Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Sechstes Kapitel

Der erste Sommer im Eise

Das verhältnißmäßig milde Wetter, das uns die Sonne bei ihrer Wiederkehr mitgebracht hatte und das nach unserer Meinung beinahe den Charakter eines Frühlingstages, allerdings waren es -13º, zeigte, war nicht von langer Dauer.

Schon am 4. März bekamen wir nördlichen Wind, ein entsetzliches Schneegestöber und eine Kälte, die das Thermometer bis auf -44º fallen ließ. Die Stimmung an Bord war deshalb auch nicht sehr aufgeräumt, um so weniger, als »Lina«, unser Orakel, uns ebenfalls untreu zu werden schien. Sie sagte uns nämlich, daß wir mit dem Winde trieben, und dieser war Gegenwind.

Wir machten in dieser Zeit theils der Zerstreuung, theils der Bewegung halber weite Touren, aber stets zu Zweien oder Mehrern, nie allein. Man konnte ja, ehe man sich dessen versah, auf einen Eisbären stoßen, und ein unter Umständen noch gefährlicherer Feind waren die Eispressungen. Dort, wo anfänglich ein guter Weg war, gähnte vielleicht, wenn man zurückkehrte, eine offene Rinne.

Es passirte mir dies zweimal. Das eine mal kam ich verhältnißmäßig leicht hinüber, aber das andere mal sah es für mich schlimmer aus. Blessing und ich hatten miteinander einen Ausflug auf Schneeschuhen gemacht, und als wir wieder nach Hause zurückwollten, standen wir plötzlich vor einer breiten Oeffnung im Eise, die gar kein Ende nehmen zu wollen schien. Wir liefen eine weite Strecke daran entlang, aber kein Uebergang war zu finden. Zuletzt mußten wir uns dadurch helfen, daß wir uns aus Eisschollen eine Art Brücke bauten. Und mehr als eine »Art« Brücke war es auch nicht, denn Blessing fiel zweimal zwischen den Eisschollen ins Wasser. Das eine mal zog ich ihn wieder heraus, das andere mal kam er ohne meine Hülfe aufs Trockene.

Der unserer guten Laune arg zusetzende Gegenwind hielt bis zum 20. März an. Als er dann zu unserer Freude aufhörte, zeigte es sich, daß wir glücklicherweise nicht so weit zurückgetrieben waren, als wir gefürchtet hatten. Am Charfreitag, 23., ließ sich nämlich eine ordentliche Ortsbestimmung machen, welche ergab, daß wir uns jetzt auf 80º nördlicher Breite befanden. Daraufhin fiel uns gleich ein Stein vom Herzen, besonders da wir das ganze Osterfest hindurch andauernd südlichen Wind in Verbindung mit herrlichstem Sonnenschein hatten.

Um auch zu uns in den Salon ein wenig Sonnenschein hineinzulassen, mußten wir wieder mit den Hundehütten umziehen, da sie das Eindringen der Sonne durch das Oberlicht unmöglich machten. Sie wurden niedergerissen und wieder auf das Vorderdeck gebracht, und nun konnten wir während der Osterfeiertage bei hellem Tageslicht und Sonnenschein zu Mittag essen.

Gerade zu dieser Zeit gelang es mir, eine für mich und meine Hauptarbeit an Bord wichtige Reform durchzuführen.

Die Aufsicht über die Beleuchtungsanlage war ja, genau genommen, nicht schwer, aber doch so complicirt, daß sie die ganze Zeit eines Mannes in Anspruch nahm, wenn sie ordentlich gehandhabt werden sollte. Es war mir lange nicht möglich, hierfür bei den andern Verständniß zu finden, nicht einmal bei Nansen und Sverdrup, und mehr als einmal wurde ich von meiner Beschäftigung mit der Beleuchtungsanlage gerade dann, wenn sie am dringendsten war, abgerufen, um hier- und dorthin zu andern, weit weniger wichtigen Dingen kommandirt zu werden.

Ich wurde dessen müde und machte Vorstellungen, die jedoch zu nichts führten. »Gut«, dachte ich, » as you like it!« (Wie ihr wollt!), bis eines schönen Tags die Windmühle in Stücke sprang. Da wurde sofort ein anderer Ton angeschlagen, und nach einer Conferenz mit Sverdrup wurde bestimmt, daß ich vor allen Dingen die Beleuchtungsanlage zu versorgen hätte, dies nach eigenem Gutdünken thun sollte und darauf so viel Zeit verwenden könnte, als ich für nöthig erachtete.

Diese Entscheidung war kein kleiner Sieg für mich, und es ließ sich auch nicht verhehlen, daß sie bei dem einen oder andern Verstimmung hervorrief. Wir Menschen sind einmal nicht anders.

Tagtäglich freuten wir uns darüber, daß die Sonne ihre Besuche bei uns, die anfangs einer kurzen französischen Visite glichen, immer mehr verlängerte, bis wir endlich am 15. April die Mitternachtssonne über unserm Kopfe stehen sahen. Die Drift ging ebenfalls recht nett vorwärts; wir hätten sie uns natürlich noch schneller gewünscht, aber in dem alten Kinderliede heißt es ja:

Zufrieden sei mit dem, was dir gegeben,
Und Gott dafür zu danken, sei dein Streben!

und danach versuchten wir uns zu richten.

Nansen maß die Temperatur des Wassers in den verschiedenen Tiefen und untersuchte gleichzeitig die Strömung, die in der Tiefe oft eine ganz andere Richtung als an der Oberfläche hatte. Mit dem Salzgehalte verhielt es sich ebenso. Wir lotheten mehrmals vergebens, bis wir am 1. Mai in einer Tiefe von 4000 Meter Grund fanden. Durch diese Lothungen hat Nansen die von frühern Polarforschern aufgestellte Theorie eines seichten Polarbeckens vollständig umgestoßen und damit der Wissenschaft auf diesem Gebiete einen unschätzbaren Dienst geleistet.

Wir hatten in dieser Zeit den ganzen Tag prachtvolles, sonniges Wetter bei einer Temperatur von -12 bis -20º, und dieser beständige Sonnenschein übte auch sichtlich und fühlbar seine Wirkung auf das Eis um uns herum und auch an Bord aus, wo wir das Deck von Eis und Schnee reinigten und uns wieder ein trockenes gemächliches Heim herrichteten.

Wenn keine eilige Schiffsarbeit vorlag, machten wir jetzt eifrig Schneeschuhtouren und beschäftigten uns mit dem Einfahren der Hunde. Einige von uns hatten noch nie Schneeschuhe an den Füßen gehabt, aber infolge der täglichen Uebung konnten wir bald alle miteinander Ausflüge machen.

Man darf jedoch nicht glauben, daß die Ausflüge auf Schneeschuhen so ganz einfach waren. Viele werden vielleicht auch fragen, wie man überhaupt darauf verfallen konnte, auf ebenem Eise Schneeschuh zu laufen. Jedenfalls sind doch mit diesem »Sport« keine Schwierigkeiten verknüpft, werden sie sagen.

Mit dem Polareise verhält es sich jedoch nicht so wie mit dem Eise der Seen und Fjorde bei uns daheim, das glatt und eben auf dem Wasser liegt. Hier oben haben die Eispressungen es mit ihren Riesenfäusten gewunden, gekrümmt und gebogen, sodaß es sich in steilen Abdachungen und jähen haushohen Abhängen erhebt oder wellenförmige, oft viele Meter tiefe grubenartige Einsenkungen bildet. Manchmal gehörten ein geübtes Auge und ein sicherer Fuß dazu, um diesen Abgründen, die sich oft ganz unerwartet gähnend vor uns öffneten, in der Eile noch zu entgehen. Denn man konnte sich bei dem blendenden Sonnenschein beinahe ebenso schwer vor ihnen in Acht nehmen wie im nächtlichen Dunkel. Und manch gutes Schneeschuhpaar, selbst an den Füßen eines geübten Läufers, brach dabei in Stücke, wenn es das Unglück so wollte.

Unsere Beobachtung vom 4. Mai zeigte, daß wir uns nun auf 80º 45' nördlicher Breite befanden. Das ganze Resultat unserer Drift seit dem 1. October des vorigen Jahres betrug noch nicht 1 ½ Grad, und es bleiben uns noch 9 ¼ Grade bis zum Pole. In Anbetracht der darüber hingegangenen Zeit war das Resultat nicht ermuthigend, und es rückte die Aussichten für die Zukunft sowol bezüglich unsers Anlaufens der Station »Nordpol«, als auch unserer Heimkehr noch weiter ins Blaue hinaus, als sie bisher in unsern Gedanken gewesen waren. Allerdings waren wir so ausgerüstet, daß wir nach der Berechnung fünf Jahre lang aushalten konnten, aber wir fanden es doch für alle Fälle am gerathensten, auf verschiedenen Gebieten größere Sparsamkeit einzuführen.

Eins dieser Gebiete war der Verbrauch der – Zündhölzer, eines Artikels, bei dem daheim gewiß in keinem Hause irgendwie ans Sparen gedacht wird. Doch ebenso werthlos wie ein Tausendmarkschein für unsere Verhältnisse gewesen wäre, ebenso werthvoll war für uns jedes einzelne Zündholz. Ging uns diese Waare aus, so konnte das ein gefährlicher Verlust werden. Allerdings waren wir reichlich damit versehen, aber bei der Aussicht auf einen mehrjährigen Aufenthalt im Eise war es jedenfalls das Klügste, Sparsamkeit walten zu lassen.

Diese führten wir auch gründlich durch. Meine Leser können es mir glauben, an Bord der »Fram« wurden täglich bis zu 50 und mehr Pfeifen Taback mit – einem einzigen Zündholz angesteckt! Uebrigens durchaus nicht mittelst Hexerei, sondern mit Hülfe von Fidibussen, die wir zu Hunderten aus Packpapier machten, in den verschiedenen Räumen deponirten und über der Lampe anzündeten.

Am 13. Mai war der erste Pfingstfeiertag, der erste, den wir in dieser Region erlebten. Wir dachten daran, wie daheim jetzt alles grünt und blüht; an das fröhliche Gezwitscher der Vögel, an den Kukuk, der vom Waldrande her ruft, an die Lerche, die hoch über den Feldern schwebt und trillert, daß es durch die Lüfte schallt, an die Hummeln und die Waldbienen, die summend von Blume zu Blume fliegen. Und wir dachten an all die fröhlichen, sonntäglich gekleideten Scharen, die in muntern Gruppen nach allen Richtungen hinziehen, um sich mit den wohlbekannten Speisekörben unter den Bäumen niederzulassen.

Doch um uns herum dehnte sich das ewige Eis und die Einsamkeit der Unendlichkeit. Und nur ein einziger Vogel, eine Möve von einer andern Art als den uns aus der Heimat bekannten, die an jenem Tage an uns vorüber flog, war unser Frühlingsbote.

Am Tage darauf, dem zweiten Pfingsttage, kam aus Nordosten ein Schneesturm, der mit unverminderter Kraft drei volle Tage anhielt. Es war fast unmöglich, sich auf Deck aufrecht zu halten; die Geschwindigkeit des Windes betrug 12 Meter in der Secunde. Von allen Stürmen, die wir bisher gehabt hatten, war es der heftigste. Was uns dabei am meisten bekümmerte, als er sich gar nicht legen zu wollen schien, war die Furcht, daß er am Ende unser ganzes großes Programm für den vor der Thür stehenden 17. Mai stören könnte, nachdem wir es mit so vieler Mühe zur würdigen Feier unsers Freiheitstages ausgearbeitet hatten.

Am Vorabend sah es noch ziemlich hoffnungslos aus, aber es ging doch besser, als wir erwartet hatten.

Am Morgen des 17. Mai weckte uns Nansen mit Harmoniumspiel. Im Handumdrehen waren wir oben auf Deck und schauten nach dem Wetter aus. Es war allerdings nicht gerade »wie bestellt«, aber doch auch nicht direct schlecht, weshalb beschlossen wurde, die vorher bestimmte Procession in Scene zu setzen.

Wir schmückten uns alle mit wirklich hübschen Brustschleifen in den norwegischen Farben, wozu rother Flanell, weißes Baumwollenband und blaues Papier verwendet wurden. Zur Ehre des Tages war ein prachtvolles, echt norwegisches Banner hergestellt worden. Es zeigte auf rothem Flanellgrund den Wiking Magnus Barfuß (Barfod), wie er den Speer seines Feindes ergreift und über dem Knie zerbricht, und trug darüber die Inschrift: »17. Mai 1894«. An den Seiten stand: »Vorwärts, vorwärts, ihr Norweger. Euere eigene Flagge in euerm eigenen Lande«, und darunter: »Was wir thun, thun wir für Norwegen.«

Mit diesem Banner eröffneten Amundsen und ich den Zug. Blessing hatte sich eine Fahne dadurch hergestellt, daß er ein wollenes Hemd auf eine Stange gehängt und die Aermel auf ein Querholz gezogen hatte. Er hatte die Buchstaben N. A. darauf gezeichnet, die »Normal-Arbeitstag« bedeuten sollten. Scott-Hansen demonstrirte zu Gunsten des »Allgemeinen Stimmrechts«. Sverdrup trug die Standarte der »Fram« mit dem Namen »Fram« in weißen Buchstaben auf rothem Grunde, und Nansen selbst schwang hoch in der Hand die an einem Speere befestigte »reine Flagge«.D.h. ohne das Symbol der Verbindung Norwegens mit Schweden. Hendriksen nahm seine Harpune mit der Schleppleine auf die Schulter, Jacobsen trug eine Flinte, Mogstad kam auf einem mit zwei Hunden bespannten Schlitten, und Johansen repräsentierte das Musikcorps und marschierte mit seiner Ziehharmonika vor der Procession her.

Nach einigen von Nansen gesprochenen Worten und einem neunfachen Hurrah setzte sich der Zug unter den Klängen des Liedes »Ja, wir lieben dieses Land« in Bewegung. Erst ging es um das Schiff herum und dann nach einem großen Eishügel, der den Festungsplatz in Christiania vorstellen sollte. Mit der reinen Flagge in der Hand erklomm Nansen die Spitze des Eishügels und hielt von dort herab eine schöne Rede über die Bedeutung des Tages, worauf die Procession wieder mit einem neunfachen Hurrah antwortete. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung und ging nochmals um das Schiff herum. Dort hielt Nansen von der Kommandobrücke herab noch eine Rede, in der er namentlich bei dem Gedanken an die Heimat und unsere Lieben daheim verweilte. Von neuem erscholl ein neunfaches Hurrah, und ein Salut von sechs Schüssen donnerte von der Back in die Einöde hinaus. Es klang sehr feierlich und machte einen tiefen Eindruck auf uns.

Damit löste sich die Procession auf, und wir begaben uns zum Festessen an Bord. Die Fahnen wurden im Salon aufgepflanzt, der außerdem noch mit Wimpeln geschmückt war, und unter den Klängen des Harmoniums nahmen wir an der reichbesetzten Tafel Platz. Den Rest des Tages verbrachten wir bis spät abends mit Reden, Gesang und gemüthlichem Plaudern über unser Vaterland und unsere Lieben in der Heimat. Einige andere »Nummern« des Programms, so das Preisschießen auf dem Eise, mußten in Anbetracht des ungünstigen Wetters gestrichen werden.

Später wurde das »Magnus-Barfuß-Banner« zu unserm eigenen erhoben, indem es fernerhin keine festliche Gelegenheit gab, bei der es nicht auf dem ersten Platze aufgepflanzt worden wäre. Wir liebten unser Banner so sehr und hielten es so hoch in Ehren, daß es sogar an einer besondern Stelle aufbewahrt wurde, damit wir es gleich mitnehmen könnten, wenn wir einmal gezwungen sein würden, das Schiff Hals über Kopf zu verlassen.

Nachdem der Himmel uns längere Zeit ein verdrießliches Gesicht gezeigt hatte, sahen wir am 1. Juni die Sonne wieder, und gleichzeitig ergab eine astronomische Ortsbestimmung, daß wir uns nun auf 81º 1' nördlicher Breite befanden. Dadurch wurde »Lina's« Ausspruch, daß wir den rechten Weg trieben, bestätigt, woran einige Mißmuthige schon laut zu zweifeln begonnen hatten. Sie thaten »Lina« sehr demüthig Abbitte und erlaubten sich nie wieder, die Richtigkeit ihrer Aussagen in Zweifel zu ziehen. Das Wetter besserte sich immer mehr. Um uns herum begannen Schnee und Eis zu schmelzen, und wir hatten jetzt außerordentlich viel mit dem Fortschaffen dieser beschwerlichen Gäste sowol auf wie unter Deck zu thun. Draußen auf dem Eise bildeten sich so große Seen, daß wir nun nicht mehr nach Wasser zu suchen brauchten.

Dagegen waren die gewohnten Schneeschuhausflüge jetzt mit allerlei Schwierigkeiten verbunden. Der Schnee wurde so feucht, daß die Schneeschuhe kaum noch darauf gleiten konnten, und an vielen Stellen war der Uebergang und das Vorbeikommen mit Lebensgefahr verbunden.

Ja, der Sommer war – für unsere Verhältnisse natürlich – wirklich gekommen. Wir hatten es sogar bis auf +4º gebracht! Die »dumpfe Stubenluft« an Bord der »Fram« behagte uns nicht mehr. Wir fingen an, eine heftige Sehnsucht nach frischer Luft und den Drang nach einem bewegtern Leben zu verspüren. Und da alle Touren auf Schneeschuhen sich schließlich von selbst verboten, so machten wir uns, können meine Leser wol errathen, woran? ans – Ballschlagen auf dem Eise!

Wir verfertigten uns einen mit Renthierhaaren gestopften Lederball, der uns ausgezeichnete Dienste leistete. Kein Schulknabe kann daheim mit mehr Lust und Liebe am Spiele theilnehmen, als wir alten, langbärtigen Männer es thaten. Wir schlugen im Schweiße unsers Angesichts Ball und rannten wie besessen nach dem Ziele, um nicht getroffen zu werden, und amüsirten uns dabei wie Kinder. Nach dem ersten Versuche erregte die Idee des Ballspiels so allgemeines Interesse und fand so begeisterte Anhänger, daß es lange unser vornehmster Sport blieb.

Am 19. Juni hatten wir auf unsrer Drift Nordenskjöld's am 19. September 1868 erreichten Record geschlagen, da wir uns an diesem Tag der angestellten Beobachtung zufolge auf 81° 52' nördlicher Breite befanden.

Seit unserer Abreise aus der Heimat war beinahe ein Jahr vergangen, und wir hielten es deshalb für erforderlich, den noch vorhandenen Proviant zu revidiren, hauptsächlich um dabei alles auszusondern, was der Frost im Laufe des Winters möglicherweise beschädigt haben könnte. Es zeigte sich, daß der Proviant sich durchgehends vorzüglich gehalten hatte und für die berechnete Zeit vollauf ausreichen würde. Hierzu trug aber auch bei, daß wir auf unserer Reise Renthiere und Bären geschossen und von ihrem Fleische gelebt hatten.

Von dem Bärenfleisch besaßen wir noch einen ziemlichen Vorrath; es hatte bisher in steifgefrorenem Zustande unter der Back gelegen, mußte jetzt aber vor der Sonnenwärme geschützt werden. Zu diesem Zweck legten wir uns in einem unweit des Schiffes gelegenen Eishügel einen »Eiskeller« an, in den wir unsere Fleischvorräthe brachten. Doch mußte dort natürlich stets Wache gehalten werden für den Fall, daß die Bären das Fleisch witterten und sich ein Maulvoll davon holen wollten.

Wir begannen nun, uns theils zum Spaße, theils im Ernste im Kajakrudern zu üben. Nansen hatte uns diesen Sport früher als etwas sehr Schwieriges geschildert, aber schon der erste Versuch ergab, daß wir alle mit dieser Kunst über alle Erwartung gut fertig wurden. Nansen war mit dem Resultate außerordentlich zufrieden und meinte, daß wir, die schon im Anfange so geschickt seien, keine Furcht davor zu haben brauchten, daß wir uns im Falle des Untergangs der »Fram« nicht gut in Sicherheit bringen könnten.

Von da an übte sich täglich einer von uns im Kajakrudern. Es ging damit immer gut, und wir eigneten uns nach und nach große Fertigkeit darin an. Die Kajaks hatten wir, wie so vieles andere, uns selbst herstellen müssen.

Der eifrigste Kajakruderer unter uns war Scott-Hansen. Er widmete diesem Sport jeden freien Augenblick. Eines Tages wollte er sich auch darin üben, mit dem Kajak zu kentern und sich dann selbst wieder aufzurichten. Für den Fall, daß er damit allein nicht fertig würde, sollte ich ihm beispringen, indem ich als Retter in der Noth mit einem am Kajak befestigten Seile in der Hand auf dem Eisrande stehen mußte. Das erste, zweite und vierte mal mußte ich ihm denn auch zu Hülfe kommen und ihn ans Land ziehen, das dritte mal aber brachte er das Kunststück ganz allein zuwege und noch dazu sehr gewandt. Das letzte mal wäre es ihm sicher ebenfalls gelungen, wenn er nicht unglücklicherweise das Ruder verloren hätte. Und muthig war es jedenfalls von ihm, daß er ganz freiwillig ein wiederholtes Bad in dem eiskalten Wasser nahm.

Unter den vielen Anzeichen, daß wir uns jetzt im Sommer befanden, entdeckten wir am 7. Juli etwas, was uns in solchem Grade in Erstaunen versetzte, daß wir anfänglich beinahe glaubten, das Opfer einer Sinnestäuschung geworden zu sein.

Draußen auf den Teichen auf dem Eise begann es – zu grünen. Bei näherer Untersuchung zeigte sich in der That, daß wir es wirklich mit Pflanzenleben zu thun hatten. Dr. Blessing, unser Botaniker, erklärte uns, daß es Algen seien, die dem Sande und dem Kiese, die an verschiedenen Stellen auf dem Eise lagen, entsprießen. Ihr Erscheinen sei darauf zurückzuführen, daß das Eis seiner Zeit in der Nähe von Land vorbeigetrieben sei und dort der Sturm Kies und Sand ins Meer und auf das Eis geweht habe; nun machten wieder Sonne und Wasser ihren Einfluß auf die vom Sande mitgeführten lebensfähigen Keime geltend.

Die Sommertage wurden übrigens auch benutzt, um die Hundeschlitten und die Boote in Stand zu setzen. Es wurde geschmiedet, beschlagen und Segel genäht. Als alles dieses fertig war, hieß es, in den großen Seen, die sich mit der Zeit auf dem Eise gebildet hatten, Segelsport treiben. Auch die Tragkraft der Boote wurde für alle Fälle untersucht.

Bei dieser Gelegenheit erlebten wir mit unsern Hunden eine ganz unerwartete Episode.

Als wir nämlich in die Boote stiegen, setzte uns die ganze Hundemeute nach. Einige sprangen sofort in ein Boot, und mit wollten sie alle; kamen sie nicht mehr rechtzeitig an, so liefen sie jämmerlich heulend und winselnd am Eisrande entlang. Die armen Thiere bildeten sich gewiß ein, daß wir sie auf immer verlassen würden. Einer von ihnen fand die Situation schließlich so bedenklich, daß er sich ohne Besinnen ins Wasser stürzte und auf das Boot zuschwamm, um uns zu begleiten. Ja sogar, als wir wieder gelandet waren und unser Fahrzeug schon auf das Eis gezogen hatten, wollte er das Boot nicht verlassen; er fürchtete offenbar, wir könnten ihn hintergehen und uns später ohne ihn aus dem Staube machen. Es war »Bjelki«, ein kleiner, artiger, lebhafter Hund, unser aller Liebling.

Ja, die Hunde! Ich habe schon früher allerlei von ihnen erzählt und kann nicht umhin, immer wieder auf sie zurückzukommen. Auch glaube ich nicht, daß unter den andern an Bord viele waren, die ihr Leben und Wesen mit so großem Interesse studirten, als ich es that. Ich bin stets ein großer Thierfreund gewesen, und hier, wo sie unsere Mithelfer und Kameraden waren, hatte ich sie, wenn möglich, noch lieber als je zuvor.

Wie klug, wie treu, wie uneigennützig und aufopfernd waren sie! Ja, manches mal mußte ich im stillen zugeben: sie sind es viel mehr als wir selbst, so sehr, daß sie uns oft beschämten. So bei einer entsetzlichen Eispressung, die wir in der nächsten Neujahrsnacht hatten und auf die ich später zurückkommen werde. Da vergaßen wir in der Verwirrung, während wir in aller Hast unsere Sachen auf das Eis retteten, ganz der Hunde. Aber einer von ihnen, »Suggen« (die »Sau«), übernahm unaufgefordert die Wache auf dem Platze, wo wir unsere Sachen aufgestapelt hatten, und wehe dem von den andern, der es wagte, sich unsern Habseligkeiten auch nur zu nähern.

Zu andern Zeiten legten sie ihre Klugheit allerdings auf eine weniger aufopfernde Weise an den Tag, z.B. unserm Eiskeller gegenüber. Wir hatten den Zugang zu dieser Speisekammer mit schweren Eisblöcken versperrt. Aber glauben meine Leser, die Canaillen hätten dafür nicht Rath gewußt? Erst gruben sie das Eis unter dem Blocke rund herum auf, und half das nicht, so stemmten sie sich alle mit dem Hintertheile gegen den Block und schoben mit vereinten Kräften so lange, bis der Verschluß aus dem Wege geschafft war.

Ein andermal brachten sie, soweit wir beobachten konnten, nach einer gemeinsamen Berathung, einen ihrer Kameraden um, der den recht hübschen Namen »der Menschenfresser« trug. Diesen Namen hatte ihm seinerzeit Trontheim gegeben und ihn uns dabei als ein boshaftes, menschenfeindliches Thier geschildert, das man erst kennen müßte, bevor man sich ihm näherte. Der Hund sei aber sehr kräftig, und es wäre also gut, ihn mitzunehmen. Er machte denn auch seinem blutdürstigen Namen alle Ehre und fiel beständig über die andern Hunde her. Doch eines Nachts, als alle Hunde draußen auf dem Eise waren, wurde er von ihnen in geschlossenem Trupp angefallen und so übel zugerichtet, daß er trotz der sorgfältigsten Behandlung am Tage darauf seinen Wunden erlag. –

Anfälle übler Laune kamen bei uns allen miteinander sogar in der hellen Sommerszeit vor. Ich hielt sie mir dadurch einigermaßen vom Leibe, daß ich stets in irgendeiner Beschäftigung ein Heilmittel dagegen suchte. Schon bei der Abreise begann ich meine Tagebücher zu führen und beschäftigte mich auch sonst noch mit allerlei Schreibereien. Ich lernte Deutsch, wobei Blessing mein Lehrer war, und jetzt, zu Ende des eben geschilderten Sommers, hatte ich schon über hundert Bände der Schiffsbibliothek durchgelesen. Dazu kamen dann die gewöhnlichen Arbeiten, unsere Zerstreuungen im Freien und unsere Kartenspielabende. Eins ist gewiß: diejenigen, welche sich nicht nach solchen Beschäftigungen umsahen, waren auch die ersten, deren Humor Schaden litt und die sowol für sich selbst, wie für die andern unangenehm wurden. Im Sommer merkte man es ja nicht so sehr, desto mehr aber, als die Herbstnebel und die Winternacht sich wieder über uns zu legen begannen.

Ende August, als die Mitternachtssonne uns für diesmal verlassen hatte, war es auch mit den Zeichen des Sommers bald vorbei. Wir bekamen Schneegestöber und 6-7° Kälte.

Leider brachte uns der Rückblick auf den verflossenen Sommer im Grunde nur Enttäuschungen, indem die am 31. August angestellte Beobachtung uns die wenig erfreuliche Thatsache offenbarte, daß wir, die am 17. Mai auf 81° 12' nördlicher Breite gewesen, uns nun auf 81° 6' befanden. Doch darum darf man den Muth noch nicht verlieren. Den Kopf obenbehalten, mein Junge!


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