einem bespannten Schlitten auf der einen Seite der Rinne, während sich die übrigen Hunde und Schlitten noch auf der andern befanden. Wir standen auf dem übereinander geschobenen Eise des Randes der Rinne und betrachteten uns die Bewegung des Eises. Plötzlich barst der Grund, auf dem ich stand, und versank, und ich fiel ins Wasser. Zum Glück hatten sich die Eisstücke unter mir schon so übereinandergeschoben, daß ich nur bis zu den Hüften im Wasser war, und es gelang mir, die Rinne auf kleinen Eisschollen zu überschreiten und am gegenüberliegenden Rande hinaufzuklettern. Es war gerade kein sehr großes Vergnügen bei fast 40° Kälte; die Kleider waren natürlich sofort steif gefroren. Da standen wir nun, jeder auf seiner Seite, während das Wasser zwischen uns immer breiter wurde; wir hatten die nichts weniger als angenehme Aussicht, den Rest der Nacht getrennt zubringen zu müssen.

Auf Nansen's Seite waren das Zelt und das Kochgeschirr. Ich mußte nun auf meiner Scholle zwischen den Hunden hinundherlaufen, um mich einigermaßen warm zu halten, während Nansen an der andern Seite der Rinne entlangging, um einen Uebergang zu suchen, auf dem wir uns wieder vereinigen könnten. Da das spitze Eis uns bei dem häufigen Umwerfen der Schlitten Löcher in die Kajaks gestoßen hatte, waren diese zum Ueberfahren untauglich. Nansen fand endlich einen Uebergang; aber es war eine langwierige Arbeit, die andern Schlitten hinüberzubringen, und konnte nur auf großen Umwegen geschehen.

Die steifgefrorenen Windhosen, die ich auf diesem Marsche trug, waren nach dem Bade so spröde geworden, daß sie an mehrern Stellen zerrissen. Als wir das Lager aufgeschlagen hatten und ich in den Sack kroch, mußte ich sie mit hinein nehmen, damit sie, wenn ich wieder erwachte, weich genug waren, um geflickt werden zu können. Es war die schwierigste Näherei, mit der ich mich je im Leben befaßt habe; sowie ich ein Paar Stiche genäht hatte, wurde das Zeug hart wie Stein, und ich mußte dann schnell erst wieder damit zu Bette gehen. Wir haben zwar schon bei 40° Kälte Segel genäht, aber das war gar nichts gegen diese Flickerei.

1. April. Gestern fiel es Nansen auf dem Marsche plötzlich ein, daß wir unsere Uhren lange nicht aufgezogen hatten. Als wir es nun thun wollten, stellte sich heraus, daß Nansen's Uhr zum Glücke noch ging, meine aber leider stehen geblieben war.

Wir haben jetzt eine ganz andere Temperatur, -24°, ja heute Abend sogar nur -22°. Dabei weht ein Schneesturm aus Südosten, den wir während des Marsches im Rücken haben. Das Eis fängt an, schlimm zu werden; wir müssen über unzählige Eisrücken und legen infolge dessen täglich nur kurze Strecken zurück, trotzdem wir uns nach Kräften beeilen. Reicht der Tag nicht aus, so nehmen wir die Nacht zu Hülfe, und genügt auch diese nicht, so wird die Arbeit am folgenden Tage fortgesetzt. Jetzt ist es hier ja immerwährend hell.

Heute Morgen dauerte es lange, ehe wir aufbrechen konnten. Mein Kajak mußte eine neue Unterlage haben, da der Inhalt des einen Sackes ganz aufgegessen war. Wir nähten noch schnell verschiedene Säcke zusammen, was unsern wunden Fingern bei der Kälte recht sauer wurde.

Der 2. April ist mit Abbruch des Lagers und Marschiren hingegangen, und wir sind nicht vor heute (3.) Morgen 7 Uhr nach einem die Nacht hindurch andauernden Marsche in den Sack gekommen. Ich hatte wieder das Unglück, in eine Rinne zu fallen, blieb aber diesmal nicht so lange im Wasser. Nansen hatte sie mit dem ersten Schlitten auf Schneeschuhen passirt. Als ich ohne Schneeschuhe mit den beiden andern Schlitten hinüber marschirte, brach das Eis unter mir, und ich fiel ins Wasser, hielt mich aber glücklicherweise noch am Kajak fest und wurde so von den Hunden gleich wieder herausgezogen.

Das Eis ist heute ein ganz klein wenig besser gewesen, aber schnell kommen wir noch immer nicht weiter. Heute mußte der »Russe« sein Leben für seine Kameraden lassen, von denen jedoch keiner nach seinem Fleische sehr lüstern war. Das Fleisch der Hunde, die sie in den guten alten Zeiten an Bord der »Fram« todtgebissen hatten, hat ihnen dem Anscheine nach viel besser gemundet.

Die Temperatur beträgt jetzt -31,5°, das ist verhältnißmäßig warm; schönes, klares Wetter ist es auch, und der Wind ist heute ein wenig mehr nach Osten herumgegangen.

4. April nachmittags 4 ½ Uhr. So schwer wir es bei Tage und oft auch nachts haben, gibt es doch selbst für uns lichtere Augenblicke, auf die wir uns freuen können. Ein solcher, ja unser allerlichtester, ist es, wenn wir in Erwartung des Essens im Sacke sitzen, hungerig wie die Wölfe, vor Frost bebend und mit so steif gefrorenen Kleidern, daß wir erst eine Weile liegen müssen, ehe wir die Fußbekleidung wechseln können. Der Schlaf ist natürlich nicht der beste, wenn man so Nacht für Nacht in den Kleidern liegt, mit denen man täglich durch Wasser, Eis und Schnee geht. Es gilt nur, dies auf die Dauer auszuhalten.

Die Temperatur beträgt jetzt -31,3°, und das Barometer, das bisher hoch gestanden, fällt. Die Luft ist klar und der Wind Nordnordost. Die gestrige Meridianhöhe ergab, daß wir uns auf 85° 59' nördlicher Breite befinden. Wir hatten mehr erwartet. Allerdings ist es in der letzten Zeit bei dem ungünstigen Terrain nur langsam vorwärts gegangen, und es hat durchaus den Anschein, als würde das Eis noch schlechter werden.

Nach meiner Meinung dürfen wir nicht versuchen, noch viel weiter nach Norden vorzudringen; es wird schon schwierig genug sein, von hier, mitten im Treibeise, nach Franz-Joseph-Land zu gelangen. Auch Nansen hat seine Bedenken über die Fortsetzung des Weitermarsches nach Norden und hat heute einen mehr westlichen Kurs eingeschlagen. Es wird immer schwerer, die Hunde in Ordnung zu halten. Die Zugleinen bestehen bald nur noch aus Knoten, die außer am Morgen und Abend auch tagsüber mehrmals entwirrt werden müssen: eine angenehme Arbeit!

Am nächsten Tage rechnete Nansen mehrere Beobachtungen aus. Die letzte ergab, daß wir auf 86° 2,8' nördlicher Breite und ungefähr auf 98° östlicher Länge sind. Um den 86. Grad zu feiern, hatten wir gestern Abend ein kleines Festmahl, das aus Labskaus mit viel Kartoffeln bestand; hinterdrein gab es reichlich warmes Molkenwasser.

Am 6. April arbeiteten wir uns durch so entsetzlich schlechtes Eis hindurch, wie es uns bisher noch nicht vorgekommen ist. Ein Eisrücken folgte dem andern, und diese Reihe wurde nur von altem höckerigem Eise mit tiefen Schneewehen und Rinnen unterbrochen. Wir kamen auch nicht weit. Wenn das Eis bis zum Lande hin ebenso ist, dann werden wir, wie es scheint, nicht so bald dorthin gelangen. Nansen spricht nun auch davon, daß wir uns »das Eis noch einen Tag ansehen« wollen.

Die Temperatur ist jetzt ganz gemäßigt, nur -24°, der Wind nordöstlich, die Luft nebelig. Wir frieren jetzt nicht mehr so sehr, aber die Nässe ist schlimm. Ach, hätten wir doch trockenes Zeug! Nun einmal wird es wol auch dahin kommen. Aber das Ausziehen, fürchte ich, wird dann unangenehm werden.

In der Nacht zum Sonntag (7.) hatten wir erst eine kleine Strecke zurückgelegt, als Nansen erklärte, nun wolle er nicht weiter. Durch das Eis war auch wirklich nicht hindurchzukommen. Nansen lief auf seinen Schneeschuhen noch eine Strecke weiter nach Norden, um von dort Umschau zu halten, fand aber überall dieselben Hindernisse. Wir entdeckten jedoch einen guten Zeltplatz und ließen uns dort nieder.

An dieser Stelle, dem nördlichsten Punkte, den je der Fuß eines Menschen betreten hat, nahmen wir ein aus Labskaus, Chocolade und Preiselbeergrütze bestehendes Festmahl ein, zu dem wir unser Molkenwasser tranken. Nansen maß auf dem neben unserm Zelte liegenden hohen massiven Eishügel eine Meridianhöhe und berechnete die Breite auf 86° 10', doch stellte sich später bei nochmaliger Ausrechnung heraus, daß sie 86° 13,6' betrug.

Soweit war uns also zu kommen bestimmt! Gern wären wir noch weiter vorgedrungen. Ein Trost war uns, daß wir gethan, was in unserer Macht stand, und den Schleier, der diesen Theil unserer Erde verhüllt, doch ein wenig mehr gelüftet hatten. Da aber das Eis, soweit das Auge sehen konnte, überall derartig war, daß wir trotz der größten Anstrengung täglich nur eine ganz kurze Strecke vorrücken konnten, mußten wir uns vor der gebieterischen Nothwendigkeit beugen und wieder nach warmem Himmelsstrichen unsern Kurs lenken.

Am 8. April kehrten wir um und richteten den Kurs nach Franz-Joseph-Land, nachdem wir diesen nördlichsten Zeltplatz der Welt zuvor noch mit zwei Flaggen, einer mit dem Unionszeichen versehenen und einer reinen, geschmückt hatten. Merkwürdigerweise verlief unser erster Marschtag in der veränderten Richtung sehr gut; das Eis war hier ganz anders und viel besser fahrbar. Ich konnte ganze Strecken weit auf Schneeschuhen hinter den Schlitten herlaufen, während ich sonst hatte zu Fuß gehen und die Schlitten stützen müssen.

10. April. In der letzten Nacht und heute haben wir gute Fortschritte gemacht, die besten, die wir bisher verzeichnen können. Wenn wir erst einmal in Gang gekommen sind, halten wir ordentlich aus, aber viel Zeit geht doch verloren. Es war uns gestern Abend recht verdrießlich, daß wir nach einem Marsche von 10 Stunden noch an eine eben überfrorene Rinne kamen, über die wir gerade noch mit einem Schlitten gelangen konnten. Der zweite war beinahe hinüber, da brachen die Hunde ein, das Wasser sprudelte in die Höhe und das Eis begann unter dem Schlitten zu wogen. Wir auf unsern Schneeschuhen mußten zusehen, daß wir die Hunde und den Schlitten rund um die Rinne herum nach der andern Seite zurückziehen konnten. Das glückte uns denn auch trotz der Bewegung im Eise.

Auf dieselbe Weise und mit demselben Erfolge versuchten wir es mit dem letzten Schlitten an zwei Stellen; nur gut, daß kein Unglück geschah. So blieb uns denn weiter nichts übrig, als einen langen Umweg zu machen und an einer andern Stelle den Uebergang zu versuchen. Es gelang uns auch, aber nicht ohne weiteres, denn das Eis begann sich zu lockern. Dann hieß es, die Schlitten wieder zusammenbringen und schließlich einen Zeltplatz finden; aber dort war es auch ein Hochgenuß, ins Zelt zu schlüpfen und warmes Fiskegratin zu bekommen.

11. April. Diese Nacht war die beste, die wir noch gehabt haben. Es war im Schlafsacke warm, und die Sonnenseite des Zeltes ist frei von Reif geblieben. Ich schreibe mit bloßen Händen und finde, daß dies bisher unser schönster Morgen ist. Die Stimmung ist vorzüglich; wir plaudern von der Heimat, und wenn wir hungerig sind – das sind wir eigentlich immer –, sprechen wir davon, was wir alles essen werden, wenn wir erst wieder zu Hause sind. Der bekannte »Polardurst« hat uns bisher nicht sehr geplagt, aber gestern war er wirklich schlimm.

Auch am Tage darauf machten wir ausgezeichnete Fortschritte. Das Eis ist noch immer sehr gut fahrbar, und es kommt nicht mehr oft vor, daß wir beide einen Schlitten heben und stützen müssen. Neue Rinnen haben wir heute nicht passirt. Als wir an einem Lagerplatze angekommen waren und ich die Hunde gefüttert hatte, sah ich nach der Uhr, um mich zu vergewissern, wieviel Zeit wir gebraucht hatten: sie war stehen geblieben! Ich rief nun Nansen, der mit dem Kochapparate beschäftigt war, zu, er möchte doch nachsehen, ob seine Uhr gehe, meine sei stehen geblieben. Nein – auch seine stand! Wir hatten mit dem Aufziehen zu lange gewartet.

Es war keine angenehme Entdeckung; natürlich brachten wir die Uhren sofort wieder in Gang. Nansen machte eine Zeit- und Breitenbeobachtung, und im übrigen mußten wir uns auf das Besteck seit der letzten Längenbeobachtung verlassen.

»Barbara« wurde am 12. geschlachtet und unter ihre Kameraden vertheilt, die nun, da sie anfangen hungeriger zu werden, an dem Fleische immer mehr Geschmack zu finden beginnen. Als wir das arme Thier tödteten, hätte es mich beinahe in die Hand gebissen. Es hielt sich gewiß für zu jung zum Sterben; war es doch auf dem Eismeere geboren und aufgewachsen und fand nun dort auch seinen Tod, ohne von der Welt etwas anderes als Eis und Schnee gesehen zu haben. Das gute Thier hat seine Pflicht gethan und ist sicher in die Jagdgefilde des Jenseits eingegangen.

Am Osterabend, 13. April, machten wir keinen so langen Marsch wie an den drei vorhergehenden Tagen. Wir stießen auf eine Rinne, die gar nicht zu passiren war. Nansen lief lange am Rande entlang, um einen Uebergang zu finden, so lange, daß ich anfing, mich seinetwegen zu ängstigen. Endlich kehrte er zurück und machte den Vorschlag, wir wollten mit dem Uebergange lieber bis morgen warten und jetzt das Lager aufschlagen und uns den Osterabend so gemüthlich wie möglich machen. Er kroch sofort in den Sack, wo er ein paar Beobachtungen ausrechnete, während ich die Hunde versorgte; dann hielten wir im Zelte ein großes Festmahl mit Fiskegratin, Butterbrot, Bril und etwas ganz Neuem: heißem Citronensaft. Während ich das Lager in Ordnung brachte, fing das Eis in der Rinne vor uns an, sich entsetzlich zusammenzupressen. Die Ränder der Rinne näherten sich einander, und rund um unsern Zeltplatz herum knackte es dermaßen im Eise, daß die Hunde unruhig wurden.

Zweimal hatten diese schon einen Angriff auf den Buttersack gemacht. Jetzt sah ich »Storräven« (den »Großen Fuchs«) gerade wieder dabei; es that mir seinetwegen leid, denn »Storräven« ist ein ausgezeichneter Hund, aber das konnte an der Sache nichts ändern, seine Tracht Prügel mußte er trotz alledem haben. Den Buttersack mußten wir von da an immer mit ins Zelt nehmen.

Am ersten Ostertage war es im Zelte sehr gemüthlich. Nansen rechnete, und ich flickte unsere Kleider. Unsere augenblickliche Lage war am 13. April 86° 4' nördlicher Breite und 86° östlicher Länge. Nansen's Uhr wäre danach ungefähr eine Stunde stehen geblieben. Daß wir noch immer so hoch im Norden sind, ist gewiß der Thatsache zuzuschreiben, daß das Eis sich wieder einmal in der Drift nach Norden befindet. Heute schlagen wir einen südlichern Kurs ein. Voriges Jahr um diese Zeit hatten wir auf der »Fram« eine starke nordwestliche Drift; es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie sich jährlich zu derselben Zeit wiederholt.

Der 15. April war ein schöner Tag; das Thermometer zeigte -26,2°, und die Sonne wärmte uns gut durch. Bevor wir mittags in den Sack krochen, nachdem wir die ganze Nacht und den ganzen Vormittag auf den Beinen gewesen waren, konnten wir unsere ganze Habe auf Stöcken und Schneeschuhen in dem herrlichen Sonnenschein zum Trocknen aufhängen. Drinnen in dem in der prallen Sonne stehenden Zelte freuten wir uns bei zwei Tassen dampfender Juliennesuppe unsers Daseins.

Nach dem Aufbruch machten wir keine so guten Fortschritte, als wir erwartet hatten. Nansen mußte eine ganze Strecke wieder zurück, um den Kompaß zu holen, der bei der letzten Kurspeilung auf dem Eise liegen geblieben war.

Es war mir seltsam zu Muthe, als ich hier in der Einsamkeit ganz allein auf seine Rückkehr warten mußte. Eine solche Stille war mir noch nicht vorgekommen. Auch nicht das mindeste Geräusch irgendwelcher Art unterbrach das Schweigen nah und fern. Die Hunde lagen, den Kopf zwischen den Pfoten, wie leblos in dem weißen Schnee, der in dem strahlenden Sonnenlichte glitzerte. Es war so beängstigend still! Wo ich saß, mußte ich sitzen bleiben; ich wagte kein Glied zu rühren, ja kaum zu athmen. So überraschte mich der Schlummer, und weg war ich. Ein kalter Hauch von Süden her ging so böse mit meiner Nase um, daß ich davon erwachte; noch war ja kein wirklicher Sommer. Das Thermometer zeigte -26,2°.

Hier und dort erhob sich ein Hundekopf und spähte in die Ferne; die Stille war gebrochen, ich hörte den Ton gleitender Schneeschuhe auf dem Schnee, und gleich darauf erschien Nansen. Er war von dem Laufe in der ungewohnten Wärme müde und angegriffen. Wir zogen zusammen weiter, aber lange dauerte es nicht mehr, dann wurde das Zelt aufgeschlagen und das Mittagessen servirt.

Am 16. April machten wir einen guten Fortschritt. Wir brachen früh morgens auf, marschirten 14 Stunden und legten eine hübsche Strecke zurück, um so mehr, da das Eis recht gut war und die Hunde jetzt besser ziehen, weil die Schlitten leichter werden.

Auf unsern Wanderungen hielten wir mitten im Marsche eine längere Rast, um etwas zu essen. Wir pflegten dann in unsern Sack zu kriechen und uns dort häuslich niederzulassen, Brot, Butter und Pemmikan zwischen uns. Bei strenger Kälte waren diese nothwendigen Ruhepausen entsetzlich. Da lagen wir und zitterten vor Frost und nagten an den harten Butterstückchen, die in unsern dicken Fausthandschuhen von Wolfsfell oft auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Späterhin wurde es allerdings besser, aber es kam doch vor, daß wir dabei wider Willen einschliefen und unsere kostbare Zeit verloren.

Die täglich einmal erfolgende Austheilung von Chocolade war natürlich ein Lichtpunkt in unserm Dasein. Die Tafeln waren längst zerbrochen, ließen sich also nicht so leicht gleichmäßig vertheilen; wir machten es deshalb so, daß einer von uns zwei ungefähr gleich große Portionen auf das Kajak legte, während der andere ihm den Rücken drehte und sich für »rechts oder links« entschied. Gerecht ging es dabei zu. Nansen, der größer war als ich und deshalb vielleicht mehr Nahrung hätte haben müssen, machte nie einen Unterschied bei den Rationen. Gewöhnlich hatten wir ja genug zu essen, aber es kamen doch auch Tage, an denen es damit nur knapp bestellt war.

19. April. Unser letzter Marsch begann am Abend des 17. und dauerte bis zum nächsten Vormittag.

Ich habe das Pech gehabt, zwei Schneeschuhe abzubrechen, das heißt, die Hunde sind mit dem Schlitten darüber gerannt. Gestern wurde »Perpetuum« geschlachtet. Wir glaubten, es sei besser, ihn zu erdrosseln, als ihm den Hals abzuschneiden, mußten aber nach fruchtlosen Versuchen wieder davon abstehen und doch zum Messer greifen. Das Bequemste wäre natürlich gewesen, dem Hunde eine Kugel zu spendiren, doch dies erlaubten uns unsere Mittel nicht; wir konnten später von unserer Munition sicher bessern Gebrauch machen.

Diese Schlachtereien sind mir greulich. Ich hatte mir die Sache allerdings noch schlimmer vorgestellt; so weh, wie ich erst geglaubt habe, thut es mir nicht. Ich bekam mit der Zeit eine solche Fertigkeit im Halsabschneiden, daß es den Thieren keine großen Schmerzen verursacht haben kann. Die armen Hunde gingen bereitwillig mit mir; ich legte sie im Schnee auf die Seite und während ich mit der Linken den Halsring festhielt, stach ich mit der Rechten das Messer so tief in die Gurgel, daß es an der andern Seite des Halses wieder herauskam. Gewöhnlich verendeten sie, ohne einen Laut von sich zu geben. Das Schlimmste war das Zerlegen in Portionen, damit jeder Hund seinen wohlverdienten Antheil bekam. Die strenge gebieterische Nothwendigkeit machte mir aber auch diese Arbeit verhältnißmäßig leicht.

»Perpetuum« war ein fauler, untauglicher Hund, aber fett war er, und darum als Schlachtvieh gut zu gebrauchen. Seinen Namen hatte er davon bekommen, daß er nie den Schwanz still hielt. Nun sahen wir, daß er es doch konnte.

Der Abwechselung halber war gestern Mittag in das Fiskegratin und heute in die Grütze Petroleum gerathen, daraus machen wir uns aber nichts.

Morgens aßen wir den einen Tag Butterbrot und Pemmikan mit Chocolade, den andern Tag Grütze mit heißem Molkenwasser. Wir haben jetzt mit dem Flicken unserer Finnenschuhe begonnen, was bei der gegenwärtigen Temperatur, die circa -30° beträgt, gerade kein Vergnügen ist. Auf dem Marsche wärmt uns die Sonne jedoch schön durch. Seit sich das Wetter geändert hat, habe ich angefangen, Fingerhandschuhe zu tragen.

21. April. Unser letzter Marsch dauerte von 4 Uhr nachmittags des 19. bis 8 ½ Uhr morgens des 20. Trotz vieler Eisrücken und mehrerer Rinnen kamen wir gut vorwärts. Besonders eine große breite, mit Eisschlamm und Eisstücken angefüllte Rinne machte uns viel zu schaffen, aber wir kamen schließlich doch hinüber, obgleich das Eis sich unter unsern Füßen zusammenpreßte. An der andern Seite war eine schöne glatte Fläche, das reine »Land Kanaan«, wie Nansen zu sagen pflegte, wenn er nach beendeter Recognoscirung zurückkehrte und gutes Eis gefunden hatte.

Was ragt denn dort hinten aus der weißen Eisfläche empor? Ist es nicht etwas von einem Schiffsmaste? Es konnten doch wol nicht die Trümmer des »Tegetthoff« sein? Diese Fragen drängten sich mir unwillkürlich auf, als wir einen Balken erblickten, der aus dem Eise schräg in die Luft emporragte. Doch als wir näher kamen, sahen wir, daß es ein Treibholzstamm war, der wahrscheinlich infolge der Pressungen in diese Lage gerathen war. Er kam vermuthlich aus den Urwäldern Sibiriens und hatte vielleicht schon lange hier oben herumgetanzt. Leider waren wir nicht im Stande, ihn mitzunehmen, er hätte uns sonst gutes Brennholz geliefert. Ich schnitt die Anfangsbuchstaben unserer Namen und 85° 30' nördlicher Breite in den Stamm ein.

Diesmal war es »Sjölike«, der sein Leben für die andern Hunde lassen mußte. Wir müssen jetzt öfter schlachten und den 3 bis 4 Tage reichenden Pemmikan, den wir noch für die Hunde haben, soviel wie möglich zu sparen suchen.

Von 9 ½ Uhr vormittags des 21. bis 1 ½ Uhr morgens des 22. legten wir gewiß 36 Kilometer zurück; es war der beste Marsch, den wir bisher gemacht haben. Aber es fuhr sich auch gut. Große, weite Flächen, hier und da mit einem Eisrücken und gelegentlich einem Stückchen weniger glatten Eises. Es ist wirklich ein Vergnügen, wenn es so gut geht. An einem solchen Tage nähern sich die Freuden der Heimat, wenn man hinter den Schlitten hergeht und phantasirt, und das ganze Dasein erglänzt in rosigem Licht. Am nächsten Tage war das Eis ebenfalls gut, und obgleich ein wenig Schnee gefallen war, auf dem die Schlitten nicht so leicht gleiten wollten, rückten wir doch gegen 35 Kilometer vor.

Bisher hat die Sonne unsern Augen nicht geschadet, obgleich wir noch nicht angefangen haben, Schneebrillen zu benutzen, sondern uns nur die Krempe unsers Filzhutes, den wir unter der Kapuze tragen, tief in die Augen ziehen.

Der kleine »Bjelki« wurde gestern geschlachtet. Du lieber Gott, viel Fleisch war an dem Wollknäuel nicht und viel Nutzen haben wir auch nicht von ihm gehabt. Noch besitzen wir 21 Hunde, die schlechtesten sind beinahe alle weg.

Nansen hat gestern einen Schneeschuh zerbrochen; nun haben wir nur noch einen ganzen in Reserve.

Am 24. und 25. April war das Eis allerdings nicht gut, aber wir machten doch ordentliche Fortschritte. Die Temperatur hat in den letzten Tagen den Tag über -26° bis -28° und nachts ungefähr -30° betragen.

Merkwürdigerweise trafen wir eine quer über unsern Süd 5° Ost gerichteten Kurs laufende Fuchsspur, und eine Weile später fanden wir noch eine Spur. Die letztere war dicht bei einer offenen Rinne, wegen deren wir unser Lager aufzuschlagen genöthigt waren. Wir mußten hiernach natürlich glauben, in der Nähe von Land zu sein. Bei der ersten Spur fanden wir auch Fuchsexcremente, es konnte also noch nicht lange her sein, daß Reinecke etwas verspeist hatte. Aber woher hätte er hier, draußen im Treibeise wol etwas zu fressen bekommen sollen? Nach unserm Besteck hätten wir bis zur Westküste von Petermann-Land noch circa 220 Kilometer; es kommt also darauf an, wie weit es sich nach Osten erstreckt.

Jetzt heißt es, jeden Tag nach Land ausschauen; wir haben auch angefangen, die Gewehre nachts mit ins Zelt zu nehmen.

Am 26. April waren wir auf 84° 46' nördlicher Breite. Der »Gelbe« mußte den Tag darauf den Tod erleiden. Er war der letzte der von »Kvik« an Bord der »Fram« geborenen und von uns mitgenommenen Hunde. Die armen Thiere sind uns nützlich gewesen, sollten aber von Gottes schöner Erde nichts weiter als Eis und Schnee zu sehen bekommen.

Am 28. waren wir von früh morgens bis 10 Uhr abends unterwegs, dann aber mußten wir des bewölkten Himmels und des starken südlichen Windes wegen das Lager aufschlagen.

Als wir den Marsch begannen, stießen wir auf eine ganz offene Rinne, in der das Eis in beständiger Bewegung war. An ihr, die sich von Osten nach Westen zog, mußten wir gegen zwei Stunden entlang ziehen, ehe wir hinüberkommen konnten, und es glückte uns auch nur mit genauer Noth dadurch, daß wir zum Hinüberführen der Schlitten einen günstigen Augenblick benutzten, als sich das Eis zusammenpreßte. Das Eis knisterte, polterte und krachte unter unsern Füßen, während die Rücken sich immer höher aufthürmten. Es war der Lärm, den wir so gut kannten, diesmal aber waren wir mitten drin. Ich mußte an der Stelle unsers Ueberganges einen Laufmarsch nach der andern Seite machen, um meine Schneeschuhe, die ich während der Arbeit abgelegt hatte, in Sicherheit zu bringen; aber schon hatten die herannahenden Eisrücken die Spitzen der Schneeschuhe bedroht, und ich konnte sie gerade noch retten. Unsers Dafürhaltens hatten wir mit dem Uebergange einen guten Schritt gethan, nahmen daher eine Extraportion Chocolade zu uns und thaten uns, auf unsern Kajaks auf sicherm Eise sitzend, recht gütlich, während wir zuhörten, wie das Eis tobte, daß solche Mücken wie wir seiner Umarmung entschlüpft waren.

Dann kamen wir auf ebene Flächen, wo es schnell vorwärts ging, obschon uns die ganze Zeit ein heftiger Südwind gerade entgegen blies und wir eine Temperatur von beinahe -30° hatten. Auch hier wieder Fuchsspuren. Vorsichtigerweise schlugen wir das Lager zwischen Eisrücken auf und bereiteten uns, so gut wir konnten, auf einen vielleicht mehrtägigen Schneesturm vor, denn danach sah es aus. Heute, am 29. April, ist jedoch schönes Wetter; wir haben ebenes Eis vor uns und sehnen uns nach einem guten Tagemarsche, der uns dem Lande näher bringen wird, das wir unserer Ansicht nach noch heute erblicken müssen. Gestern wurde das »Kind« geschlachtet, auch dieser Hund war beinahe fertig. Die Hunde bleiben nicht bei Kräften, arbeiten sich ab und werden mager, bekommen sie doch auch zu wenig zu fressen. Wir werden heute eine kleine Extraration von unserm Pemmikan an sie austheilen.

Der letzte April. Der »wunderschöne« Monat Mai kommt, aber große Veränderungen wird er uns wol nicht bringen.

Gestern waren wir nur 5 oder 6 Stunden unterwegs. Der Anfang war vielversprechend, aber bald stießen wir auf mehrere Rinnen, die unsern Kurs kreuzten und um die wir geduldig herumgehen mußten. Bald trafen wir eine gewaltige Rinne mit offenem Wasser, an der wir nach Westen hin entlang zogen, aber ohne Resultat. Nansen ging allein weiter und blieb mehrere Stunden fort, doch konnte auch er keinen Uebergang finden. Wir mußten uns also in Geduld fassen. Dies thaten wir denn auch, schlachteten »Narrifas« und gaben den Hunden halbe Portionen.

Das Wetter ist schön, und es wird jetzt milder, gestern waren nur -20,3°. Im Zelte ist es gemüthlich warm, wir schlafen nachts vorzüglich. Das Leben beginnt lichter zu werden, und die Heimat glänzt vor uns auf dem Marsche in vielen lockenden Gestalten.


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