Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Siebentes Kapitel.

Die zweite Winternacht und ein Entschluß.

Das Eis beginnt zuzufrieren und fahrbar zu werden. Dies ist ja soweit gut, aber gleichzeitig auch ein sicheres Zeichen dafür, daß die Finsterniß sich wieder nähert.

Noch eine lange Winternacht hier oben in dieser Eiswüste zu verleben, vielleicht sogar noch mehrere, halten wir dies aus? Besitzen wir alle die moralische Kraft, die Willensenergie, die neben einem gesunden, starken Körper hierzu die erste, hauptsächlichste Bedingung ist? Sobald erst ein Wille oder ein paar anfangen zu brechen, laufen die andern Gefahr, davon angesteckt zu werden. Das Gemüthsleiden ist eine ansteckende Krankheit, besonders in einer Umgebung wie diese, wo das Grauen der unendlichen Einsamkeit den Menschen oft wie eine feuchtkalte, unsichtbare Riesenhand an der Kehle packt, sodaß man wie vor plötzlicher Angst ersticken zu müssen glaubt.

Deshalb kommt es jetzt mehr denn je, und je weiter die Zeit fortschreitet, immer mehr darauf an, sich selbst aufrecht zu erhalten, um dadurch auch auf die andern einzuwirken. Eins fällt uns schon jetzt auf, etwas, was gefährlich werden kann, wenn es hier fruchtbaren Boden findet: wir sind entsetzlich empfindlich geworden, leicht reizbar, wie man zu sagen pflegt.

Zeigt »Lina« einige Tage den falschen Weg an, so müssen wir jedes Wort, das wir miteinander sprechen, auf die Goldwage legen. Dann ist es, wie wir ausfindig gemacht haben, das Klügste, lieber ganz stillzuschweigen und die Gabe der Rede nur zu den allernothwendigsten Mittheilungen und dem Bescheidgeben über dies oder jenes zu gebrauchen. Andererseits aber können dreizehn so stumme Männer gerade auch nicht zur Hebung der Stimmung beitragen.

Wir befanden uns jetzt also in den letzten Tagen des Monats August und mit der Kälte konnten wir auch die Besuche der Eisbären erwarten. Wir überzeugten uns deshalb davon, ob auch alle unsere Gewehre in brauchbarem Zustande seien, und dies war klug, denn schon in der Nacht zum 28. gerieth ein Bär in unser Fahrwasser.

Gerade als Johansen oben die Wache bezog, erblickte er ungefähr 500 Meter vom Schiffe einen Bären. Er weckte Blessing. Als beide wieder auf Deck kamen, war die Bestie so nahe herangekommen, daß sie sie in Schußweite hatten. Sie schickten ihr zwei Kugeln zu, die sie eines stillen, wenn auch plötzlichen Todes entschlafen machten. Für uns alle war es eine angenehme Abwechselung in unserm einförmigen Leben, daß wir nun den Bären abziehen und zerlegen mußten, und nicht minder, daß wir obendrein noch frisches Bärenfleisch mittags als Braten bekamen. Nachdem wir nun so lange von Conserven gelebt hatten, war dies ein wirklicher Leckerbissen.

Die Hunde ließen wir andauernd auf dem Eise, wo es ihnen sehr viel besser gefiel als an Bord. Doch theils der Kälte wegen, theils, weil wir noch weitern Bärenbesuch erwarten konnten, bauten wir ihnen Schneehütten, worin sie allerdings nachts wärmer lagen, aber auch die wildesten Raufereien veranstalteten, weil wir sie dort nicht anbinden konnten.

Ende September waren wir schon wieder mitten im Winter mit Eis, Schnee und 20° Kälte. Auf Grund der Erfahrungen des letzten Winters hatten wir im Laufe des Sommers neue Vorkehrungen getroffen, um uns an Bord besser gegen Frost und Schneetreiben schützen zu können. Wir hatten also ein Schneesegel über dem ganzen Schiffe ausgespannt und schützten dadurch sowol uns selbst bei unserer Arbeit auf Deck, wie auch die armen Hunde, die sich im Winter dort aufhielten. Ferner hatten wir unsern Vorrath an Schlitten, Schneeschuhen, Kajaks und Fellanzügen verstärkt.

Bart und Haare ließen wir beim Herannahen des Winters absichtlich wild wachsen. Und als wir nun nach Verlauf einiger Zeit mit Holzsohlenstiefeln oder Komagern an den Füßen, grauen Kniehosen, mit einem Renthierpelze, der mit einem Riemen über den Hüften zusammengeschnürt war, mit einer Katzenfellkapuze auf dem Kopfe, einem Bärenspieße in der Hand, einem großen Messer an der Seite, dem Revolver im Gürtel oder der Büchse auf der Schulter einherstolzirten, während Haare und Bart zottig herabhingen, würde unter dieser Außenhaut niemand so leicht etwas anders als einen Wilden des Polargebiets, am allerwenigsten aber einen civilisirten Menschen geahnt haben. Wir hätten daheim sicherlich brillante Geschäfte gemacht, wenn wir uns in diesem Anzüge im Tivoli hätten sehen lassen, von einer Tournée durch Europa und Amerika gar nicht zu reden. Barnum würde uns mit offenen Armen und noch offenerer Börse aufgenommen haben.

Jetzt begannen wir auch, die Hunde einzufahren, und machten bei dieser Gelegenheit eine Erfahrung, aus der wir später Nutzen zogen. Das Unangenehmste war dabei, daß ich es war, der das Lehrgeld bezahlen mußte. Es ging dies so zu.

Ich zog eines Tages allein mit einem Gespann von vier Hunden aus. Mit einem mal kam jedoch der ganze Rest der Hundegesellschaft hinterdrein, stürmte an mir vorüber und – übernahm die Führung, wie man es sportmäßig ausdrückt. Das war aber eine schöne Führung! Bald ging es nach Osten, bald nach Westen, und da diejenigen, die nichts zu ziehen hatten, wie die wilde Jagd dahinsausten und meine Hunde nicht hinter ihnen zurückbleiben wollten, so kann man sich lebhaft vorstellen, welch eine Fahrt es für mich wurde. Mit Windeseile, daß es mir nur so um die Ohren sauste und pfiff, wurde ich fortgerissen, ohne Widerstand leisten zu können. Und wäre die Eisfläche wenigstens noch glatt und eben gewesen, aber sie war an vielen Stellen geradezu scheußlich holperig und uneben, und ich hatte alle Mühe, die Hunde wenigstens so weit im Zaume zu halten, daß ich nicht selbst auf das Eis geschleudert wurde. Ich hatte mir einen losen Sitz auf dem Schlitten angebracht, den ich natürlich verlor, ohne daß davon die Rede sein konnte, anzuhalten und ihn wiederzuholen. Wo er lag, mußte ich ihn liegen lassen und weiter fahren, wohin das Hundegesindel wollte.

Von nun an war meine eigene Lage im Schlitten äußerst reich an Abwechselung; bald lag ich auf dem Rücken, bald auf dem Bauch. Ich fuhr nach Norden ab und kehrte nach zweistündiger Fahrt von Süden her zurück und konnte obendrein noch froh sein, daß ich mit heiler Haut davongekommen war.

Indeß hatte ich für die Zukunft die auch für die andern vortheilhafte Erfahrung geerntet, daß solche »Führung« nichts tauge. Von diesem Tage an nahmen wir bei den vielen Ausfahrten, die wir machten, stets einen oder mehrere Schneeschuhläufer als »Führer« mit.

Am 21. October ergaben die Beobachtungen, daß wir den 82. Grad passirt hatten. Dies war ja ein recht befriedigendes Resultat, das in hohem Grade zur Hebung der Stimmung beitrug, und da infolge des längere Zeit andauernden bewölkten Wetters es hauptsächlich »Lina« gewesen war, die uns offenbarte, daß wir in der rechten Richtung trieben, so wurde bei dem zu Ehren des Tages abgehaltenen Feste eine wohlverdiente, mit Beifall aufgenommene Rede auf sie gehalten, und wir ließen sie hochleben. In Versen wie in Prosa erklang manch hübsches, von Herzen kommendes Wort zu ihrem Lobe.

Wir merkten jetzt, daß der Winter im vollen Ernste gekommen war. Am 31. October hatten wir schon 32° Kälte, und die Räume an Bord begannen sehr kalt und ungemüthlich zu werden.

Um die Kälte wenigstens so viel abzuhalten, als in unserer Macht stand, begannen wir an der Außenseite der Kajüte und des Halbdecks Schneewände aufzuführen. Es erwies sich dies als eine glückliche Idee; es wurde an Bord den ganzen Winter hindurch selbst bei der strengsten Kälte viel wärmer, als es im vorhergehenden Winter gewesen war. Von Einheizen konnte bei uns ja nur im äußersten Nothfall die Rede sein.

Auch die Seiten des Schiffes verbarrikadirten wir auf dieselbe Weise mit soliden Mauern, die wir aus Eis, Schnee und Wasser aufbauten. Das Eis spielte dabei die Rolle der Mauersteine; die Fugen füllten wir mit Schnee aus und begossen dann unser Bauwerk mit Wasser, worauf es zu einer dichten, undurchdringlichen Masse gefror.

Ich hatte nun mit dem Ingangbringen des »Elektricitätswerks« alle Hände voll zu thun. Es galt, die Maschinen stets in Ordnung zu halten und Tag und Nacht jeden Windhauch zu benutzen, um die Maschine mit Kraft zu versehen und die Accumulatoren zu füllen, damit wir an Stelle der Sonne, die uns schon lange Lebewohl gesagt hatte, von jetzt an das schöne elektrische Licht als Ersatz und Aufmunterung hätten. Aber manchmal war es wirklich ein zweifelhaftes Vergnügen, in dem schneidenden Froste und dem bitterkalten Schnee stundenlang draußen zu sein und die Mühle zu überwachen.

Am 4. November kam eine Bärin mit zwei Jungen zu Besuch und wurde freundlich empfangen. Es war gerade unser bisheriger Vorrath an frischem Fleische fast ganz zu Ende. Eins der Jungen aßen wir vor lauter Zärtlichkeit gleich auf, schenkten den Hunden die beim Schlachten abfallenden Eingeweide und ließen den übrigen Leichen ein anständiges Begräbniß in unserer Vorrathskammer zutheil werden.

Um die Mitte dieses Monats reifte mehr und mehr Nansen's Plan, den er mit seinem Begleiter Johansen später so bewundernswerth durchgeführt hat: auf dem Eise, wenn möglich, den Pol zu erreichen und dann nach Hause zurückzukehren.

Zu dieser Zeit hatten wir nämlich wieder verschiedentlich an »Gegendrift« gelitten. Sogar die Karte unserer Drift begann jetzt im ganzen genommen ein höchst wunderliches Aussehen anzunehmen. Ich kann sie mit nichts Besserm oder Näherliegendem vergleichen als mit der Schrift eines Mannes mit zitternden Händen. Allerdings zeigte die Karte ein Fortschreiten, wenn wir den Endpunkt direct mit dem Ausgangspunkte verglichen, aber der Fortschritt war verhältnißmäßig doch gar zu gering und der Umwege waren es gar zu viele.

Hieraus zog Nansen den Schluß, daß viel längere Zeit, als er erst berechnet, darauf gehen würde, bis wir den Pol erreichen könnten, und daß es noch zweifelhaft wäre, ob wir überhaupt je dorthin kämen. Die größte Wahrscheinlichkeit spreche dafür, daß wir am Pole vorbei treiben würden. Diese Ueberlegung hatte ihn nach und nach dahin gebracht, daß er sich mit dem Plane zu beschäftigen begann, auf einer Expedition mit Hunden und Schlitten nicht durch, sondern über das Eis nach dem Pole zu ziehen.

Als er seinen Plan reiflich durchdacht hatte, rief er eines Tages Lieutenant Johansen zu sich hinein, erklärte ihm den Plan und fragte ihn, ob er eine solche Expedition mitmachen wolle. Seine Absicht war, selbst mit nur einem Begleiter zu Anfang März des nächsten Jahres, wenn die Sonne wieder zu erwarten war, mit Hunden, Schlitten und Kajaks, sowie mit Proviant für 100 Tage auszuziehen, um womöglich den Nordpol zu erreichen, jedenfalls aber, soweit es ginge, nach Norden vorzudringen. Von dort wollten sie ihren Kurs nach Franz-Joseph-Land und von da nach Spitzbergen richten, um dort ein Schiff zu finden, mit dem sie nach Hause reisen könnten.

Johansen erklärte sich sofort bereit, mitzukommen, und von diesem Tage an wurde eifrig mit den Vorbereitungen zur Expedition begonnen. Wenn sie das Schiff verließen, sollte Sverdrup das Kommando auf der »Fram« übernehmen und Scott-Hansen der Zweite im Kommando werden. Der Letztere sollte auch die Beobachtungen leiten und ich ihm dabei als Assistent dienen. Nansen und Johansen aber gaben in Anbetracht der Expeditionsvorbereitungen sogleich ihre bisherigen Beschäftigungen an Bord auf, um sich ausschließlich jenen Arbeiten und allem, was damit in Verbindung stand, widmen zu können.

Ich weiß nicht, ob es von anderer Seite schon irgendwo zur Sprache gekommen ist, aber übergangen darf es hier keineswegs werden: daß jeder von uns unbedingt Ja gesagt haben würde, wenn Nansen sich mit der an Johansen gerichteten Frage, ob er sich an der Expedition betheiligen wolle, an ihn gewandt hätte. Ich erwähne dies nicht, um mit uns andern zu prahlen, auch nicht, um den Muth, der zu der Reise der beiden gehörte, zu schmälern. Doch so klar uns allen natürlich die vielen ungeheuern Anstrengungen und die mögliche Lebensgefahr bei diesem Zuge vor Augen standen, so fest waren wir doch alle miteinander davon überzeugt, daß sie, die uns jetzt verlassen sollten, lange vor uns wieder daheim anlangen und, wenn sie nur einigermaßen Glück hätten, dabei ganz andere Resultate erreichen würden als wir. Und in Lebensgefahr konnten wir an Bord der »Fram« Zurückbleibenden ebenso gut gerathen wie sie draußen auf dem Eise. Alle Chancen gegeneinander gehalten, sahen wir es jedoch nicht nur als eine Auszeichnung, sondern auch als eine glückliche Wahl an, daß Johansen mitging, und da er unser prächtiger guter Kamerad und einer der Besten von uns war, so gönnten wir es ihm von Herzen.

Das Erste, was in Hinsicht auf die Expedition fertig gemacht wurde, waren das Zelt und die Schlafsäcke, welche letztern aus Renthierfellen angefertigt wurden. Als dies erledigt war, zogen sie auf das Eis hinaus und schlugen in ziemlicher Entfernung vom Schiffe ein Lager auf. Dort blieben Nansen und Johansen 14 Tage, kochten sich ihr Essen und lebten wie Nomaden, um, bevor sie auszogen, zu versuchen, wie es damit ginge. Außerdem kamen sie auf diese Weise am allersichersten dahinter, womit sie sich begnügen könnten und was sie hauptsächlich brauchten, da es ja darauf ankam, bei einer solchen Fahrt nur das Allernothwendigste mitzunehmen. Am 4. December kamen wir alle einer Einladung von ihnen auf – Hafersuppe nach.

Der 12. December war ein seit langem herbeigesehnter denkwürdiger Tag, denn die Ortsbestimmung ergab 82° 30', während der höchste Record, der bisher von Polarfahrern gemacht worden, 82° 27' nördlicher Breite war. Es versteht sich von selbst, daß der Tag gebührendermaßen gefeiert wurde.

Die schon früher begonnenen Fahrten nahmen nun mit Rücksicht auf die Expedition ein anderes, ernsteres Gepräge an. Die Schlitten wurden so schwer beladen, wie die Hunde sie vermuthlich auf der Reise würden ziehen müssen. Es zeigte sich, daß die Hunde im Durchschnitt kräftig und willig waren; sogar die ganz jungen zogen recht schwere Lasten.

Gerade in der Weihnachtswoche bekamen wir ein entsetzliches Schneewetter, das wildeste, das uns bis dahin je vorgekommen. Der Schnee fiel mehrere Tage hindurch so heftig und so dicht, daß es nicht gerathen war, sich auch nur drei bis vier Schritt vom Schiffe zu entfernen, wenn man nicht riskiren wollte, die »Fram« aus dem Gesichte zu verlieren und sich zu verirren. Und sich hier verirren, würde wol heißen, im Kreise herumwandern, bis man vor Müdigkeit und Kälte zusammenbrach und für immer liegen blieb. Wir hatten nämlich gerade eine Temperatur von -40°. Der Barometerstand war in diesen Tagen so niedrig, wie keiner sich erinnern konnte, je erlebt zu haben.

Bei solcher Temperatur war es nicht immer leicht, sich gegen Kälte zu schützen. Wenn wir ausgingen, mußten wir das Gesicht mit einer Maske bedecken. Dies half ganz gut, nur nicht unserer armen Nasenspitze. Ihr ging es geradezu schlecht, und mehr als einmal glaubten wir, daß sie uns für alle Zeiten abgefroren wäre.

Hauptsächlich des greulichen Wetters wegen wurden die Tage vor Weihnachten soviel wie möglich in den vier Pfählen zugebracht. Wir vertrieben uns die Zeit mit Lesen, Schreiben, Musik und Kartenspiel und natürlich auch mit den Vorbereitungen zu dem bevorstehenden Weihnachtsfeste. Die Stimmung war trotz des schlechten Wetters recht gut, da uns »Lina's« zuverlässige Orakelstimme sagte, daß die Drift jetzt hurtig nach Norden ging.

Wir alle waren fest davon überzeugt, daß Nansen und Johansen schon lange vor uns nach Hause zurückkehren würden. Sie sollten deshalb von jedem von uns einen Brief mit nach Hause nehmen, der aber des Raumes und Gewichtes wegen so klein wie möglich sein mußte. Wir erhielten deshalb jeder einen Bogen Papier von derselben Größe, und dann blieb es uns selbst überlassen, wieviel wir auf diesem einzigen Bogen unterzubringen vermochten. Am weitesten brachte es Scott-Hansen darin. Sein Brief war ohne Lupe nicht zu lesen, aber unter dieser war er ganz deutlich.

Der Weihnachtsabend kam mit trübem, wolkenschwerem Himmel heran. Draußen heulte noch immer der Sturm und pfiff und kreischte im Takelwerk und in den Wanten. Steckten wir nur die Nase aus der Kajüte, so wirbelte uns der Schnee wie rasend entgegen und peitschte unsere Gesichter wie mit Skorpionen. Es war gerade nicht das allerangenehmste Weihnachtswetter, und unter solchen Verhältnissen hatten die Gedanken doppelte Lust, nach der Heimat hinüberzuschweifen und sich die Weihnachtsfeier und den Kinderjubel unter dem brennenden Tannenbaume auszumalen, um dann das Gefühl der Einsamkeit durch den Gegensatz noch drückender zu machen.

Nein, fort mit diesen gefährlichen krankhaften Stimmungen und den Kopf hoch! Draußen zeigt ja »Lina« beständig den rechten Weg. Wenn wir, wie anzunehmen Grund vorhanden ist, wirklich schon den 83. Grad passirt hätten?

Diese Möglichkeit trieb Scott-Hansen und mich trotz des schauderhaften Wetters auf das Deck, um nachzusehen, ob es uns vielleicht gelingen könnte, durch einen Riß in den Wolken noch eine Beobachtung zu erhaschen. Doch erst am zweiten Feiertag waren wir so glücklich, die Gelegenheit dazu beim Schöpfe ergreifen zu können, und da fanden wir, daß wir auf 83° 22' nördlicher Breite waren.

Wir tranken deshalb nach dem Abendessen Champagner, den Messing destillirt und mit Etiketten ausgestattet hatte, auf denen »83° nördlicher Breite« stand. Außerdem gab es Taback, Cigarren und Cigaretten, Früchte und Kuchen. Der Salon war dem Weihnachtsfeste zu Ehren mit Fahnen und unserm Fram-Banner decorirt. Was die Aeußerlichkeiten betraf, war im Grunde alles geschehen, um es uns festlich zu machen, aber dem sei, wie ihm wolle, trotz der achtungswerthesten Bemühungen von allen Seiten wollte die richtige Feststimmung doch nicht aufkommen. Dagegen ließ sich indeß nichts thun; aufrichtige Heiterkeit steht nicht auf Kommando zu Diensten.

So standen wir denn wieder vor dem Jahreswechsel. An Sylvester hielt Nansen beim Abendessen eine Rede, in der er bei den im verflossenen Jahre gewonnenen Resultaten verweilte und uns ausmalte, was wir der Wahrscheinlichkeit nach im kommenden Jahre erreichen würden. Seiner Meinung nach war alle Aussicht vorhanden, daß wir den nächsten Sylvesterabend schon in der Heimat würden feiern können. Unsers Führers eigene Zuversicht wirkte ganz natürlich auch auf uns, besonders weil uns jetzt auch der Wind längere Zeit hindurch außerordentlich günstig gewesen war. Deshalb war die ganze Stimmung am Sylvesterabend weit gemüthlicher und heiterer, als sie während des Weihnachtsfestes gewesen war.

Zunächst begann aber das neue Jahr recht gefahrdrohend. Am Tage nach Neujahr setzte nämlich eine ungewöhnlich heftige Eispressung ein. In der unmittelbaren Nähe des Schiffes bildeten sich gewaltige Rinnen und Risse im Eise, und das Beobachtungszelt, die Hundehütten und was wir sonst noch draußen auf dem Eise hatten, wurden von den sich heranwälzenden Eisblöcken bedroht. Wir mußten deshalb alles so schnell wie nur möglich an Bord retten. Die armen Hunde wären beinahe in ihren Hütten ertrunken, ehe wir sie herausholten; wir mußten im letzten Augenblick die Thüren sprengen.

Die Pressungen wurden immer heftiger und am Abend des 3. Januar 1895 wurden sie sogar so entsetzlich, daß wir nicht einmal das Schiff mehr für sicher hielten. Nun ging es an ein Flüchten aus dem Schiffe. Proviant für Menschen und Hunde, alle möglichen Geräthschaften, Bekleidungsgegenstände und andere zur Ausrüstung gehörige Dinge wurden in größter Eile vom Schiffe auf das Eis gebracht und dort angehäuft, soweit es nur irgend ging von den gefährlichsten Rinnen entfernt. Zwei Mann mußten dort Wache halten, worauf wir andern, von der Anstrengung ermüdet, zu Bett gingen, natürlich in voller Kleidung, bei offenen Thüren und stets bereit, beim ersten Winke aufzuspringen und aufs Eis zu eilen.

Die Nacht verlief jedoch verhältnißmäßig ruhig. Am nächsten Tage gingen wir alle Mann ans Nähen von Segeltuchsäcken, um darin die unentbehrlichsten Bedürfnisse mitzunehmen, falls es unabänderlich nothwendig würde, die »Fram« im Eise zurückzulassen. Als die Säcke fertig waren, wurde jedem zugetheilt, was er in dem seinen mitnehmen sollte, worauf sie alle gepackt und neben die Kojen gehängt wurden, damit ein jeder seinen Sack im Augenblick finden und damit davoneilen konnte.

Das Eis preßte sich unausgesetzt zusammen, und am 5. Januar morgens gegen 5 Uhr fingen die aufgethürmten Eisrücken an, die Rehling zu entern. Die »Fram« legte sich mit einem Ruck auf die Seite; Eishügel und Schneemassen wälzten sich über sie, sodaß es geradezu grauenerregend aussah. Glücklicherweise leistete das Schneesegel ziemlichen Widerstand, wodurch auf das eigentliche Deck nicht so viel kam. Der größte Theil des Eises blieb an der Schiffsseite liegen und drückte gegen diese, indem es sich bis hoch zu den Wanten hinauf aufthürmte.

Wir fuhren noch immer mit dem Bergen aller möglichen Dinge fort. Da aber das Schiff sich nun so gewaltig auf die Seite gelegt hatte, daß man nicht wissen konnte, was im nächsten Augenblick geschehen würde, erhielten wir den Befehl, unsere Säcke zu ergreifen und auf das Eis zu flüchten. Dies kam uns so unerwartet, daß sowol ich wie mehrere andere nicht einmal Zeit hatten, einen ordentlichen Anzug mitzunehmen. Es gab ein Knacken und ein Getöse, und Knall auf Knall folgte; wie Kanonenschüsse klang es im Schiffe, und jeden Augenblick glaubten wir, das Schiff würde mit Stumpf und Stiel zermalmt werden.

Die Hunde wurden auf dem Eise losgekoppelt und sich dort selbst überlassen. Keiner hatte Zeit, ihnen auch nur einen Gedanken zu opfern; alle Hände waren beschäftigt, zu retten, was sich noch retten ließ, und dazu fesselte das Hereinbrechen der Eismassen über die »Fram« unsere ganze Aufmerksamkeit und alle unsere Gedanken.

Im Laufe des Tages ließ die Pressung ein wenig nach, sodaß wir uns ohne eigentliche Gefahr an Bord wagen und unsere Kleider holen konnten. Alles, was wir hatten bergen können, wurde nach einem ungefähr 500 Meter vom Schiffe entfernten Eishügel gebracht.

Bei diesem sah es so bunt aus wie in einem Dorfe nach einer größern Feuersbrunst. Proviant, Kleider, wissenschaftliche Instrumente und alle möglichen Geräthschaften, Küchengeschirr, Schlitten, Kajaks, Schneeschuhbündel und Gott weiß was noch alles lagen dort kunterbunt durcheinander. Ordnung gab es gar nicht, und was man für den Augenblick gerade haben wollte, war natürlich durchaus nicht zu finden. Mit sorgenvollen Blicken sahen wir von unserm Hügel aus auf die »Fram« hinunter, die sich in der engen Umarmung des Eises auf die Seite gelegt hatte. Wol keiner von uns hätte geglaubt, daß sie aus diesem Kampfe siegreich hervorgehen würde. Die Riesen, die sie angriffen, waren zu entsetzlich in ihrer Stärke.

Sogar die Hunde begriffen, daß Gefahr im Anzuge war. Sie drängten sich um uns und folgten uns die ganze Zeit über dicht auf den Fersen. Bei dieser Gelegenheit bewies »Suggen«, wie schon erwähnt, ihr braves, aufopferndes Gemüth dadurch, daß sie unaufgefordert den Wachtposten bei unsern Sachen einnahm.

Ja, es war ein schmerzlicher, aber zugleich auch ein imponirender Anblick, als unsere stolze »Fram« mit den Eismassen kämpfte, die sich mit Donnergepolter und oft geradezu mit Wuthgeheul über sie stürzten, um sie unter sich in der Tiefe zu begraben. Und sie selbst stöhnte, schrie und seufzte während des Ringens, versuchte gleichsam, sich aufzurichten und zu entfliehen, konnte aber nicht. Indeß sie zu zermalmen, dazu waren die wilden Mächte doch nicht im Stande. Als sie schließlich ihre Wuth ganz erschöpft hatten, lag unsere theure »Fram« vollständig unversehrt da. Mit ihrer Stärke war sie den heftigsten Angriffen der Eismassen gewachsen gewesen. Es war nicht anzunehmen, daß wir es mit einer noch ärgern Pressung als der, bei welcher sie eben ihre Kräfte erprobt hatte, zu thun bekommen könnten.

Ja, die »Fram« war ein unvergleichliches Schiff, und nun hatte sie auch noch die – Eistaufe erhalten!

Dies in Verbindung mit der am 6. Januar gemachten Beobachtung, aus der sich ergab, daß wir Lockwood's Weltrecord (83° 24') um 9 Minuten geschlagen hatten, belebte die Stimmung außerordentlich. Wir feierten den Tag und tranken ein Glas Punsch auf unser Wohl, sowie auf das der »Fram«.

Als die Pressungen sich ganz gelegt hatten, wurde wieder an Bord gezogen. Sobald dies geschehen war, machten wir uns alle mit Kraft und Eifer daran, unsere liebe »Fram« aus der schauerlichen Umarmung der Eismassen zu befreien. Wir fielen die Eis- und Schneemächte mit Spießen und Hacken an, und ein paar Stunden darauf lag das Schiff wieder so frank und frei da wie vor dem Ansturm. Doch ganz sicher davor, daß nicht eine neue Pressung von gleicher oder gar noch größerer Gewalt eintreten würde, konnten wir nicht sein. Deshalb waren wir noch einige Zeit Tag und Nacht bereit, augenblicklich zu retiriren, sobald sich etwas ereignen sollte.

Den ganzen Januar hindurch hatten wir prachtvolle Abende, die von Mondschein und spielenden Nordlichtern erhellt waren. Die letztern waren oft von geradezu berückender Pracht mit ihrem unaufhörlichen Wechsel in allen Farben des Regenbogens und dem flackernden, wilden Jagen, wobei sie bald in tiefem Karminroth, bald in blendendem Weiß oder Grün bis zum Zenith hinauffuhren, aufflammten, erloschen und sich von neuem entzündeten. Kein Maler, und wäre er der erste Künstler der Welt, wäre im Stande, auch nur eine annähernde Vorstellung von dem majestätischen Glanze und der Pracht dieses Luftschauspiels wiederzugeben.

Die unerwartete Verwirrung, die die Eispressungen verursacht hatten, brachte uns in diesen Tagen übrigens recht viel Arbeit, bis an Bord wieder Ordnung hergestellt war. Dazu kam noch die Ausrüstung für Nansen's und Johansen's Expedition, die auch schon ziemlich nahe heranrückte. Alle Hände waren in dieser Zeit unausgesetzt in geschäftiger Thätigkeit, aber in der dunkeln Polarnacht mußten die verschiedenen Arbeiten manchmal im Rückstand bleiben, umsomehr als das elektrische Licht oft streikte und wir dann auf das angewiesen waren, was wir an Lampen besaßen. Und weder mit Lampen, noch mit Petroleum waren wir besonders gut versehen.

Unsere Lampen waren von der allergewöhnlichsten Art, und was wir an Reservetheilen dazu besaßen, war nicht viel. Unsere Arbeitslampen waren zwei gewöhnliche Blechlampen, wie man sie in Haushaltungen benutzt; sie leuchteten schlecht und erloschen beim geringsten Luftzuge. Natürlich hielt uns dies bei der Arbeit nicht wenig auf, von dem vielen Aerger, den sie uns verursachten, gar nicht zu reden.

Ob die schlechte Ausrüstung in dieser Beziehung freiwillig und absichtlich war, kann ich nicht sagen – Nansen hatte ja wie begreiflich Angst vor allem, was an Bord hätte Feuersgefahr verursachen können, was sich unter anderm auch in der strengen Verordnung zeigte, in den Kabinen kein Licht zu brennen. Aber auch trotz der Lampen muß Vorsicht zu beobachten möglich sein, und ich möchte allen künftigen Polarexpeditionen rathen, an der Ausrüstung mit Lampen und Lichtern nicht zu sparen, denn dort oben im Eise keine genügende Beleuchtung zu haben, ist eine unglaublich harte Entbehrung.

Infolge der angestrengten Thätigkeit ging glücklicherweise die Zeit trotz der Dunkelheit und der damit verknüpften Unannehmlichkeiten schnell dahin, und an der Drift war ebenfalls nichts auszusetzen gewesen. Die Beobachtung vom 21. Januar ergab, daß wir uns auf 83º 42' nördlicher Breite befanden. Zugleich begann der Tag am südlichen Horizont zu dämmern, und wir freuten uns wie Kinder auf die Wiederkehr der Sonne.

Nansen selbst war die ganze Zeit über durch die Prüfung der für die Expedition angefertigten Geräthschaften voll in Anspruch genommen; er mußte sich überzeugen, ob sie Fehler hatten, und mußte das Beste und Bequemste auswählen, so z. B. die Bekleidung.

Um gleich herauszufinden, was für eine Fahrt wie die bevorstehende das Beste wäre, zogen er und Johansen am 12. Februar in Wolfsfellanzügen wieder auf das Eis hinaus und übernachteten dort in ihren Renthierschlafsäcken. Es zeigte sich, daß ihre Verkleidung noch nicht genügte, und den nächsten Tag zogen sie noch meinen Anzug von Fries unter das Wolfsfellgewand und machten die Schlafsäcke am Fußende dichter. Dies half.

Es war Nansen's Wunsch, möglichst bald aufzubrechen, sobald es hier wieder Tag wurde. Die Geschäftigkeit nahm deshalb eher zu als ab, und er selbst gönnte sich weder die nöthige Ruhe beim Essen, noch den nächtlichen Schlaf. Die Zeit, die uns bei den vielen verschiedenen, bis tief in die Nacht dauernden Arbeiten übrigblieb, benutzten wir, unsere Briefe nach Hause zu Ende zu schreiben. Außer den Briefen hatte Nansen auch versprochen, von jedem von uns eine Photographie mitzunehmen, und außerdem schrieb jeder auf ein Blatt Papier eine telegraphische Depesche, die bei Nansen's und Johansen's Heimkehr an die angegebene Adresse befördert werden sollte. Denn, wie schon oben gesagt, zweifelte keiner von uns auch nur einen Augenblick, daß sie lange vor uns in Norwegen ankommen würden.

Aber wie eifrig die Ausrüstung auch betrieben wurde, konnte die Expedition doch an dem anfänglich bestimmten Zeitpunkte nicht aufbrechen. Es ging sogar noch eine ganze Woche darüber hin; immer gab es etwas, was entweder vergessen war oder noch einmal gemacht werden mußte. Denn kein Mensch hat eine Ahnung davon, an welch eine unbeschreibliche Menge Dinge man bei einer solchen Gelegenheit denken muß. Von allem muß man etwas mitnehmen, aber des Gewichts wegen darf es auch nicht mehr als das Allernothwendigste sein. Das sahen wir am besten, als die Schlitten fertig bepackt waren. Eins der letzten Dinge, die wir für nothwendig fanden, waren – Hundeschuhe, damit sich die Thiere nicht die Fußsohlen zerschnitten und wundliefen. Wir machten ihnen Schuhe aus Renthierhaut, und allein schon durch diese Arbeit verspätete sich der Aufbruch wieder um einige Tage. Schließlich wurde der 25. Februar als der letzte Zeitpunkt für die Abreise festgesetzt.

Am Abend vorher hielten wir ein Abschiedsgelage. Der Salon wurde dazu mit Fahnen und mit unserm Banner geschmückt. Viele herzliche Dankesworte für das Zusammenleben in den letzten eindreiviertel Jahren wurden gewechselt und das Abschiedslebehoch mit Wein ausgebracht, den Scott-Hansen bei dieser Gelegenheit spendirte.

Zur Abreise kam es jedoch erst am 26. gegen 2 Uhr nachmittags. Nansen hielt beim Abschiede eine Rede, in der er Sverdrup das Kommando an Bord übertrug. Er dankte uns allen dafür, was wir, jeder auf seinem Gebiete und nach seinem Vermögen, für den Erfolg der Expedition geleistet hatten, und bat uns, auch in Zukunft unser Bestes thun zu wollen. Dann wurden die Hunde vor die Schlitten gespannt, und Sverdrup, Blessing, Mogstad, Scott-Hansen und Hendriksen begleiteten die Fortziehenden auf ihrem Wege. Sie hatten sich dazu mit Proviant auf zwei Tage ausgerüstet und ein Zelt sowie Schlafsäcke mitgenommen. Es war abgemacht worden, daß sie eine Tagereise weit mitgehen sollten.

Nachdem der letzte Händedruck ausgetauscht war, setzte sich der Zug in Bewegung. Eine den Umständen nach prachtvolle Illumination, die wir aus diesem Anlaß sowol an Bord der »Fram« mit elektrischem Licht, wie auf den Eishügeln ringsum mit verschiedenen brennbaren Stoffen arrangirt hatten, erhellte den dunkeln Nachmittag in großartiger Weise. Von der Back herab donnerten vier Salutschüsse. Wir hatten die Kanonen tüchtig geladen, sodaß sie gewaltig dröhnten. Darauf folgte ein »Lebehoch!«, ein neunfaches Hurrah auf Nansen und Johansen und ein letztes Lebewohl!

Das allerletzte Lebewohl wurde es aber doch nicht. Die Expedition war an diesem Tage noch nicht weit gekommen, als man auch schon die Entdeckung machte, daß die Schlitten viel zu schwer beladen waren. Es wurde also schnell wieder umgekehrt. Nun mußten noch zwei Schlitten angefertigt werden, auf die das Uebergewicht vertheilt werden sollte. Man hatte also wieder alle Hände voll zu thun und war erst am nächsten Tage gegen 11 Uhr so weit fertig, daß die Expedition wieder aufbrechen konnte.

Als die Dunkelheit einbrach, zündeten wir auf den Eishügeln Holzstöße und auf dem Ausguck eine Bogenlampe an. Das elektrische Licht brannte stark und klar, und da es so hoch angebracht war, leuchtete es trotz der dicken Luft weithin und begleitete die Fortziehenden wie ein glänzender Abendstern – als Führer und als letzter Gruß.

Am Nachmittag des folgenden Tages kamen die Kameraden, welche die Fortziehenden begleitet hatten, müde und naß wieder heim. Schon auf dieser verhältnißmäßig kurzen Strecke Weges war es ihnen klar geworden, daß Nansen und Johansen viele Hindernisse und viele und große Beschwerlichkeiten zu bekämpfen haben würden. Sie hatten aber auch die feste Ueberzeugung gewonnen, daß die beiden sicherlich so weit nach Norden vordringen würden, als es menschlicher Ausdauer und Willenskraft überhaupt möglich sein würde.

Wie sah es jetzt aber an Bord der »Fram« nach all diesen Arbeiten aus! Wie in einem großen Hause am Umzugstage. Alle möglichen Gegenstände und Geräthschaften waren bunt durcheinander geworfen, und es gab wieder von neuem Arbeit, da Ordnung geschaffen und jedes Ding wieder an seinen Platz gebracht werden mußte.

Etwas wurde uns schnell klar: daß die Ausrüstung für Nansen's und Johansen's Expedition in unsere Vorräthe an Materialien und Geräthschaften ein großes Loch gerissen hatte. Wären wir in diesem Augenblick gezwungen gewesen, unsere gute »Fram« zu verlassen, so hätte es für uns wahrscheinlich schlimm ausgesehen. Aber glücklicherweise drohte uns in dieser Beziehung jetzt gerade keine Gefahr.

Alles, was wir an Schlitten und Kajaks besessen hatten, war mitgenommen worden; von Schneeschuhen hatte jeder nur noch ein einziges Paar, und das Allerschlimmste war, daß der Holzvorrath beinahe ganz draufgegangen war, sodaß wir wirklich nicht wußten, was wir zu neuen Schneeschuhen und Schlitten nehmen sollten.

Der März kam, und am 2. fanden wir, daß wir nun auch den 84. Grad passirt hatten.

Der Tag darauf war ein Sonntag. Es war im Salon und in den Kabinen wieder aufgeräumt und gemächlich. Wir hatten die Absicht, an diesem Tage ein Fest zu veranstalten, um sowol den 84. Grad, als auch das erste Wiedererscheinen der Sonne zu feiern. Am Vormittag saßen einige von uns im Salon und besprachen gerade die Aussichten für Nansen's und Johansen's Expedition – ein Thema, um das sich in diesen Tagen ja das ganze Interesse drehte –, da kam Petterson hereingestürmt und erzählte, daß er draußen auf dem Eise Hundegebell und eine menschliche Stimme gehört habe, die seiner Meinung nach der Stimme Nansen's ähnle.

Diese Mittheilung trieb uns alle Hals über Kopf auf das Deck. Ich ergriff den Feldstecher und kletterte in die Tonne. Von hier aus sah ich sofort jenseits eines Eishügels einen Mann, der hin- und herging, als wenn er nach einem Uebergange suchte.

Nansen oder Johansen mußte es sein, darüber konnte kein Zweifel herrschen, aber welcher von ihnen? Und die Ursache der Rückkehr? Sollte der eine verunglückt sein, da der andere allein zurückkam? Wir eilten dem Herankommenden inzwischen so schnell wie möglich entgegen, schon allein um, wenn nöthig, dem andern Hülfe leisten zu können.

Der Heimkehrende war Nansen selbst. Er kam mit acht Hunden und einem beladenen Schlitten. Wir erhielten sogleich die freudige Nachricht, daß Johansen nichts zugestoßen war. Seine Wiederkehr war durch die in den verflossenen Tagen gemachte Erfahrung veranlaßt worden, daß die Kälte noch zu streng war, sie zu viel Schlitten hatten und ihr Gepäck noch immer zu schwer war. Weil es aus diesem Grunde mit dem Marsch der übrigen Karawane über das unebene Eis zu langsam ging, hatte sich Nansen mit seinen acht Hunden vorausbegeben, um schneller das Schiff erreichen und Johansen Entsatz bringen zu können. Dieser sollte inzwischen mit den übrigen Hunden still liegen bleiben und ihn erwarten.

Die Zeit war schon zu weit vorgeschritten, als daß an diesem Tage noch etwas zu diesem Zwecke hätte unternommen werden können, weshalb es bis zum nächsten Morgen aufgeschoben wurde. Aber mit dem Gedanken, daß, während wir hier an Bord ein Fest feierten, unser lieber Kamerad allein, ohne andere Gesellschaft als eine Schar freßgieriger Hunde, draußen auf dem Eise bleiben sollte, konnten wir uns denn doch nicht recht befreunden. Deshalb baten Scott-Hansen und ich um Erlaubniß, uns beide zu ihm begeben und ihm den Abend und die Nacht hindurch Gesellschaft leisten zu dürfen, bis die andern den Tag darauf nachkämen. Damit wir es uns draußen gemüthlich machen könnten, nahmen wir Pfeifen, Taback und Spiritus zu einem Schlummergrog mit und machten uns mit denselben Hunden, mit denen Nansen gekommen war, auf den Weg.

Da die Hunde ihren eigenen, noch ganz frischen Spuren folgten, war der Weg sehr leicht zu finden, und früher, als wir es nach Nansen's Beschreibung erwartet hatten, erblickten wir das Zelt, um so früher, als Johansen nicht still liegen geblieben war, sondern gedacht hatte: »Die Reise, die ich heute mache, spare ich mir morgen.« Sobald unsere Schlittenhunde ihre Kameraden erblickten, eilten sie in so wildem Laufe dahin, daß wir in vollem Galop vor Johansen's Zelt eintrafen. Er hatte gerade das Lager aufgeschlagen und das Zelt aufgestellt, als wir ankamen. Auf beiden Seiten gab es ein freudiges Wiedersehen, und er dankte uns gerührt für diesen Beweis kameradschaftlicher Aufmerksamkeit.

Ich will dieses Kapitel mit einer kurzen Schilderung des abendlichen und nächtlichen Aufenthalts draußen auf dem Polareise bei unserm Freunde Johansen abschließen, weil wir dadurch einen ziemlich guten Eindruck von einigen der Widerwärtigkeiten erhalten haben, in die eine solche Schlittenexpedition sich mit Geduld finden muß.

Abends sollte, nachdem wir drinnen im Zelt ausgepackt hatten, Chocolade gekocht werden. Scott-Hansen holte Süßwassereis, und ich sollte den »Primus« anzünden. Das war jedoch leichter gesagt als gethan, denn als ich Petroleum in den Behälter gießen wollte, stellte sich heraus, daß das Erdöl durch und durch gefroren war. Wir mußten nun die Kanne so lange zwischen den Händen wärmen, bis das Petroleum so weit aufthaute, daß es etwas flüssig war. Dies war eine langweilige, kalte Arbeit; nur hin und wieder kam das Oel in dicken Tropfen aus der Kanne, und wir mußten einander ablösen, damit wir nicht die Finger erfroren. Wie Johansen damit allein hätte fertig werden können, ist mir unbegreiflich. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß er hätte schlafen gehen müssen, ohne etwas Warmes in den Leib bekommen zu haben.

Endlich gewannen wir mit vereinten Anstrengungen doch so viel Oel für den »Primus«, daß er brannte. Der Kessel wurde aufgesetzt, Eis und Chocolade in Stücke gehackt und hineingeworfen. Das ganze Zelt hatte sich bald so mit Dampf und Rauch vom Apparat gefüllt, daß wir einander gar nicht mehr sehen konnten und nur noch unsere Stimmen hörten.

Während wir darauf warteten, bis es im Kessel kochte, vertrieben wir uns die Zeit mit munterm Geplauder, als plötzlich einer von uns entdeckte, daß der Fußboden des Zeltes braun wurde. O weh! Der Kessel hatte im Boden ein Loch, und sowie die schöne Mischung von Eis und Chocolade schmolz, lief sie aus. Wir retteten, was sich retten ließ; es blieb nur gerade so viel, daß jeder von uns einen kleinen Schluck bekam. Dazu hartes Brot und steifgefrorene Butter, die wie ein Pistolenschuß zwischen den Zähnen knallte, wenn wir davon abbissen. Aber die gute Laune wurde dadurch nicht gestört, und als wir nachher Grogwasser kochen wollten und keinen Kessel mehr zur Verfügung hatten, wußten wir doch Rath und nahmen einen Blechdeckel dazu. Es erforderte lange Zeit, da wir den Proceß mehrere male wiederholen mußten, und wir erhielten auf diese Weise viele, aber kleine Gläser Grog, die von ebenso vielen Reden begleitet wurden.

Dann sagten wir uns »Gute Nacht!« Scott-Hansen und Johansen krochen in den doppelten Schlafsack und ich in den einfachen. Und so sollten wir denn bei 40° Kälte schlafen. Doch mit dem Schlafe war es, was wenigstens mich betrifft, nur »soso, lala«. Ich war augenscheinlich noch nicht daran gewöhnt; schloß ich die Klappe des Sackes, so glaubte ich ersticken zu müssen, und öffnete ich sie, so schnitt mir die Kälte durch Mark und Bein. Ich fiel höchstens hin und wieder in eine Art Halbschlaf.

Am nächsten Morgen, als wir gegen 9 Uhr aus unsern Säcken krochen, hatten wir dieselbe Mühe wie am Abend vorher, ehe wir etwas Warmes zum Frühstück bekamen. Dann wurde das Lager abgebrochen, das Gepäck geordnet, auf unsere Schlitten vertheilt und die Hunde vorgespannt. Wir wollten gerade aufbrechen, als wir in der Ferne drei Schneeschuhläufer erblickten. Es waren Nansen, Sverdrup und Hendriken.

Bald ging es mit ihnen zusammen in sausender Fahrt nach der »Fram« zurück. An mehrern Stellen mußten wir auf Eisschollen über offene Rinnen fahren. Die Hunde waren so begierig, wieder nach dem Schiffe zu kommen, daß sie, ehe man es sich dessen versah, unbedacht darauf losstürmten und ins Wasser fielen. Doch trotz alledem langten wir endlich wohlbehalten an und waren nachmittags um 3 Uhr wieder an Bord. Man kann mir glauben, wir freuten uns ebenso sehr wie die Hunde, eine ordentliche Portion Essen zu erhalten und dann »alle Viere« von uns strecken zu können. Wir gingen früh zur Ruhe; ich schlief wie ein Sack, und ich glaube, die andern machten es ebenso. Denn es war wirklich eine recht anstrengende Partie gewesen. Erst nach drei Tagen froren die Rinnen so zu, daß wir das Gepäck holen konnten.

Dies war also Nansen's und Johansen's zweiter Versuch, bevor sie zum dritten mal und dann im Ernst auf ihre lange abenteuerliche Fahrt auszogen.


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