Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Sechstes Kapitel.

Der zweite Sommer. Nansen's Plan.

17. Mai. Der Jahrestag der norwegischen Freiheit brach mit demselben schlechten Wetter wie der gestrige Tag an. Doch in unsern Gemüthern war Sonnenschein; dort hatte die festliche Stimmung schon morgens ihren Einzug gehalten, und wir begingen den Tag in würdiger Weise.

Eine seltsamere Prozession ist auf der Welt wol nie gesehen worden als die, welche sich heute hier im hohen Norden auf den endlosen Eisfeldern um das im Eise liegende Schiff bewegte, obwol es ein Wetter war, wie man es bei der Feier der Unabhängigkeitserklärung Norwegens gewiß noch nie erlebt hat. Die »Fram« hatten wir, wie es sich gehört, zur Ehre des Tages festlich geschmückt.

Voran ging Nansen mit seiner kleinen Fahne auf dem Bärenspeere, hinter ihm ließ Sverdrup die Standarte der »Fram« im Winde flattern. Dann kam ein Schlitten, den die beiden besten Hunde zogen, während die übrigen Hunde voll Verwunderung über den seltsamen Anblick umherliefen. Auf dem Schlitten saßen Mogstad und ich, er als Kutscher, ich mit meiner Ziehharmonika als das Musikcorps des Umzugs. Die Musik war auch danach, denn bei dem schneidenden Winde und 12° Kälte wurden mir natürlich gleich die Finger steif. Hinter dem Schlitten gingen Jacobsen mit seiner Büchse und Peder mit seiner langen Harpune und einer Walroßleine auf der Schulter. Ihnen folgten Amundsen und Nordahl mit einer rothen Fahne, in deren Mitte ein norwegischer Wiking steht, der einen Speer zerbricht.

Dann kam Blessing mit seiner Fahne, die aus einem seiner Hemden bestand, worauf mit großen rothen Buchstaben N. A., d. h. Normal-Arbeitstag, stand. Das Hemd war an einer Harpunenstange mit einem Querholz zwischen den Schultern befestigt, und er hatte sich mit Gewehr, Revolver und Messer bewaffnet, um sein Banner vertheidigen zu können. Hinter Blessing schritt Hansen mit der Fahne der Meteorologen; es war ein großes Blechschild, das die Buchstaben A. L. S. T. R. = »Allgemeines Stimmrecht« im rothen Felde zeigte. Die Fahne war prächtig, streikte aber mitten in der Prozession, da die Stange vom Winde abgeknickt wurde. Sie wurde jedoch augenblicklich wieder reparirt und zwar so gut, daß sie, als der Umzug zu Ende war und sie mit den andern Fahnen in dem Eise neben dem Schiffe aufgepflanzt worden war, sich während Nansen's Festrede gar nicht schämte, mit lautem Blechgeklapper auch ein Wort dreinzureden, sodaß wir sie vom Winde brassen mußten, um sie zum Schweigen zu bringen. Zuletzt kam Juell, der den Kessel aus der Küche und eine große Ofengabel schleppte.

Schon früh am Morgen hatten wir uns mit den Nationalfarben geschmückt. Rothen und weißen Stoff hatten wir, aber zu der blauen Farbe mußten wir Papier nehmen. Ja, selbst der Patriarch unter den Hunden, »Suggen«, ging mit einer langen Schleife umher.

Bentsen und Pettersen waren nicht mit dabei. Sie opferten sich für uns auf, damit wir nicht ohne Mittagessen blieben.

Wie schon bemerkt, begann die Prozession um 12 Uhr.

Es war ein seltsamer, erhebender Anblick, als wir auf Schneeschuhen mit unsern Abzeichen um die »Fram« herum glitten, die sicher, breit und ein wenig schief im Eise lag. Ich spielte aus Leibeskräften »Ja, wir lieben dieses Land«, und wir meinten nachher alle, daß die Musik sich gut angehört habe.

Zweimal zogen wir um das Schiff herum und dann nach dem Großen Hügel am Achterende des Schiffes, wo Nansen ein Hoch auf die »Fram« ausbrachte, die uns bisher so treu auf unserer Fahrt geführt, und die Hoffnung aussprach, daß sie es auch in Zukunft thun möge. Ein neunfaches Hurrah erscholl auf dem Eise, dann traten wir den Rückzug an. An der Seite des Schiffes wurde halt gemacht, Nansen stieg auf die Kommandobrücke und hielt eine Rede auf Norwegen. Er wünschte, daß es daheim allen wohlgehen möge; wenn diejenigen, die sich vielleicht um uns sorgten, nur wissen könnten, wie gut es uns hier gehe, würden sie sich unsertwegen keine trüben Gedanken mehr machen. Bisher könnten wir zufrieden sein, und wenn nicht unvorhergesehene Umstände einträten, würden wir durch die Erreichung unsers Zieles zur Hebung der Ehre unsers Vaterlandes in den Augen fremder Nationen beitragen. Wir könnten froh darüber sein, daß wir etwas für unser altes Norwegen zu thun vermöchten.

Ein neunmaliges Hurrah für das Vaterland, mit der vollen Kraft unserer Lungen ausgebracht, folgte der Rede.

Nun ertönten die Salutschüsse: viermal ließen die Kanonen ihre ehernen Stimmen über die schweigenden Eisfelder hin donnern. Einige der Hunde liefen erschreckt davon. Das »Kind« und die »Klapperschlange« kamen erst nach langer Zeit wieder.

Dann versammelten wir uns zu einem opulenten Festmahle in dem mit Flaggen geschmückten Salon. Die Unterhaltung drehte sich, wie es in frohen Stunden oft der Fall ist, um die Heimkehr, und dieses Thema macht uns stets alle gesprächig. Nach Tisch kamen die Cigarren und der Kaffee und abends ein aus Feigen, Rosinen, Mandeln und Honigkuchen bestehendes Festdessert.

18. Mai. Am andern Morgen gab es an Bord keinen Katzenjammer. Bewölkter Himmel, das Schneetreiben dauert fort. Der Wind ist jetzt Ost zu Süd und macht gegen 10 Meter in der Secunde. Das Schiff hat sich so gedreht, daß es jetzt Süd ½ Ost statt wie bisher Süd ½ West liegt. Beobachtungen können heute gar nicht gemacht werden. Die Temperatur beträgt -10º.

Zwei Tage später glückte uns eine Ortsbestimmung, die ergab, daß wir auf 81° 12,4' nördlicher Breite waren. Die Länge ist 125° 45' östlich von Greenwich.

Amundsen stellt einen Apparat zusammen, mit dem die Richtung der Meeresströmungen in verschiedenen Tiefen gemessen werden soll, und Pettersen, dem das Kochen Spaß macht, ist mit Juell darin übereingekommen, daß sie sich in der Küche alle 14 Tage ablösen wollen.

Am 1. Juni nahmen wir eine Lothung vor. Wir ließen 4400 Meter Leine, die wir aus einem Stahlkabel gedreht und zusammengelöthet hatten, ganz auslaufen, konnten aber nur 3200 Meter wieder einholen, da die übrigen 1200 Meter mit einem Grundproberohre auf dem Meeresgrunde liegen blieben.

Anfang Juni hatten wir die schönste Schneeschuhbahn, die man sich denken kann. Sverdrup und ich benutzten sie fleißig und sahen dabei wiederholt im Eise der Rinnen Luftlöcher, die nur von Walrossen oder Seehunden herrühren konnten.

Unsere zum Trocknen aufgehißten Segel blähten sich im Winde, aber die »Fram« lag nichtsdestoweniger still, und wir hatten leider nicht viele Meilen in der Wache zu verzeichnen.

Die Luft wird sommerlich; feuchte Nebel schlagen sich nieder, die Temperatur ist mild, und wir haben schon 4° Wärme. Der Schnee schmilzt, und hier und dort bilden sich Wassertümpel. In allen Richtungen lassen zahlreiche blaue Stellen über dem Horizont auf offenes Wasser schließen. Bei dem milden Wetter und der Tag und Nacht andauernden Helligkeit gehen wir oft auf dem jetzt fein und ordentlich aussehenden Deck spazieren, rauchen dort unsere Pfeifen und plaudern von dem Eise, der Drift und den Aussichten auf weiteres Vordringen.

Bei südlichem Wind hebt sich die Stimmung. Vorläufig ist unser Ziel, es beiden bisher am weitesten nach Norden vorgedrungenen Schiffen, der englischen »Alert«, die bis 82° 27' nördlicher Breite gekommen ist, und der amerikanischen »Polaris«, die 82° 26' erreicht hat, zuvorzuthun.

Auch an Land denken wir viel, besonders Peder, der regelmäßig in den Ausguck klettert und von der Tonne aus nach allen Richtungen späht. Sobald er nur in die Kajütenthür tritt, schallt ihm die ironische Frage entgegen: »Hast du etwas gesehen? Hast du etwas gehört?«, was er jedoch mit unerschütterlicher Ruhe anhört.

Am 16. Juni waren wir auf 81° 51' nördlicher Breite. Die Temperatur betrug als Maximum +4,3° und als Minimum -7°.

Hansen, Nordahl und Peder haben eine Expedition unternommen, die der weiteste der bisher im Treibeise gemachten Ausflüge war. Peder hatte von der Tonne aus einen außergewöhnlich großen, an den Seiten schwarzgestreiften Eishügel gesehen. Sie peilten diesen sofort an und begaben sich eines Sonntagsmorgens auf Schneeschuhen dorthin. Lebensmittel hatten sie zur Genüge mitgenommen, und mehr als die Hälfte der Hunde schloß sich ihnen an.

Das eigentliche Schwarzeis fanden sie allerdings nicht, trafen aber einen andern 8 Meter hohen Eishügel; von diesem brachten sie Lehm mit, auch einen Treibholzstamm fanden sie, von dem sie einige Späne abschnitten. Auf dem Heimwege fanden sie in einer offenen Rinne ein eigenthümliches Ding, von dem sie nicht wußten, ob es ein Thier oder eine Pflanze sei. Die Untersuchung ergab, daß man es mit einer Alge zu thun hatte. Als die Drei wieder nach Hause kamen, waren sie von dem schlechten Wege über das schmutzige Eis der Hügel und Rinnen sehr angegriffen.

Hansen und Peder wurden infolge dieser Tour schneeblind, wenn auch nicht in hohem Grade, und Blessing mußte sie mit Cocaïn behandeln.

Das Wasser breitet sich um das Schiff herum immer mehr aus, und wir üben uns jetzt im Kajakrudern. Hansen ist besonders eifrig dabei; er läßt sein Kajak kentern und versucht, sich allein wieder aufzurichten. Nordahl hält ihn an einer Leine fest, die sich Hansen um den Leib gebunden hat, und zieht ihn, wenn er nahe am Ertrinken ist, auf das Eis, worauf er sich sofort zum Umkleiden an Bord begeben muß. Hansen scheint diese Kenterübungen außerordentlich gern zu haben.

Von den höher liegenden Tümpeln rinnen kleine Flüsse über das Eis; es ist ganz derselbe Ton wie das Rieseln der Gebirgsbäche daheim in Norwegen. An Bord zeigen sich an allen feuchten Stellen Schimmelpilze.

Blessing züchtet Bakterien, die er im Schleime der todten Hunde gefunden hat, in der Luft aber hat er bisjetzt noch keine entdeckt.

Der Vorabend des Johannistages fand uns auf 81° 43' nördlicher Breite. Wir hatten schlechtes Wetter, kalten Nordwind mit Schneeregen und weder Birkenzweige, noch Blumen, nur Eis und wieder Eis.

Während wir beim Mittagessen saßen, hatte ein Bär bei dem Großen Hügel, wo Mogstad und Jacobsen zur Aufbewahrung unsers Bären-, Walroß- und Seehundfleisches einen Eiskeller bauen, einen Besuch abgestattet. Als sie nach Tisch wieder an die Arbeit gingen, fanden sie deutliche Spuren des Bären, dem Nansen den ganzen Nachmittag nachspürte; er fand ihn aber nicht. Es ist übrigens schwer, über die Hügel und Rinnen hinwegzukommen; man hätte an manchen Stellen Wasserschneeschuhe brauchen können.

Den Johannistag feierten wir auf unsere gewöhnliche Art: mit einem guten Mittagessen. Wir können ja nicht viel Abwechselung in unsere Feste bringen. Das Leben hier ist einförmig, ein Tag verläuft wie der andere. Jede Stunde bringt eine bestimmte Arbeit, und unsere Zerstreuungen haben auch ihre bestimmten Stunden. Die Zerstreuungen bestehen in Kartenspiel und Lesen, wennschon das erstere jetzt beinahe keinen Reiz mehr für uns hat. Aber wir haben es doch gut, das ist gewiß, und damit müssen wir zufrieden sein.

30. Juni. Bewölkter, trüber Himmel und ein Regenwetter, das dem Eise übel mitspielt. Die Tümpel auf unserer Scholle werden immer größer, und das Beobachtungszelt und das Thermometerhaus sind nahezu unzugängliche Punkte geworden, zu denen wir nur durch Ueberspringen verschiedener Gewässer gelangen können. Am Tage darauf zerriß die Wolkendecke ein wenig, sodaß wir eine Ortsbestimmung anstellen konnten. Die Breite ist 81° 32'. Es geht also auch diese Woche wieder nach Süden. Wir hatten vom Juni große Erwartungen gehegt, haben aber in diesem Monate keine Fortschritte nach Norden gemacht.

Wir füllten unsere Reservoirs mit Wasser von der Eisscholle. Es war ein wenig salzig, aber wir benutzten es doch längere Zeit. Als wir zum ersten male frisches Süßwasser bekamen, wollte uns allen der Thee gar nicht schmecken, und wir erklärten ihn für ein fades Getränk. Wir vermißten den salzigen Geschmack und fanden das Süßwasser nicht im geringsten wohlschmeckend. Wir hatten also keine Angst vor ein wenig salzhaltigem Wasser wie z. B. die Besatzung der »Jeannette«. Dort wurde jedes einzelne Eisstück, das in die Küche kam, erst genau untersucht, weil sie glaubten, davon den Skorbut zu bekommen.

Die Temperatur in den der Meeresoberfläche zunächstliegenden Schichten ist den angestellten Beobachtungen nach sehr verschieden:

Tiefe in Meter Temperatur in °C.
Oberfläche +0,42
1,0 +0,35
2,0 +0,28
2,5 -0,03
2,6 -0,10
2,7 -0,30
2,8 -1,52
2,9 -1,60
3,0 -1,58

In der letztern Tiefe fanden wir eine dünne Eisschicht, die leicht zerbrach und deren Stücke dann in die Höhe stiegen.

Beim Eismessen am 10. Juli zeigte sich, daß das Eis der alten festen Schollen in einer Woche um ungefähr 20 Centimeter dicker geworden war. Daß das Eis dicker werden konnte, während es auf der Oberfläche beständig abschmolz, erschien uns sehr merkwürdig. Es kam wol daher, daß das beim Schmelzen erzeugte Süßwasser durch die Risse im Eise sickerte und dort bei der Berührung mit dem kalten Wasser allmählich die Temperatur desselben annahm und gefror.

Um das Schiff herum sieht es jetzt nicht gerade schön aus. Die »Fram« liegt so hoch, daß wir auf Leitern hinaus- und hineinklettern müssen. Unten auf dem Eise treffen wir zuerst zahllose zerbrochene Bierflaschen an, die wir alle ausgetrunken haben; das Bier hat schon lange ein Ende genommen. Alles, was wir im Laufe des Jahres fortgeworfen haben, tritt jetzt bei der Schneeschmelze wieder zu Tage. Die Hundehütten, die wir auf dem Eise aufgebaut haben und die aus zwei langen niedrigen Bretterkisten mit abgetheilten Räumen für die bissigsten Thiere bestehen, machen von Tag zu Tag einen schmutzigern, baufälligern Eindruck, und hier und da bahnt sich ein munterer, kleinere und größere Pfützen bildender Bach unter ihnen hindurch seinen Weg.

Am Horizont sieht es jetzt nicht mehr Weiß in Weiß aus; schwärzliches Eis und Wasserflächen bringen Abwechselung in das nichtsdestoweniger trübe Bild. Der jetzt wieder auf dem Eise liegende Schnee sieht ganz wie Streuzucker aus.

Auf der Steuerbordseite haben wir einen hübschen Süßwassertümpel, auf dem wir mit unsern Fangbooten segeln können. Hauptsächlich Hansen, Mogstad und Bentsen huldigen diesem Sport. Sverdrup hat die Boote mit einem Raasegel getakelt, wie es im nördlichen Theile von Norwegen gebräuchlich ist. Bei schwachem Winde ging das Segeln vortrefflich; wehte es aber ein wenig stärker, so konnten wir Zuschauer uns halb krank lachen, da sie dann in dem seichten Gewässer alle Augenblicke auf Grund stießen, Wasser ins Boot bekamen und schließlich die Segel ganz bergen mußten.

Eines Tages begaben wir uns alle Mann nach dem Süßwassersee, um die Tragfähigkeit der Boote zu prüfen. Alle Hunde merkten, daß etwas Besonderes los war, und liefen neugierig mit; selbst »Kvik«, die sich wieder einmal in gesegneten Umständen befand, verließ ihr Haus und einen schönen Knochen, um sich die Sache mit anzusehen. »Barrabas« nahm stracks ihren Platz beim Knochen ein und blieb als einziger zu Hause.

Als wir im Boote saßen, das uns alle Dreizehn sehr gut trug, und anfingen, uns mit Stangen weiterzuschieben, zeigten die Hunde Zeichen der größten Angst. Die armen Thiere glaubten offenbar, daß wir fortfahren und sie in der Eiswüste allein zurücklassen würden. Sie weinten auf ihre Weise und liefen unruhig auf den Schollen hin und her. »Suggen«, unsere Veteranin, machte sich sofort auf die Beine und lief, von einigen andern begleitet, um den Tümpel herum nach der andern Seite. Der kleine »Bjelki« stürzte sich nach kurzem Besinnen ins eiskalte Wasser und schwamm uns nach, wobei er mit seinem schwarzen Pelze einem Wollknäuel glich. Nach beendigter Probefahrt kamen wir jedoch zurück und beruhigten die Thiere wieder.

»Suggen«, die einsah, daß sie sich geirrt hatte, wollte sich dies jedoch nicht merken lassen; sie kehrte nicht wieder um, sondern machte auf der andern Seite des Tümpels einen langen Spaziergang, als wollte sie uns dadurch zu verstehen geben, daß sie uns durchaus nicht nachgelaufen sei.

»Suggen« ist offenbar eine Respektsperson unter den Hunden. Sie läßt sich in keine Raufereien ein, und alle machen ihr Zugeständnisse; sie ist ein Häuptling, hat eine Hütte für sich allein und wird nie angebunden, sondern kann nach ihrem Belieben frei umhergehen. Sie erniedrigt sich nie so weit, daß sie in den Eiskeller einbricht wie die andern Hunde, die nach solchen Diebstählen oft mit beinahe viereckigen Bäuchen umherschleichen.

Wenn es »Suggen« in ihrer Hütte nicht mehr gefällt, belegt sie ohne weiteres die eines andern mit Beschlag, gewöhnlich die »Pan's«, der doch von allen Hunden der am wenigsten nachgiebige ist. Sobald »Suggen« kommt und ihn hinausjagt, muß er auf das Dach seiner Kiste flüchten; geht er nicht freiwillig, so legt sie sich ganz ruhig auf ihn, was er sich merkwürdigerweise stets gefallen läßt. Um Fleisch zu bekommen, kann »Suggen« sogar lange Reden halten; rein und ordentlich ist sie immer.

Einer, der sich nicht rein hält, ist »Kaiphas«, den wir als den schmutzigsten aller Hunde bezeichnen können. Er hat seinen dicken Pelz, der stets so voll Schmutz ist, wie man ihn nur hier bekommen kann, bisjetzt noch nicht verloren. (Es zeigte sich später, daß diese beiden Thiere, »Suggen« und »Kaiphas«, treu zusammenhielten und auf der Schlittenfahrt am meisten Ausdauer bewiesen; sie waren getreu bis in den Tod, bis sie ihr Leben im Dienste der Wissenschaft ließen.)

18. Juli. Bisjetzt hat uns der Sommer nur Enttäuschungen gebracht; wir hatten für diese Zeit auf eine größere Drift nach Norden gerechnet und haben statt dessen Stillstand gehabt. Es ist also das Beste, sich mit Geduld zu wappnen. Manche von uns haben wol, bevor der Sommer kam, die stille Hoffnung gehegt, daß wir loskommen und mit Dampf durch die Rinnen nach Norden würden steuern können. Diesen Gedanken haben sich nun, glaube ich, alle aus dem Kopfe geschlagen. Denn trotz allen Wassers, das sich beim beständigen Schmelzen des Eises auf den Schollen ansammelt, sind noch große feste Massen da, und obwol das Eis um das Schiff herum dem Anscheine nach abnimmt, liegt die »Fram« in derselben schrägen Stellung in ihrem soliden Eislager mit dem in den beiden Brunnen am Heck aufeinander gestapelten Eise.

Unsere Drift nach Norden hängt jetzt einzig und allein vom Winde ab, und darüber kann viel Zeit hingehen, denn er ist ein launischer Geselle. Eine Strömung gibt es hier nicht, das ist gewiß; vergleicht man die täglichen Ortsbestimmungen mit der Richtung und Stärke des Windes, so sieht man, daß unsere Bewegung ausschließlich vom Winde herrührt.

20. Juli. Bewölkter Himmel, keine Beobachtungen, Regen und Nebel. Die Temperatur beträgt + 0,2 und + 1,7°-. Heute Vormittag begann der Wind leicht aus Nordosten zu wehen. Vielleicht werden wir ihn nun eine Weile aus dieser Richtung haben. Wir haben diesen Sommer kein Glück gehabt, obwol wir soviel von ihm erwarteten; wir müssen also unsere Hoffnung auf den Winter, den dunkeln Winter setzen.

Vor einiger Zeit wurde Plötzlich »Ulenka«, einer unserer besten Hunde, so lahm, daß er nicht mehr auf den Füßen stehen konnte; er wurde nie ganz wiederhergestellt und mußte bei den jungen Hunden auf dem Vorderdeck untergebracht werden.

Auf Deck herrschte den Sommer über rege Thätigkeit. Vorn bei der Schmiede streckten Lars, der Schmied, und seine Gehülfen Eisen zu Schlittenbeschlägen. Unter dem über das Vorderdeck gespannten Segel baute Sverdrup mit seinen Gesellen sechs Doppelkajaks, während Jacobsen als Schlittenfertigmacher fest angestellt war. Es galt, sich in jeder Hinsicht auf den Tag vorzubereiten, da wir vielleicht unser gutes Schiff würden verlassen müssen.

Im Arbeitsraume beschäftigte sich Nansen bis tief in die Nacht hinein mit der mikroskopischen Untersuchung von Algen. Messing betrieb in seiner Kabine dieselben Untersuchungen; er war oft auf Algenfang in den Süßwassertümpeln aus, und wenn er etwas ganz Besonderes unter dem Mikroskop hatte, kamen Hansen und ich zu ihm hinunter, um die Merkwürdigkeiten, die wir da sehen konnten, zu bewundern. Aber Blessing konnte nicht nur Blut und Algen untersuchen, er verstand sich auch noch auf ganz andere Dinge: er war sowol Tischler wie Segelmacher, und Sverdrup hatte in seiner Werkstatt stets Verwendung für ihn, wenn er sich meldete.

Ende Juli hatten wir beständig Westwind und trieben nach Süden. An Bord hat sich hin und wieder ein wenig Schneeblindheit gezeigt. Peder, der das Eismeer schon von seinen Knabenjahren an befahren hat und nie davon befallen worden war, wollte nicht glauben, daß es etwas Schlimmes sei, mußte sich schließlich aber doch an Blessing wenden und sich von ihm mit Cocaïn behandeln lassen. Von da an trug er stets eine Schneebrille.

Wir hatten auch Schleier zum Schutze gegen die Schneeblindheit, hübsche rothe, blaue und schwarze Seidenschleier, die jedoch nicht viel zur Anwendung kamen. Ich erinnere mich, daß Sverdrup einmal mit einem blauen Schleier umherging, der über seinem starken rothen Barte schnurrig aussah. Er war der Schneeblindheit gegenüber auch nicht vorsichtig genug und mußte sich ebenfalls an Blessing wenden, den er bat, ihm doch einmal ins Auge zu sehen, da er glaube, es sei ihm etwas hineingeflogen.

Eines Abends, als ich nach einer Tour auf dem Eise an Bord ging, erblickte ich plötzlich in einiger Entfernung das Hintertheil eines flüchtenden Bären. Ich griff sofort nach dem stets an der Kajütentreppe stehenden geladenen Wachtgewehre. Die andern, die dabei standen, glaubten anfänglich, es sei nur ein Scherz von mir, bis Blessing den Bären ebenfalls wahrnahm. Sofort waren alle an Deck; einige kletterten in das Takelwerk, laute Rufen flogen hin und her, und dadurch wurde der Bär natürlich verscheucht. Nansen und Sverdrup setzten ihm nach, konnten ihn aber bei der außerordentlich schlechten Schneeschuhbahn nicht mehr einholen.

Am 31. Juli brachte »Kvik« zehn lebendige Junge zur Welt, sowie eine Mißgeburt, die sofort todtgeschlagen wurde. Von den ersten dreizehn lebten nur noch vier, »Susine«, »Barbara«, »Gulen« (der Gelbe) und »Freia«. (»Susine« lebt heute noch und befindet sich hier zu Hause in Norwegen sehr wohl. Sie ist schon Stammmutter einer ganzen Schar, obwol viele von ihren Jungen bereits todt sind.)

Anfangs August hatten wir so schönes Sommerwetter, wie man es hier überhaupt haben kann. Hansen spricht sogar davon, daß er gern baden möchte. Dies dürfte ihm aber doch schlecht bekommen, denn die Temperatur des Wassers beträgt an der Oberfläche nur + 0,38°. Wir halten uns den ganzen Tag auf Deck auf, rauchen dort abends unsere Pfeife und spielen Karten.

Hansen und Nordahl haben auf einer Excursion zwei Stück Treibholz, vermuthlich Kiefern aus den sibirischen Wäldern, im Eise gefunden, und Peder, der immer auf der Suche nach Seltenheiten ist, hat auf einer Scholle unter ein wenig Sand ein Stück Moos entdeckt. Wieder ein Zeichen, daß hier herum irgendwo Land sein muß.

Die Untersuchung der Temperatur und des Salzgehaltes des Wassers in den verschiedenen Tiefen begann am 2. August. Diese geht so vor sich, daß vier Mann die Leine auf einer Rolle mit zwei Wellen ablassen. Die Leine läuft über ein Meterrad, sodaß man ablesen kann, wieviel Meter ausgelaufen sind. Zwischen 3800 und 3900 Meter stießen wir auf Grund.

Am ›Menschenfresser‹ haben wir eine Tugend entdeckt. Er ist sicherlich früher an das Wachehalten gewöhnt gewesen, denn in den letzten Tagen hat er unausgesetzt einen Brotsack bewacht, den wir auf dem Eise liegen haben, da die Hunde daraus gefüttert werden. Der ›Menschenfresser‹ liegt unverdrossen auf dem Sacke, zeigt jedem sich nähernden Hunde knurrend die Zähne und macht auch keinen Versuch, auf eigene Rechnung von dem Inhalte des Sackes zu stehlen.

10. August. Heute Morgen gerade so wie in den letzten Tagen naßkalter, feuchter Nebel. Gegen Mittag klärte es sich jedoch auf, und Hansen und ich entschlossen uns, eine kleinere Excursion nach Norden zu machen, um die Eispressungen mit dem PhotogrammeterDas Photogrammeter ist eine in Verbindung mit einem Theodoliten gebrachte photographische Camera und dient dazu, die wahren Abmessungen der abgebildeten Gegenstände aus ihren Bildern abzuleiten, was bei der gewöhnlichen Photographie nicht möglich ist. Für Terrain- und architektonische Aufnahmen ist dieses Verfahren besonders vortheilhaft. aufzunehmen.

Nördlich von uns gibt es außerordentlich große Eisanhäufungen; wenn man solch kolossale, 6 bis 9 Meter hohe Eismassen erblickt, die sich drei- bis viermal so lang wie die »Fram« hinziehen und viel breiter als diese sind, und sieht, wie die schwersten Eisblöcke zerschmettert und in die Luft gehoben worden sind, geräth man wirklich in Versuchung, den Glauben an die Festigkeit eines in solche Pressungen hineingerathenden Fahrzeugs zu verlieren.

Unser Ausflug machte uns viel Vergnügen; es war so schön und warm, daß wir unsern Anorak auszogen und wie daheim im Sommer in Hemdärmeln gingen. Wir stellten unsern Apparat auf und machten uns an die Arbeit mit dem Gefühle des Alleinseins in der Stille der Eiswüste.

In der Ferne erblickten wir das Schiff, das einzige Zeichen, daß der Mensch auch bis hierher vorgedrungen. Mit freudiger Bewunderung betrachteten wir es und fühlten lebhaft, wie gut wir es an Bord haben. Wir bekamen einen Vorgeschmack davon, wie es mit dem Vordringen im Eise sein würde, wenn wir das Schiff verlassen müßten. Schnell würde es nicht gehen und mühevoll würde es werden, wenn wir über das Eis nach irgendeinem Lande ziehen sollten.

16. August. Heute Vormittag fällt feiner Regen. Gestern Nacht um 12 Uhr, als ich die Wache hatte, wurde ich gründlich angeführt. Es war dichter Nebel, und alle Gegenstände waren über die Maßen vergrößert. Ich glaubte hinten beim Großen Hügel einen Bären zu sehen, der im Begriffe war, mit solcher Gewalt in unsern Fleischkeller einzubrechen, daß die Eisstücke rechts und links flogen. Ich sah nur die Tatzen und etwas vom Rücken, aber ein Bär mußte es sein.

Ich holte mir also das Wachtgewehr, legte auf der Rehling an und zielte sorgfältig. Die Entfernung betrug etwa 200 Meter, und da ich gern noch ein wenig mehr von dem Thiere sehen wollte, ließ ich mir ziemlich lange Zeit zum Zielen. Endlich sah ich das Thier deutlicher und drückte ab. Alles blieb still. Nansen kam sofort auf Deck und fragte, was es denn gebe. Ich antwortete, daß ich nach dem Großen Hügel geschossen hätte, weil ich geglaubt habe, daß dort etwas sei.

Da sahen wir meinen Bären über das Eis auf uns zutraben, und als er näherkam, stellte sich heraus, daß es einer der Hunde war, den wir auf den sehr zutreffenden Namen »Eisbär« getauft hatten. Glücklicherweise war er unverletzt. Der Nebel hatte ihn zu einem großen Bären gemacht, aber auch dafür gesorgt, daß ich zu hoch zielte, was wirklich ein Glück war, da der »Eisbär« zu unsern allerbesten Hunden gehörte. Man kann sich denken, wie oft ich von den Kameraden diese That noch zu hören bekam.

In den Rinnen haben wir hier wiederholt Seehunde gesehen. Sverdrup schoß einmal einen, doch ging das Thier unter, ehe es aufs Eis gezogen werden konnte.

Wir haben nicht erwartet, daß unsere Drift jetzt rückwärts gehen würde, sondern fest auf den Sommer gebaut; jetzt ist es der Winter, auf den wir unsere Hoffnung setzen. Wir glauben freilich, daß wir unser Ziel erreichen werden, aber wir sehen auch ein, daß wir uns gehörig mit Geduld wappnen müssen.

Ende August fing es wieder an kalt zu werden; die Süßwassertümpel froren zu, die Schneebahn war vorzüglich, und die Schneeschuhe wurden viel benutzt. Eines Nachts, als Blessing mich um 3 Uhr zur Uebernahme der Wache weckte, gewahrten wir beide von der Rehling aus, daß sich ungefähr 500 Meter von uns auf einer Eisscholle etwas regte. Es war ein Bär, der sich behaglich in dem frischgefallenen Schnee wälzte.

Ein starker Nordwest – 9 Meter in der Secunde – wehte gerade vom Schiffe zu ihm hinüber, und die Windmühle war in vollem Gang. Doch daraus machte er sich anscheinend nicht das Geringste, denn wir sahen ganz deutlich, wie er sich, mit dem Oberkörper voran, erhob und ganz ruhig im Zickzack gegen das Schiff vorzurücken begann, wobei er den Kopf nach beiden Seiten drehte, wie er es zu thun pflegt, wenn er auf Raub ausgeht. Die Hunde mit ihrem scharfen Geruche hatten ihn natürlich auch schon gewittert.

Das Wachtgewehr war wieder voll Vaseline; ich holte also leise zwei Flinten aus der Kajüte herauf, und dann gingen wir so geräuschlos wie möglich nach der Back, wo wir uns in Anschlag legten. Der Bär näherte sich immer mehr, er hatte offenbar nicht einmal vor der Windmühle mit ihrem Geklapper Furcht. Wir lagen mit gespanntem Hahn ganz still. Bald kam er an die 100 Meter von uns befindliche Rinne, tappte über das dünne Eis und stand schließlich mit einem Sprunge auf unserer Scholle.

Jetzt war es an der Zeit, ihn unschädlich zu machen, und sowie er sich nach Osten wandte, donnerten zwei Schüsse. Der Bär stürzte rücklings von der Scholle auf das Eis der Rinne hinunter.

Es zeigte sich später, daß beide Schüsse getroffen und die eine Kugel, die gerade über dem Herzen in die große Schlagader gedrungen war, ihn auf der Stelle getödtet hatte. Die auf dem Eise angebundenen Hunde, die einer Gefahr entgangen waren, wurden erst aufmerksam, als sie die Schüsse fallen hörten, und als sie uns dann mit den Flinten aufs Eis springen sahen, erhoben sie ein wüthendes Gebell. Es gelang uns, den Bären von dem dünnen Eise auf unsere Scholle zu ziehen, wobei Blessing allerdings einbrach, und ihn nach dem Schiffe zu schleppen. Hier sperrten wir ihm mit einem Holzpflocke den Rachen auf, damit er Nordahl, der die nächste Wache hatte, etwas überraschte.

Die Hunde bellten den ganzen nächsten Tag wie rasend nach der Richtung hin, aus der der Bär gekommen war. Sie hatten sicherlich den Petz nicht vergessen, der in der letzten Polarnacht an Bord gekommen war, mit seinen Tatzen in ihre Hütten gegriffen und einige von ihnen losgerissen, fortgeschleppt und aufgefressen hatte. So etwas vergißt man nicht, nicht einmal ein Hund.

Am 28. August ergab die Beobachtung 80° 53' nördlicher Breite, wir hatten also wieder den 81. Grad nach rückwärts passirt; aber am 4. September waren wir wieder auf 81° 14' nördlicher Breite und 123° 36' östlicher Länge, trotzdem wir östlichen, ja sogar nordöstlichen Wind gehabt hatten. In den darauf folgenden Tagen trieben wir jedoch wieder nach Süden.

Der »Menschenfresser«, einer unserer bissigsten Hunde, ist jetzt von den andern angefallen und entsetzlich zugerichtet worden. Sie haben ihn mit ihren scharfen Zähnen in die Weichen gebissen (diesen schwachen Punkt wissen sie stets zu treffen), wo sie nur irgend ankommen konnten. Bisjetzt ist er noch am Leben; Blessing hat ihm die Wunden wieder zugenäht und ihn in Behandlung genommen.

Das tägliche Leben an Bord verläuft ungefähr auf folgende Weise.

Der Koch (zwei Wochen lang Juell und zwei Wochen Pettersen) steht morgens um 6 Uhr auf, wenn der letzte Wachthabende zu Bett geht. Um 8 Uhr wird Kaffee oder Chocolade aufgetragen und alle Mann werden geweckt. Doch gewöhnlich wird erst später gefrühstückt; in der Regel sind es die beiden Doctoren, denen nachservirt werden muß, da sie immer zuletzt erscheinen. Der Frühaufsteher Mogstad citirt oft das alte Sprichwort »Morgenstund hat Gold im Mund«, doch Blessing erklärt es für grundfalsch und meint, es müsse heißen: »Morgenschlummer schützt vor Krankheit und vor Kummer.«

Dann geht jeder an seine Arbeit; die Hunde werden gefüttert und losgebunden. Späterhin wurde bestimmt, daß jeder täglich zwei Stunden Schneeschuh laufen sollte, was denn auch trotz Wind und Wetter geschah und uns sehr gut bekam. Nansen hat ein einsitziges Kajak verfertigt. Blessing und Sverdrup haben längere Zeit Bezüge von Segeltuch genäht.

Um 1 Uhr wird Mittag, um 6 Uhr Abendbrot gegessen. Danach spielen wir entweder Karten oder studiren die Schätze unserer Bibliothek. Amundsen erklärt die Karten für »des Teufels Spielzeug« und rührt sie nicht an, und Jacobsen nimmt auch nur selten am Spiele theil, da er immer sehr früh zu Bett geht. Wir andern aber spielen öfter Hazard auf Wechsel, die sich schließlich so anhäufen, daß wir, um der Last des genauen Buchführens darüber zu entgehen, einen Strich durch das ganze Conto machen und ein neues beginnen. Das Wetten und der Brothandel sind ebenfalls sehr im Schwange. Bisweilen kommt es auch zu heftigen Discussionen über Verhältnisse in Tromsö oder auf der Flottenstation Horten.

Den Hunden bauen wir jetzt bequeme, solide Schneehütten, denn es wird immer kälter; die Dunkelheit fängt bald an zuzunehmen, und der Winter naht heran.

22. September. Heute sitzen wir gerade ein Jahr im Eise fest. Jetzt können wir einen Ueberblick über unsere bisherige Drift gewinnen, da Nansen eine Karte derselben ausgearbeitet hat. Trotz der vielen krummen Rückschritte sehen wir doch, daß die Drift eine bestimmte Richtung eingehalten hat: Nord 36° West, circa 220 Kilometer in der Länge von Osten nach Westen und circa 260 Kilometer in der Breite nach Norden.

Es ist zwar langsam, aber doch vorwärts gegangen. Wir hegen die feste Ueberzeugung, daß wir das nächste Jahr besser als bisher nach Norden treiben können und nicht so häufig wieder zurücktreiben werden. Bei der bisherigen Drift würde es sieben Jahre dauern, ehe wir wieder aus dem Eise herauskämen! Wir sind jetzt der Meinung, daß wir weder über den Pol selbst, noch dicht daran vorbei, sondern ungefähr bis 86° nördlicher Breite treiben werden.

Es ist im allgemeinen die Rede davon gewesen, daß dort zwei von uns mit allen Hunden das Schiff verlassen und nach dem Pole ziehen sollten, von wo sie sich nach Spitzbergen zurückbegeben müßten, ohne sich um das Schiff zu bekümmern, das sie dann ja doch nicht wiederfinden könnten. Kapitän Sverdrup fragte mich eines Nachmittags, ob ich mich an einem solchen Unternehmen betheiligen würde, wozu ich mich natürlich bereit erklärte. Wir rechneten zum Spaße die Entfernungen, das Gewicht des Proviants u. s. w. und die Tagemärsche aus, um zu sehen, wie sich die Sache machen ließe. Es ist übrigens nicht das erste mal, daß diese Frage aufgeworfen worden ist.

Nansen hat jetzt einen Theerölheizapparat in der Küche zusammengesetzt, der wirklich vorzüglich functionirt.

Pettersen hatte aber anfangs Unglück damit; der Apparat explodirte, und Pettersen wäre beinahe mit den zum Trocknen aufgehängten Kleidern in die Luft geflogen. Als er uns über das Ereigniß Bericht erstattete, glaubten wir, er würde selbst explodiren, solch ein Strom von Verwünschungen und Flüchen über das »verdammte Schwarzöl« sprudelte aus seinem Munde.

29. September. Blessing's Geburtstag. Wir hatten mittags ein Festmahl, das aus Makrelen, Fleischpudding mit Blumenkohl, Reis mit Moltebeeren und Malzextract bestand. Wenn wir gelegentlich einmal Malzextract bekommen, so nehmen wir ihn nicht eßlöffelweise, wie auf der Gebrauchsanweisung steht, sondern flaschenweise, was uns vorzüglich bekommt.

Am nächsten Tage kamen Sverdrup und ich auf einer herrlichen Schneeschuhpartie wieder auf unser Lieblingsthema zu sprechen, auf den Zug nach dem Pole und von dort zurück nach Spitzbergen. Er wisse noch nicht, ob Nansen ihn vom Schiffe fortlassen werde, sagte er mir; er glaube beinahe, Nansen wolle die Expedition selbst unternehmen.

Es wurden Versuche angestellt, beladene Schlitten auf Schneeschuhen und ohne diese zu ziehen. Die Schlitten trugen eine Last von 120 Kilogramm; aber wir hatten keine ordentlichen Zuggeschirre, und bei der gegenwärtigen Beschaffenheit des Terrains ging es auf canadischen Schneeschuhen entschieden besser. Drei Hunde wurden vor einen Schlitten gespannt, die ihn ohne die geringste Anstrengung zogen.

10. October. Heute ist Nansen's Geburtstag. Auf dem Besanmaste weht die Flagge, und die Kajüte ist festlich decorirt. Es waren -30°. Wir hatten vormittags einen weiten Ausflug auf Schneeschuhen gemacht. Pettersen hatte sich unterdessen aufs äußerste angestrengt, um uns ein auserlesenes Mittagessen zu liefern, wozu Blessing Lysholmer Kornbranntwein spendirte. Gleich nach Tisch wurde Kaffee getrunken, Nansen theilte uns von seinem Cigarrenvorrathe mit, und abends gab es wieder das übliche Festmahl.

In den darauffolgenden Tagen wehten gute Winde aus Süden und Südosten, sodaß wir am 21. October den 82. Grad passirten. An diesem Abend ging es an Bord so lustig her wie seit langem nicht; wir spielten auf dem Harmonium und tanzten wie toll nach der nichts weniger als flotten Tanzmusik. Am selben Tage fanden wir auch die Fährten eines alten und zweier jungen Bären; sie hatten von dem Schiffe keine Witterung gehabt, aber die Schneeschuhspuren schienen sie außerordentlich interessirt zu haben.

Wir haben wieder gelothet und in einer Tiefe von 3500 Meter Grund gefunden.

Am 31. October war wieder ein Festtag an Bord: Sverdrup wurde 40 Jahre alt. »Das kann man übrigens gar nicht so genau wissen«, sagte er, denn er besitzt zwei verschiedene Geburtsscheine.

4. November. Ein wenig Abwechselung in unserm einförmigen Leben. Peder entdeckte westlich vom Schiffe eine Bärin mit zwei Jungen. Da wurde es bei uns lebendig. Sverdrup, Mogstad, Peder und ich eilten fort, obgleich es nicht gerade vortheilhaftes Licht zum Schießen war; fast alle Hunde hatten sich uns angeschlossen. Nach einer Viertelstunde erblickten wir drei Bären, die ruhig, viel ruhiger als bei Tageslicht, nach Südwesten fortbummelten. Die Hunde waren sehr muthig, da sie uns hinter sich wußten. Wir näherten uns den Bären rasch, mußten aber auch ziemlich dicht an sie heran, da wir das Visir nicht gebrauchen konnten, sondern am Laufe entlang zielen mußten.

Die Bären machten halt und drehten sich um, als sie merkten, daß die Hunde zu dreist wurden; sofort schwenkten diese wie auf Kommando alle in einer zu unserm Wege senkrechten Linie seitwärts ab. Die Bärin bot uns nun ein gutes Ziel dar, als sie mit ihren Jungen auf uns und die Hunde zueilte und mit den Tatzen nach ihnen ausholte. Wir knieten nieder und schossen. Peder's Gewehr ging wie gewöhnlich nicht los; Mogstad hatte zwei Versager, doch als Sverdrup und ich schossen, fiel auch sein Schuß.

Die Bärin hatte schon mit der ersten Salve genug bekommen, jedenfalls so viel, daß sie uns nicht mehr entwischen konnte. Das eine der Jungen war durch eine Kugel sofort niedergestreckt worden, das andere wurde von den Hunden umringt, die es zu Boden warfen und tüchtig zerrten und bissen. Einige Hunde wollten, sobald sie merkten, daß die Bärin verwundet worden war, mit ihr ebenso verfahren, aber diese richtete sich wieder auf und schlug nach ihnen. Peder gedachte ihr den Garaus zu machen, seine Flinte streikte jedoch wieder. »Schießt doch, sie will nicht losbrennen!« rief er uns zu, worauf die Bärin eine Kugel durch den Kopf bekam. Die Hunde waren auf das eine Junge ganz versessen, sodaß Mogstad mit Mühe und Noth dazu kommen konnte, es zu erschießen, und hinterdrein bissen sie, besonders »Suggen« und »Ulenka«, wie rasend in die tobten Bärenleiber. Alles ging mit Windeseile vor sich; zwölf Schüsse waren im ganzen gefallen, und nach wenigen Minuten lagen die Bären todt am Boden.

Jetzt kam auch Nansen herbei. Er hatte uns von weitem gesehen, konnte aber nicht unterscheiden, was wir trieben, als wir so nach allen Richtungen hin schossen.

Der Braten war uns um so willkommener, als wir seit geraumer Zeit kein frisches Fleisch mehr gehabt hatten. Nachher hieß es, die Gewehre putzen und von Vaseline befreien, damit sie uns ein andermal, wenn es galt, nicht wieder versagen konnten. Peder war die ganze Zeit über auf weiten Ausflügen mit den Hunden mit einem solchen Gewehre herumgelaufen; wenn er nur eine Flinte hatte, mußte es gut sein. Hätte er wieder einen Kerl getroffen wie den, der ihn in die Seite gebissen hatte, ich glaube, es wäre ihm schlecht ergangen.

An den letzten Abenden haben wir prachtvolle Nordlichter beobachtet. Sie spielten in allen Regenbogenfarben und erglänzten trotz des starken Mondscheins außerordentlich hell. Mit unglaublicher Schnelligkeit breitete sich das Nordlicht lautlos in beständigem Farbenwechsel in Zungen, Wellenlinien, Streifen, Wirbeln, Draperien, Bogen und Bändern über das halbe Himmelsgewölbe aus. Im Norden sahen wir das Nordlicht am seltensten, wir scheinen uns also nördlich von dem eigentlichen Nordlichtgürtel zu befinden.

Blessing hat die Nordlichtbeobachtungen bei Tage übernommen, während nachts der jeweilige Wachthabende die vorkommenden Nordlichter in ein Journal einträgt und sie eventuell auch gleich skizzirt.

17. November. Heute ebenfalls Südwestwind, 5 bis 6 Meter in der Secunde. Temperatur -29º. Bei Tage sind wir in den Freistunden mit Flickereien beschäftigt. Alte Hosen und wollene Unterjacken werden zerschnitten und davon Fußlappen gemacht oder die Löcher in den Strümpfen damit gestopft. Wir werden alle noch ausgelernte Flickschneider; liefern wir auch keine hübsche Arbeit, so hält sie doch gut, und das ist die Hauptsache.

Ein kleiner Hund vom letzten Wurfe hatte heute eine gehörige Fahrt auszustehen; er gerieth in die Windmühlenachse und wurde von ihr herumgewirbelt, bis es Bentsen, der auf Deck war, gelang, die Mühle anzuhalten und ihn zu befreien. Der Hund stieß ein fürchterliches Geheul aus, aber als er in den Salon hinabgebracht wurde, der für ihn eine ganz neue Welt war, faßte er sich wieder. Der Aermste war ein wenig lahm, aber doch unverletzt, was eigentlich nicht zu erwarten gewesen. Der Hund wurde »Axel« getauft und lebt noch heute.

19. November. Heute fragte mich Nansen, ob ich bereit wäre, ihn auf einer Expedition nach dem Nordpole zu begleiten. In Sverdrup's Gegenwart theilte er mir seine darauf bezüglichen Pläne mit. Sie laufen im großen und ganzen darauf hinaus, daß wir Ende Februar oder Anfang März nächsten Jahres das Schiff verlassen. Alle 28 Hunde werden mitgenommen, dazu 4 Schlitten, die von je 7 Hunden gezogen werden. Wir gehen direct nach Norden zum Pole, von da begeben wir uns im besten Falle nach Spitzbergen, schlimmstenfalls aber nach Franz-Joseph-Land. Die bisherigen Berechnungen ergeben, daß wir zu Anfang Juni bei Kap Fligely (82º 5' nördlicher Breite) sein können, wenn es uns gelingt, im Durchschnitt täglich 15 Kilometer zurückzulegen, und dann bliebe uns noch für 18 Tage Proviant, nachdem wir alle Hunde bis auf fünf zur Nahrung für die andern geschlachtet haben. Wir nehmen für die Hunde nur auf 50 Tage Proviant mit. Zwei Einmannkajaks sollen ebenfalls mitgenommen werden. Von Franz-Joseph-Land aus heißt es nach Spitzbergen oder Nowaja Semlja zu kommen, um Fangschiffer zu treffen. Wenn wir eine dieser Küsten erreicht haben, werden wir im Nothfalle von der Jagd leben müssen. Dies ist in großen Zügen der Plan, den mir Nansen im Verlaufe von beinahe drei Stunden ausführlich auseinandersetzte.

Nansen betonte den Ernst dieses Unternehmens. Das Risico sei für uns beide gleich groß. Bekämen wir Skorbut, so seien wir rettungslos verloren. Er habe sich mit der Frage an mich gewandt, weil er mich zu einer solchen Reise für geeignet halte, bitte mich aber, mir die Antwort zu überlegen.

Ich hatte mich in der letzten Zeit in Gedanken viel mit einer solchen Reise beschäftigt, veranlaßt durch Gespräche mit Sverdrup, der mir die Möglichkeit meiner Theilnahme an der Reise in Aussicht gestellt hatte, und auf Grund des an Bord bei den Kameraden darüber umgehenden Gerüchts. Daher antwortete ich, daß ich keiner Bedenkzeit bedürfe, mir die Sache vielmehr schon überlegt habe und zum Mitkommen bereit sei. Natürlich müsse ich es als eine Auszeichnung ansehen, daß die Wahl auf mich gefallen sei.

Ich werde jedenfalls mein Bestes thun, damit wir ein glückliches Resultat erzielen. Sollte es anders gehen, so sterben wir wenigstens keines schimpflichen Todes. Doch wir wollen hoffen, daß uns die Heimat mit ihrer Sonne und ihrem Vogelgesange nächsten Sommer mit offenen Armen empfangen wird und daß wir uns dessen, was uns theuer ist, freuen können; denn dies alles ist ja dort, in der Heimat!


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