Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Fünftes Kapitel.

Weihnachts- und Neujahrsvergnügen.

Ich habe unsere Zeitung »Framsjaa« schon erwähnt. Es dürfte nun wol an der Zeit sein, daß meine Leser von diesem zweifellos nördlichsten aller Preßorgane etwas genauern Bescheid erhalten.

Im Spätherbst wurde abends einmal die Frage der Gründung einer eigenen Zeitung zur Beförderung der geistigen, socialen und politischen Interessen der Frambesatzung discutirt; ein motivirter Prospect darüber wurde vorgelegt und das nothwendige Aktienkapital zur Begründung des großen Unternehmens auf der Stelle gezeichnet. Unser Doktor Blessing wurde durch Acclamation zum Chefredacteur erwählt, während es uns andern neben ihm gestattet wurde, gleichzeitig in doppelter Eigenschaft aufzutreten, als ständige Mitarbeiter und als Abonnenten.

Die erste Nummer erschien am 10. December und begann mit folgendem »Leiter« aus der Feder der Redaktion:

Indem die »Framsjaa« heute in ihrer ersten und hoffentlich nicht letzten Nummer erscheint, gestatten wir uns, das Blatt auf das beste zu empfehlen. Den Gegenständen, denen das Blatt seine Spalten erschließt, sind keine Grenzen gesetzt. In Versen und in Prosa kann man nach Lust und Vermögen alles zwischen Himmel und Erde behandeln und kritisiren. Das Blatt besitzt dreizehn Mitarbeiter, die hoffentlich alle zum Aufblühen der Zeitung beitragen. Die Zahl der Abonnenten beträgt dreizehn, und in dreizehn Exemplaren kann das Blatt auch immer erscheinen, wenn dreizehn Menschen es nur über sich vermögen, sich jeder eine Abschrift davon zu nehmen. Auch Illustrationen werden mit offenen Armen aufgenommen, sei es nun, daß sie von einem erklärenden Text begleitet sind, oder daß ihre Vorzüglichkeit einen solchen überflüssig macht. Es wird gebeten, jedem eingesandten Beitrage der Sicherheit halber einen Beutel voll Ausrufe- und Fragezeichen beizufügen, welche die Redaction dann nach bestem Wissen und Gewissen über die am meisten exponirten Punkte zu vertheilen versuchen wird. – Die Anonymität wird bei der Redaction ebensogut gewahrt werden wie in Sankt Peter's wohlverschlossenem Kasten. Das Blatt wird so oft erscheinen, als es sich bezahlt macht und als es kann.

Indem wir die übliche empfehlende Einführung schließen, sprechen wir die Hoffnung aus, daß alle nach Kräften dazu beitragen möchten, daß die »Framsjaa« unbegreiflich und unablässig wiedergeboren werde.

Hochachtungsvoll Die Redaction.

Dann folgt unter den Beiträgen zur ersten Nummer des Blattes folgendes Gedicht:

»Framsjaa« getauft du bist,
Blessing dein Redacteur ist.
Wir vertrauen auf Leute von Geist und Kraft:
Sonst kein Erfolg, keine Führerschaft.
Wir wünschen, du möchtest glücklich werden
Und prächtig gedeihen allhier auf Erden!

Das Sprichwort »Neue Besen kehren gut« bewahrheitete sich auch bei der »Framsjaa«. Die Zeitung wurde namentlich im Anfang mit riesigem allgemeinem Interesse aufgenommen. Es liefen reichlich Beiträge ein, und diese waren oft bei all ihrer Anspruchslosigkeit amüsant und inhaltsreich, wenn auch die meisten weder mit einem strengem kritischen Maßstabe gemessen werden durften, noch auch in dieser Absicht geschrieben waren.

Der Gesundheitszustand des Kindes mußte infolge dessen im ersten Lebensjahre für außerordentlich gut erklärt werden. Doch niemand darf sich länger strecken, als die Decke reicht, und dies war vielleicht unser Fehler. Wir verschleuderten gleich mit vollen Händen, was wir zu geben hatten. Aber unter Verhältnissen wie die unsern, wo das geistige Leben wenig oder gar keine Anregung von außen her erhalten konnte, war es ganz natürlich, daß wir auf diese Weise ziemlich bald unsern Stoff erschöpft haben mußten. Schon bevor Nansen und Johansen uns im Frühling 1895 verließen, war der junge Weltbürger deshalb an der Schwindsucht eines stillen, schmerzlosen Todes verblichen.

Doch war der Lebenslauf der »Framsjaa« auch nicht lang, so hat sie doch in dieser Zeit viel Gutes gewirkt. Sie verschaffte uns manchen heitern, angenehmen Augenblick, verjagte oft traurige, niedergedrückte Stimmungen und ließ uns gleichzeitig einen tiefern Einblick in unser Inneres thun, wodurch wir unter anderm auch lernten, wie wir uns am besten ineinander schicken konnten, eine Kenntniß, von der wir auf unserer Reise fernerhin oft Nutzen hatten.

In den auf die Geburt der »Framsjaa« folgenden Tagen hat uns auch etwas anderes, nicht minder Wichtiges in Anspruch genommen: Weihnachten stand vor der Thür.

Während wir in Gedanken unsere Lieben daheim im alten Norwegen alles zum Feste in Stand setzen sehen, während wir sie schauen, wie sie backen und braten, großes Reinemachen abhalten und sonst noch hundert Dinge zu bedenken haben, um, jedes nach seinem Vermögen, allem einen so festlichen Anstrich als nur möglich zu verleihen, darf man nicht glauben, daß wir an Bord der »Fram« nicht auch »Weihnachtsvorbereitungen« trafen.

Ja, und ob! Wir hielten großes Scheuerfest sowol auf dem Schiffe wie an uns selbst und machten im Salon und in den Kabinen rein. In der Küche ist gebacken und gebraten worden, Weihnachtsgebäck, Puddinge und Pastetchen, daß es im ganzen Schiffe nach Weihnachten geduftet hat. Und das Weihnachtsfest vor Augen, haben wir längere Zeit an unsern mittäglichen Bierrationen gespart, und dann haben wir auch unser Gehirn angestrengt, damit die Weihnachtsnummer der »Framsjaa« mit einem Inhalt, der sich sehen lassen kann, Staat machen darf.

Der Heilige Abend kam, mit ihm die anderthalbjährige Wiederkehr des Tages unserer Abfahrt von Christiania.

Diese beiden Dinge zogen unsere Gedanken mehr als je nach der Heimat hin, erweckten schmerzliches Sehnen und damit auch ein wenig Schwermuth, sodaß wir vom Morgen an ziemlich still umhergingen, kurze Fragen über das Allernothwendigste thaten und ebenso einsilbige Antworten gaben. Aber im Laufe des Tages wurde die Stimmung lebhafter, und als nach einem wirklich guten Mittagessen die »Framsjaa« hervorgeholt und vom Redacteur laut vorgelesen wurde, fand sie in uns allen eine sehr gespannte, begeisterte Zuhörerschar. Aus ihrem Inhalt erlaube ich mir hier einige Verse des Gedichtes »Weihnachten 1893« abzudrucken, denn ich glaube, daß dieses bei all seiner Einfachheit der an diesem Tage in uns allen herrschenden Stimmung am besten Ausdruck verleiht.

Weihnachten 1893.

Im Norden hoch in der Normannen Lande,
Da eilt gar oft vom Heimatsstrande
Ein Jüngling fort aus trautem Vaterhaus,
Denn in die Fremde zieht es ihn hinaus.
Millionen-Städt' in Süd und Nord
Sieht er von seines Schiffes Bord.
Auf andres fiel doch unser Sinn,
Uns zieht es nach dem Norden hin.
Nach unbekanntem Lande.

Doch nicht allein den, der zur Ferne eilt.
Laßt die Trennung seltsam erbeben.
Heiß klopft auch ein Herz, das daheim noch weilt
Und vermißt dich stündlich im Leben,
Und noch mehr als sonst, wenn Weihnacht naht.
Wenn Schnee bedecket jeglichen Pfad,
Wenn jeder sein Heim auf das beste schmückt
Und manch lieber Gast das Haus beglückt. –
Vereint laßt nun unsere Wünsche erschallen:
Gesundheit und Glück unsern Lieben allen!
Geduld nur – am Pole harrt unser das Glück,
Und der nächste Frühling führt uns zurück!

Um 7 Uhr abends wurde mit der Schiffsglocke das Fest eingeläutet. Es klang hier in der Einsamkeit des Polareises seltsam feierlich, beinahe wie ein aus der Ferne herübertönendes Echo aller der Hunderte von Glocken, die gerade jetzt daheim landaus landein in Haus und Hütte das Weihnachtsfest verkünden.

Wir waren in die rechte Weihnachtsstimmung gekommen, und sie verflüchtigte sich auch durchaus nicht, hob sich vielmehr noch, als nach dem sehr gemüthlichen Abendessen zwei Kisten mit Geschenken hereingebracht wurden, die Scott-Hansen's jetzige Frau, dazumal noch Fräulein Anna Fougner, und seine Mutter bei der Abreise der »Fram« mitgeschickt hatten. Jeder von uns erhielt eine oder mehrere Gaben, die unter großer Heiterkeit und Freude ausgetheilt und mit einer Dankbarkeit in Empfang genommen wurden, wie sie nicht größer sein konnte.

Aber es war auch wirklich zu hübsch von den beiden Damen, schon so lange im voraus daran zu denken, daß auch für uns ein Weihnachtsfest kommen würde, und so viel zu thun, um es für uns zu einem fröhlichen zu machen. Wir fühlten uns dadurch auf einmal der Heimat nähergerückt. Keiner von uns wird ihnen dies je vergessen.

Der Rest des Abends verging mit Gesprächen über dies und jenes, hauptsächlich jedoch über unsere Lieben zu Hause. Wir wurden auch mit Weihnachtssüßigkeiten tractirt; jeder erhielt einen Teller voll Rosinen, Feigen, Krachmandeln, Marzipan und Cakes. Und schließlich bekamen wir an diesem Abend das erste »echte« Glas Grog seit unserer Abreise von Norwegen; wir konnten sogar wählen, ob wir Whisky oder Cognak wollten. Das Einzige, was uns die Gemüthlichkeit ein bischen »verdunkelte«, war, daß wir infolge der Windstille auf das elektrische Licht verzichten und uns mit Lampenlicht begnügen mußten. Es war aber trotzdem urgemüthlich, als wir an unserm warmen Grog nippten und unsere Pfeifen rauchten, und erst zwischen 3 und 4 Uhr morgens trennten wir uns.

Eine Episode von unserm ersten Heiligen Abend, die ebenso scherzhaft war, wie sie andererseits einen seltsamen Eindruck auf uns machte, muß ich noch erwähnen.

Wir warm gerade im Begriff, uns zum Abendessen niederzusetzen, alle in unsere Polartracht gekleidet, da trat durch die Salonthür ein richtiger Elegant aus der Karl-Johann-Promenade in seinem Winteranzuge ein, behandschuht, einen glänzend schwarzen Cylinder auf dem Kopfe und ein Spazierstöckchen unter dem Arme.

»Guten Tag, meine Herren«, sagte er, »ich bringe Ihnen allen Weihnachtsgrüße von zu Hause, von allen Bekannten und Lieben. Es geht ihnen allen gut, aber sie sehnen sich unbeschreiblich nach Ihnen und zählen die Tage, bis sie Sie wieder in die Arme schließen können.«

Es war Scott-Hansen, der uns diese kleine improvisirte Komödie vorspielte. Er trat die ganze Zeit über als Besuch auf, und wir forderten ihn unsererseits nach guter alter norwegischer Sitte auf, sich zu uns zu setzen, mit dem, was das Haus zu bieten vermöchte, vorlieb zu nehmen und sich ganz als unsern Gast zu betrachten.

Am Morgen darauf, am ersten Feiertage, standen wir erst gegen 10 Uhr auf und machten, sieben Mann hoch, nach dem Frühstück einen tüchtigen vierstündigen Spaziergang auf den Eisfeldern. Das Wetter war schön und still bei 38° Kälte. Gegen 3 Uhr kehrten wir mit ungeheuerm Appetit zum Mittagessen zurück, das aus Ochsenschwanzsuppe, Fischpudding mit Kartoffeln und geschmolzener Butter, Renthierbraten, Moltebeeren mit Sahne und Ringnes-Bockbier bestand.

Ich halte mich deshalb bei diesem Mittagessen besonders auf, weil in der Mitte des Tisches ein prachtvoller Baumkuchen Prangte, von dessen Spitze die norwegischen Farben wehten und der, wie aus dem unten angeführten Begleitschreiben hervorgeht, ein Geschenk des Bäckers Hansen in Christiania war. Ich hoffe, der geehrte Spender wird nichts dagegen haben, wenn ich sein Schreiben hier anführe. Es lautete:

Hochverehrter Herr Dr. Nansen und muthige Genossen auf der Fahrt!

Empfangen Sie diese Kleinigkeiten, die Sie daran erinnern sollen, daß es daheim in allen Schichten der Gesellschaft Leute gibt, die Ihrer gedenken und Ihnen von Herzen fröhliche Weihnachten, ein gutes neues Jahr und Glück und Erfolg auf Ihrer kühnen Fahrt wünschen.

Mit dem Wunsche, daß Gott Sie ans Ziel und wohlbehalten wieder nach Hause führen möge, zeichne ich mit aller Hochachtung vor unsern muthigen Männern

Ihr ergebener Schiffsbäcker

H. Hansen.

Ich brauche wol nicht zu versichern, daß diese herzlichen Worte einen tiefen Eindruck auf uns machten, und wol ebenso wenig, daß wir dem Kuchen volle Gerechtigkeit widerfahren ließen. Die übrigen Festtage und den Rest des alten Jahres über hatten auch wir »Weihnachtsferien«. Da wurde außer dem Allernothwendigsten keine Arbeit vorgenommen, sondern wir vertrieben uns die Zeit mit Lesen – wir hatten ja eine gute Bibliothek –, mit ein wenig Karten- und Dominospiel und mit allerlei Vergnügungen im Freien, namentlich damit, mit Pfeilen nach einer Scheibe zu schießen.

Dann kam der Sylvesterabend 1893, und wir nahmen von dem alten Jahre Abschied.

Die »Framsjaa« zeugte natürlich von außergewöhnlicher dichterischer Begeisterung.

In Anbetracht der recht guten Resultate, auf die die Expedition nach dem letzten halben Jahre zurückblicken konnte, hatten wir doppelt Grund, den Tag zu feiern. Beim Mittagessen hielt Nansen eine Rede, gab uns einen Ueberblick über die bisher erreichten Resultate und sprach den Wunsch aus, daß das kommende Jahr uns verhältnißmäßig ebenso günstig sein möchte, ein Wunsch, in den wir alle von Herzen einstimmten, indem wir mit unserm Führer ein Glas auf unser liebes Norwegen leerten.

Beim Jahreswechsel um 12 Uhr sang ich »Des alten Jahres Abschied« von Tutti Frutti. Scott-Hansen trat als sterbender Greis verkleidet auf und schwankte mit unsichern Schritten aus der Thür, um gleich darauf als »Neues Jahr« in Jünglingsgestalt wiederzukommen. Auch an diesem Abend blieben wir wieder bis gegen 4 Uhr morgens beisammen und vertrieben uns die Zeit mit Gesang, Deklamation und muntern Gesprächen. –

So, wie ich es in diesem und im vorhergehenden Kapitel zu schildern versucht habe, verlief im ersten Winter unser Leben an Bord der »Fram«. Wie mangelhaft meine Beschreibung auch sein mag, hoffe ich doch, daß sie ein einigermaßen anschauliches Bild von unserm Leben und Treiben gibt, im Ernste wie im Scherze, mit seinen Sorgen wie mit seinen Lichtseiten.

Ich will diese Schilderung mit einigen Bruchstücken aus einem in der dritten Nummer der »Framsjaa« enthaltenen spaßhaften fingirten »Interview« abschließen, in dem wir fast alle miteinander in harmlos scherzhafter Weise kleine Seitenhiebe abbekommen. Das Interview gibt die Schilderung der Eindrücke eines russischen Vicegouverneurs, der an Bord gewesen ist und nun dem Redacteur der »Framsjaa« über den Besuch berichtet.

An den Redacteur der »Framsjaa«.

Kotelnyj, 2. Januar 1894.

Der Verabredung gemäß sende ich Ihnen hiermit einige Aufzeichnungen über die Eindrücke, die ich gelegentlich meines in voriger Woche an Bord der »Fram« stattgefundenen Besuchs gewonnen habe.

Mit gespannter Neugierde stieg ich die steile Kajütentreppe hinab, um die Personen, die ich bisher nur auf dem Papiere gesehen hatte, von Angesicht zu Angesicht zu erblicken.

Zuerst gelangte ich in die »Jochgasse«.»Jochgasse« war der Name der gemeinsamen Kabine an Backbord. Dort saß ein Mann mit langem schwarzem Bart und schnitzelte mit einem ungeheuer großen Messer an ein paar Holzleisten. Ich erkannte in ihm nach der Photographie Steuermann J(acobsen); aber meine Verwunderung war groß, als er sich als Eisenhändler, Leistenfabrikant und »Wasserelektrotechniker« vorstellte. Er hielt mir einen Vortrag darüber, wie schlimm es bei all der Feuchtigkeit in der Kabine sei. »Hier muß alles Mögliche geschehen«, sagte er, »damit wir nicht im Wasser umkommen. Wie Sie sehen, habe ich meine Koje und die der andern jetzt durch verschiedene Vorkehrungen geschützt, aber hier ist doch noch täglich neue Verschalung und Auftrocknung nöthig. Meine elektrische Wasserleitung ist noch nicht ganz so, wie sie sein sollte.«

Hier wurde er durch den Eintritt einer andern Person unterbrochen. Es war ein untersetzter, kräftig gebauter Bursche, dessen Photographie ich jedoch nicht in der Zeitung gesehen hatte; er mußte also der Dreizehnte sein.Der Dreizehnte: Bentsen. Er trug einen Bart à la Napoleon III., weil er, wie ich später hörte, ein leidenschaftlicher Bewunderer dieses Kaisers war.

»Ja, sehen Sie, mit der Wasserleitung ist es noch so so«, sagte er, »sie muß erst noch mit Schmirgelpapier abgerieben werden.«Eine Anspielung darauf, daß Jacobsen alles ganz außerordentlich sorgfältig ausführte.

Ich blickte vom einen zum andern. Beide waren ernst; dies mußte also etwas sein, wovon ich nichts verstand. Ich schlug daher ein anderes Thema an.

In beiden Oberkojen lag je einer und schlief. Der Kleinste lag in der längsten Koje. Ich erlaubte mir zu fragen, weshalb gerade er, der doch so klein sei, in dem größten Bette liege. »Ja, das will ich Ihnen sagen«, antwortete der Dreizehnte; »er hält sich selbst für so lang, müssen Sie wissen.«Ein kleiner Hieb auf mich, weil mich die Natur nun einmal nicht größer gemacht hat, als ich bin.

Dies schien mir eine wunderliche Rede, und ich wechselte wieder das Thema. Indem ich auf das große Messer deutete, mit dem der Leistenfabrikant arbeitete, sagte ich: »Das ist wirklich ein prachtvolles Messer.«

»O ja!« erwiderte der andere, »es ist das Taschenmesser unsers Bübleins.Das Büblein: Hendriksen's Spitzname aus ganz entgegengesetzten Gründen; er maß nämlich vom Scheitel bis zur Zehe gut 1,80 Meter. Er bekam es, weil er in die Räuberhöhle»Die Räuberhöhle« wurde Dr. Blessing's mit allen möglichen medicinischen und chirurgischen Bestecken angefüllte Kabine genannt. gegangen ist. Aber da haben wir ja das Büblein selbst«, fügte er hinzu, indem er auf eine kolossale Gestalt deutete, die die Thüröffnung verfinsterte »Sage dem fremden Herrn schön guten Tag«, sagte er dann, »und zeige, daß du in der Räuberhöhle etwas gelernt hast.«

»Ist dies denn nicht der Harpunierer P(eder Hendriken)?« fragte ich.

»Nein, dies hier ist unser Büblein«, antwortete er.

Nun schien es mir wirklich, daß ich von dieser Kabine genug haben könnte; ich sagte also Adieu und zog mich zurück.

An der Thür neben der »Jochgasse« stand auf rothem Schilde mit schwarzen Buchstaben »Räuberhöhle«. Das also war die Räuberhöhle. Ich wagte nicht hineinzugehen; ich hatte ja das Spielzeug gesehen, mit dem die unschuldigen Kleinen dort spielten, und das war mir übergenug.

Ich ging daher nach der andern Seite hinüber. Dort erblickte ich in einem Schlafsacke eine Gestalt mit schwarzem Barte, offenen Augen und Renthierhaaren in Bart und Haar.Amundsen. Diese bat mich, Platz zu nehmen. Ich sah jedoch nirgends einen Stuhl und setzte mich also auf die andere Koje. »Au, zum Teufel auch!« schrie eine Stimme, und ich fühlte, daß ich auf einem Paar Beinen saß.

»Wer ist dies?« fragte ich.

»O, ich muß wol vorstellen?«, sagte der andere, »das da ist L(ars Petterson), der zweite Maschinist.«

»Aber wie kommt es, daß man sowol hier wie dort am helllichten Tage im Bette liegt?« fragte ich.

»Es ist hier an Bord ja nicht möglich zu schlafen«, sagte er. »Länger als 14 Stunden können wir nie schlafen. Und ist das wol für erwachsene Menschen genug Schlaf?« »Und dann sind sie hier an Bord alle so entsetzlich auf das Kartenspiel versessen«, fügte er hinzu. »Karten sind das Scheußlichste, was mir vor Augen kommen kann; sie sind das Spielzeug des Satans. Könnte ich nur alle Kartenspiele in meine Gewalt bekommen, ich würde sie ordentlich mit SchwarzölSchwarzöl war Theeröl oder nichtraffinirtes Petroleum, das unter anderm versuchsweise auch zum Heizen der Maschine benutzt wurde. tränken und damit heizen.«

Ich begriff auch hiervon kein Wort und zog mich zurück, um über all das Merkwürdige, was ich gesehen und gehört hatte, nachzudenken. Meine Zeit ist knapp, Herr Redacteur, deshalb muß ich meinen Bericht für diesmal schließen. Ich soll den Mann, der zu Weihnachten Lieutenant H(ansen) hierher brachte, gar vielmals von der hübschen Anna FeodorownaFräulein Anna Fougner, Scott-Hansen's Braut. grüßen. Er scheint großen Eindruck auf das schöne Mädchen gemacht zu haben. Sie ist seit kurzem so traurig geworden.

Mit den ergebensten Grüßen an alle Framleute

Ihr

Iwan Skobeleff, Vicegouverneur auf Kotelnyj.

Den ganzen Januar hindurch hatten wir stilles, aber kaltes Wetter. Am 29. sank die Temperatur bis auf -48,7 °C. Da mußten wir die Waffen strecken und – den Ofen heizen; mit den Lampen und dem Primus-Apparat allein ging es nicht mehr. Alles Flüssige, sogar das Quecksilber, gefror.

Am schlimmsten war es mit dem Wasser. Wir hatten schon seit langem kein anderes als das, welches wir durch Eisschmelzen gewannen. Doch hierzu bedurften wir des Süßwassereises, welches bei dieser ewigen Finsterniß nicht so leicht zu finden war.

Am 27. hatten wir eine heftige Eispressung gehabt. Wir befanden uns da auf 79° 50' nördlicher Breite. Am 2. Februar waren wir auf 80° 10' nördlicher Breite, hatten also den 80. Grad schon überschritten. Dies war für uns eine große Begebenheit, und sie wurde denn auch mit einem Diner und Kaffee und Kuchen am Nachmittage gefeiert.

Die ärgste Finsterniß neigte sich für diesmal ihrem Ende zu. Man konnte nun schon jeden Tag am Horizonte die Morgendämmerung gewahren, mit der der Tag uns ein »Habt nur Geduld, ich komme bald« zuwinkte.

Um diese Zeit begann Nansen, der im Laufe des Winters außer der Theilnahme an der gemeinschaftlichen Arbeit an Bord und neben seinen wissenschaftlichen Studien eifrig das Photographiren mit Magnesiumlicht betrieben hatte, die Hunde zum Ziehen anzulernen. (Das Nähen der Zuggeschirre für die Hunde war auch eine der Arbeiten, die uns im Laufe des Winters in Anspruch genommen hatten.) Mit einem Gespann von acht Hunden fuhr er von nun an täglich eine Strecke; es ging auch im ganzen genommen außerordentlich gut.

Die starke Kälte hielt noch immer an. Am schwersten waren die Füße dagegen zu schützen. Doch auch gegen diese Unannehmlichkeit wußten wir Rath zu finden. Wir machten uns alle daran, uns Schuhzeug mit Holzsohlen zu verfertigen, und es zeigte sich bald, daß diese Fußbekleidung die Kälte außerordentlich gut abhielt. Da wir keine passenden Lederstücke für das Oberleder besaßen, nahmen wir dazu die beste Sorte Segeltuch und machten das neue Schuhzeug so weit, daß wir die Füße darin außerdem noch sehr warm einhüllen konnten.

Fragt man, wer uns diese Art Handwerk gelehrt hatte, so antworte ich: niemand! An Bord der »Fram« galt mehr als sonst wo das Sprichwort »Noth macht erfinderisch«. Wer irgendetwas nöthig zu haben glaubte, mußte es sich, so gut er konnte, selbst verfertigen. Es nutzte nichts, hier- oder dorthin zu gehen und zu verlangen, daß einem dies und jenes gemacht würde. Prosit! »Mach's dir selbst!« wäre auf jeden Fall die Antwort gewesen. Und so machte man es denn selbst.

So ging es auch mit den Holzschuhen. Es war wol keiner unter uns, der von früher her in dieser Arbeit eine Spur von Uebung hatte, aber wir wurden doch damit fertig.

Ein höchst merkwürdiges Paar der neuen Fußbekleidung legte sich bei dieser Gelegenheit unser Freund Amundsen bei. Sie hätten wirklich verdient, auf eine Ausstellung geschickt zu werden. Mit Rücksicht darauf, daß seine Beschäftigung ihn hauptsächlich an den Maschinenraum fesselte, wo der Kessel seit einer Ewigkeit nicht geheizt worden war und wo eine milde Temperatur von -20° herrschte, machte er die neue Fußbekleidung nicht nur ganz außergewöhnlich groß, um sie recht gut »füttern« zu können, sondern nahm auch dreizöllige Sohlen, während unsere anderthalb Zoll dick waren, und während unsere Schäfte bis an die Waden gingen, reichten ihm seine bis an die Hüften.

Anfangs konnte er mit diesen »Gamaschen« kaum vom Fleck kommen, aber Uebung macht den Meister. Eines Tages hörten wir etwas über das Deck hinmarschiren. Es klang, als sei der Donnergott Thor in eigener Person auf einer Fußwanderung begriffen. Doch als wir genauer nachsahen, war es niemand anders als unser geliebter Maschinist mit seinen neuen Ballschuhen. Obgleich er die Sohlen unterwärts mit Leder beschlagen hatte, dröhnte es dennoch auf dem Verdeck wie ein Lastwagen mit Vorspann auf holperigem Steinpflaster. Wir waren oft über seine Erfindung verdrießlich, wenn sie unsere Nachtruhe störte, aber wir hatten auch manchen Spaß daran und sagten ihm, er solle sich doch auf diese neue Pflasterramme ein Patent nehmen, da sie als solche gewiß vorzügliche Dienste leisten würde, und dergleichen mehr. Wir hüteten uns aber wohl davor, mit seinen Schuhen in Collision zu kommen, denn Gott gnade den Hühneraugen, die ihnen in den Weg kamen, sie mußten wahrhaft schwer dafür büßen.

Am 16. Februar erblickten wir zum ersten mal seit dem 26. October eine Spiegelung der Sonne am Horizont, und am 20., meinem Hochzeitstage – weshalb ich mir als alter Seemann erlaubte, es als eine gute Vorbedeutung anzusehen –, zeigte sich die Sonne selbst zum ersten mal über dem Horizont. Sie wurde mit einem großen Schützenfeste auf dem Eise, Pfeilschießen zur Ehre des Tages, Extraspeisen und -Getränken und den fröhlichsten Hoffnungen in Betreff des kommenden Frühlings und Sommers willkommen geheißen.


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