Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Viertes Kapitel.

Das Winterlager.

Hier liegen wir also, aber glücklicherweise nicht ganz still und unbeweglich. Wir treiben nämlich und treiben im ganzen recht flott. Ja, es gibt vielleicht sogar Leute, die gelegentlich von uns behaupten werden, wir seien richtige »Herumtreiber« und »Nachtschwärmer«. Aber das hören wir ganz gern, denn unter den jetzigen Verhältnissen kann uns wirklich kein Ausspruch größere Freude machen – das heißt, wenn das »Herumtreiben« den rechten Weg geht: vorwärts und nicht rückwärts!

Was für ein seltsames Leben! Hier liegen wir dreizehn Mann in dieser Eiswüste, so ganz allein, so vollständig auf uns selbst und auf einander angewiesen, wie es sich überhaupt nur denken läßt.

Wo ist die civilisirte Welt? Sie erscheint uns so weit, weit fort, daß sie für uns gewissermaßen gar nicht mehr vorhanden ist. Jedenfalls habe ich so manches mal rein vergessen, daß etwas dergleichen überhaupt existirt.

So müssen wir denn gleichsam eine Welt für uns selber bilden, ein winzig kleines Bruchstück Civilisation, das, wie aus einer gewaltigen Kanone geschossen, irgendwo draußen in der Welteinöde niedergefallen ist, ein im Verhältniß nicht größeres Stück als die Bruchstücke zersprengter Weltkugeln, die als Meteorsteine aus den Himmelsregionen auf unsern sündhaften Erdenkloß fallen.

Hier liegen wir, liegen hier mit der Gewißheit, daß nun sechs Wintermonate durchlebt werden müssen und drei davon ganz ohne Sonne, sogar ohne einen Lichtstreifen am Horizont.

Um uns herum die Nacht und das Eis des erstarrten Polarmeers, Eis und Nacht! Ueber uns ein Himmel, manchmal bedrückend niedrig und grau mit schweren, dahinjagenden Wolkenmassen, dann aber wieder majestätisch hoch und gewölbt, wie eine Kuppel von dunkelblauer Seide, durchwebt mit funkelnden Sternen, dem flammenden, wildspielenden Nordlicht und einem Mondscheine, der klar und wie bläulichweiße Perlmutter erglänzend die ganze ungeheuere Landschaft in einem Lichte badet, wie man es auf der Erde wol schwerlich irgendwo herrlicher sehen kann.

Ach ja, unsere Welt hier oben ist auch schön; ihre Schönheit ist groß und gewaltig und ermahnt zur Andacht.

Ja, ihr könnt es glauben, es ist wunderlich, eine kleine Welt für sich selbst bilden zu müssen, eine Welt, worin das, was den meisten von euch Menschen als alltägliches Bedürfniß erscheint, für uns nur noch eine Sage aus alten Zeiten ist.

Wir lächeln manchmal bei dem Gedanken an all das, was wir verlassen haben, und was man, wie wir sehen, im Grunde sehr gut entbehren kann. Glücklicherweise ist keiner von uns verwöhnt, und auch keiner hat sich melancholischen Grübeleien hingegeben über Dinge, die zu betrauern gar keinen Zweck hat. Unsere Gedanken gehen beständig mit der »Fram« vorwärts; schweifen sie einmal nach Süden zurück, so geschieht es nur, um bei den Lieben in der Heimat zu weilen und darauf doppelt inbrünstig den Gedanken an sie mit der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Expedition zu verbinden. Wir wollen, wenn wir einst wieder den Kurs nach der Heimat richten, dies mit wirklicher Freude, aufrichtigem Stolz und dem Bewußtsein thun, daß wir nach Hause kommen wie Leute, die in jedem Falle ihre Pflicht erfüllt haben. Ich darf wol sagen, daß alle an Bord hierin einig sind. Und dieses Gefühl ist es, das neben den persönlichern und engern Freundschaftsbanden uns alle am meisten verbindet.

Den besten, ja absolut unfehlbaren Beweis dafür, daß ich in dieser Charakteristik von uns, als Ganzes betrachtet, recht habe, liefern wir selbst ganz unfreiwillig, sobald es mit der Drift nicht recht vorwärts geht. Geht diese ihren vorschriftsmäßigen Weg nach Norden und entfernt uns also immer mehr von Norwegen und der Civilisation und zwar mit genügender Geschwindigkeit, dann sind wir in der allerbesten Stimmung! Dann geht jede Arbeit wie von selbst, und wir verkehren so freundlich und liebenswürdig miteinander, daß wir beinahe gar nicht wissen, was wir uns gegenseitig alles zu Liebe thun sollen. Aber ist es umgekehrt, sieht es einen oder zwei Tage mit unsern Fortschritten bös aus oder gehen wir geradezu den Krebsgang, – du meine Güte, wie sind wir dann mürrisch und verdrießlich! Ja, wir machen Gesichter, als hätten wir in einen essigsauern Apfel gebissen, sodaß man sich uns beinahe gar nicht mehr zu nähern wagt! Und dann kommt es auch wol vor, daß gegenseitig ziemlich schwer verdauliche Reden und Complimente fallen, von denen wir, wenn Wind und Wetter sich ändern, vergessen, daß wir sie je gesagt.

Doch woher wußten wir stets so genau, welchen Weg wir gingen? Es wurden wie früher Beobachtungen und Ortsbestimmungen gemacht, wenn nicht jeden Tag, so doch jeden zweiten, wenn der Himmel nicht mit dichten Wolken bedeckt war. Sie wurden jedoch nur bei Gelegenheit ausgerechnet, und das genügte unserer in Bezug auf die Drift kaum zu stillenden Neugierde natürlich durchaus nicht.

Aber wenn man keinen Taback hat, raucht man ein anderes Kraut! Wie die alten Griechen ihr Orakel hatten, das sie bei jeder wichtigen Gelegenheit um Rath fragten, so besaßen auch wir das unsere. Und dieses hatte obendrein den Vortheil, zuverlässiger zu sein als jenes, wenn die Weltgeschichte nicht lügt. Aber dieses Orakel wurde auch nur um die Drift befragt, und als wir seine Antworten im Laufe der Zeit richtig deuten gelernt hatten, konnte man sich darauf beinahe ebenso sicher verlassen wie auf die beste astronomische Beobachtung.

Dieses unser Orakel hieß »Lina«. Man darf aber nicht glauben, daß die »Lina« ein Frauenzimmer ist, das über einer Erdspalte auf einem Dreifuße sitzt und allerlei Räubergeschichten zusammenlügt wie jene alte Griechin. Nein, sie war einfach eine gutnorwegische Hanfleine mit einem Netze dran. Diese Leine wurde in einem Loch im Eise oder in einer Rinne bis auf 2–300 Meter Tiefe auslaufen gelassen, und die Stellung, die sie im Wasser einnahm, war die Antwort des Orakels. An ihrer Stellung konnten wir sehen, ob und wohin wir trieben, und allmählich lernten wir auch daraus die Geschwindigkeit der Drift ungefähr berechnen.

Ja, selbst wenn es still war, unterrichtete uns die Leine oft, aus welcher Richtung der Wind bald wehen würde, da dieser auf dem Eise seine Wirkung ja schon in der Ferne geltend machte, ehe er bei uns ankam. Bisweilen war die Richtung der Leine der des Windes gerade entgegengesetzt. Daraus sahen wir, daß er weiter draußen in anderer Richtung wehte. Zuletzt wurden wir, wie gesagt, so vertraut mit dem, was die Leine – oder »Lina«, wie sie getauft worden und stets genannt wurde – verkündete, daß wir, wenn wir sie uns zwischen zwei ausgerechneten Beobachtungen ansahen, schließen konnten, wieviel Kilometer wir in der Zwischenzeit hier- oder dorthin trieben. Und dies geschah, wie schon gesagt, so genau, daß unsere Berechnung oft beinahe auf den Punkt mit dem Resultate der astronomischen Beobachtungen übereinstimmte.

Wie soviele andere größere und kleinere Entdeckungen war auch »Lina« gewissermaßen einem Zufalle zu verdanken. Es war an einem Tage im Herbste 1893, nicht lange, nachdem wir festgefroren waren, als ich einen Sack mit Fleisch, das zum Auswässern in eine Rinne in der Nähe des Schiffes gehängt war, heraufziehen sollte.

Was zum Kukuk war das? Nicht allein wimmelte der ganze Sack von kleinen braunrothen Thieren, auch das ganze Fleischstück war damit wie besäet. Die gierigen Schlingel hatten sich sogar richtige Kanäle und Gänge in das Fleisch hineingegraben und es sich drinnen ganz gemüthlich gemacht.

»Pfui«, dachte ich, »das ist doch geradezu widerlich!« Ich sagte dies auch zu Nansen, der in einiger Entfernung von mir auf dem Eise mit irgendetwas beschäftigt war. Ich meinte, das Fleisch sei ungenießbar geworden und müsse dieser Einwanderung wegen fortgeworfen werden, aber Nansen war anderer Meinung.

Er trat zu mir hin, betrachtete das Gesindel, nahm sich eine Fingerspitze voll, steckte sie in den Mund und sagte:

»Dies ist etwas Gutes, Nordahl! Nehmen Sie das Fleisch nur und kochen Sie es, wie es ist, denn es ist wirklich gute, kräftige Nahrung! Das ist hübsch! Da sehen wir nun, daß wir hier oben nicht so leicht verhungern werden. Geben Sie mir eine Tasse von dem, was im Sacke liegt, damit ich etwas zu essen und auch zu untersuchen habe.«

Später erklärte er, daß an den Thieren allerdings weiter kein Geschmack gewesen und der Nährwerth auch nicht sehr groß sei. Doch unter den verschiedenen Aufgaben der Fram-Expedition war die Untersuchung des Meeresgrundes und der Thierwelt des Wassers keine der geringsten. Deshalb war dieser Fang vom wissenschaftlichen Standpunkte aus sehr interessant, und von diesem Tage an wurde die obenerwähnte Leine mit dem Netze ausgehängt, um darin diese oder andere Krebsthiere und Infusorien zu fangen.

Die Leine wurde 100 bis 200 Meter abgelassen, und dabei entdeckten wir denn bald, daß sie auch als eine Art Log Dienste leistete. Nach und nach, in dem Maße als wir ihre Runen deuten lernten, wurde sie unsere eigene liebe, ich hätte beinahe gesagt, angebetete »Lina«, zu der wir früh und spät wallfahrteten, um zu hören, was sie uns zu erzählen hatte.

»Hast du Lina heute gesehen?« oder »Was sagt Lina heute?« – »Nein, sagt Lina das?« Solche Fragen kreuzten einander unaufhörlich den ganzen Tag, und Hendriksen, dem das verantwortungsvolle Amt als »Lina's Kindermädchen« übertragen war, hatte manch liebes mal guten Grund, die Geduld zu verlieren, da er beinahe von der ganzen Besatzung in einem fort gefragt wurde.

Ueberdies war die Leine an und für sich ein vielseitiges Werkzeug, das heißt, sie wurde zu vielen verschiedenen Dingen benutzt. Sollte die Meerestiefe gemessen oder die Beschaffenheit des Meeresgrundes untersucht werden, so wurde sie oft in einer Länge von 1000 bis 1500 Meter ausgelassen und der Schwere wegen am untern Ende mit einem gewaltigen Eisengewichte, sowie mit einem eisernen Rohre versehen, in welchem Grus und Schlamm zu späterer wissenschaftlicher Untersuchung vom Boden des Meeres heraufgeholt wurden; das Rohr war daher mit einem selbstschließenden Mechanismus versehen.

Dieselbe Leine wurde ferner zur Messung der Temperatur und des Salzgehalts des Wassers benutzt. Dies geschah mit Hülfe von Thermometern und Wassersammlern, die in gewissen Abständen an der Leine befestigt waren. Sowol die Thermometer wie die Wassersammler waren so eingerichtet, daß sie in Bügeln hingen, die bei einem kräftigen Ruck an der Leine umschlugen. Die Wassersammler schlossen sich dabei automatisch, und in den Thermometern wurde infolge dessen die Quecksilbersäule abgerissen, wenn das Instrument hinreichend lange im Wasser gewesen war. Dann wurde die Leine wieder eingeholt und die Temperatur der verschiedenen Tiefen mit absoluter Sicherheit von jedem der Thermometer abgelesen.

Alle diese mehr wissenschaftlichen Operationen hatten natürlich auch für uns »Gemeine« Interesse. Aber am liebsten war es uns doch, wenn die Leine ihre Dienste in den obenerwähnten Anwendungen gethan und dann wieder mit dem Netze ausgehängt und zur einfachen »Lina« wurde! Das blieb uns das Liebste in der ganzen Zeit, alle die langen drei Jahre hindurch, die wir dort oben im Polarmeere lagen, während Winter und Frühling, Sommer und Herbst einander ablösten. Und noch bis auf diesen Tag, nachdem wir wohlbehalten in »die Welt« zurückgekommen sind, spukt »Lina« in unserer Erinnerung, und noch heute haben wir sie lieb und ist sie uns theuer wie die Erinnerung an einen treuen Freund, an einen, zu dem man in Augenblicken des Kummers mit der festen Ueberzeuguug gegangen ist, daß, wenn überhaupt irgendwo Ermuthigung und Trost zu finden, es dort der Fall sein müßte.

Was in aller Welt konntet ihr denn eigentlich zu thun haben, oder gerade heraus gesagt, womit schlugt ihr die Zeit todt, während ihr unthätig im Eise liegen mußtet und ganz allein auf das angewiesen wart, was Wind und Wetter für euch zu thun für gut hielten? So werden vielleicht viele fragen.

Und die Anschauung kann ja auch wirklich als natürlich erscheinen, daß es an Bord eines stillliegenden Schiffes, wie das unsere, wenig oder gar nichts zu thun gebe.

Glücklicherweise war dem jedoch nicht so. Etwas war stets zu thun, bald dies, bald das. Und selbst wenn, sowol das eine, wie das andere wirklich für den Augenblick nicht so dringende Eile hatte, wurden wir doch dabei angestellt oder wir machten uns unaufgefordert ans Werk, von dem Thätigkeitsdrange getrieben, der gesunde, kräftige Menschen stets beseelt.

Aus der Thätigkeit des täglichen Lebens an Bord mag hier einiges angeführt werden.

Eines Tages sollte z. B. die Drehbank aus dem Maschinenraum in den Vorraum hinuntergebracht und dort aufgestellt werden. Das gab gleich einigen von uns zu thun. Oder Nansen und Sverdrup brachten am Tiefseelothapparat die Grundzange in Ordnung. Ein andermal hatten Nansen und Bentsen die Grundzange aufgezogen und mußten den Schlamm in einer Wasserkufe auswaschen, um alles, was der Brei an lebenden Wesen enthielt, sammeln zu können.

Ich selbst hatte meistens genug Arbeit durch das elektrische Licht, das Ingangbringen der Windmühle, das Laden der Accumulatoren, das Füllen der Zellen mit Wasser und das Ordnen, Reinigen und Aufräumen des Raumes, in dem die Dynamomaschine war.

In früher Morgenstunde könnt ihr Sverdrup nähen und sticken und wie den fleißigsten Schneidergesellen mit Nadel und Faden hantieren sehen. Ihr seht ihn auch an einem Paar solider Holzschuhe arbeiten, einer Fußbekleidung, die wir uns hinterher alle anschafften und mit der wir außerordentlich zufrieden waren. Hiervon später mehr.

Dr. Blessing thut, als wären wir Patienten, nimmt Blutproben und befühlt uns den Puls. Ich selbst muß neben meiner Hauptarbeit Amundsen im Maschinenraum helfen, die Maschinentheile recht sorgfältig auseinanderzunehmen und sie darauf alle wieder ordentlich zusammenzusetzen. Auf Deck wird ein Theil des Tauwerks abgeschnitten, und das Loshacken und Aufthauen des Eises in den Ventilen und Rohren macht beständig Arbeit.

Trotz der Kälte von einigen 20 Grad, zu der wir (abwärts!) avancirt sind, ist der Ofen des Salons bisher noch nicht geheizt worden. Die Luft ist dort, ebenso wie in den Kabinen, nichts weniger als warm und behaglich. Sie ist eisig, feuchtkalt und rauh, und an den Wänden rinnt, von der Decke herab tropft Eiswasser.

Alle diese überschüssige Feuchtigkeit abzuleiten, müht sich unser Freund Jacobsen beständig ab. Er ist jedoch ein erfinderischer Kopf in diesem Punkte wie in so manchen andern. Er stellt einen Apparat aus langen drellirten Baumwollfäden und Holzleisten zusammen, mit deren Hülfe das Wasser fortgeleitet wird.

Wie man sieht, herrscht an Bord dieses verschwindend kleinen Punktes in der großen Oede des Polarmeers Leben und Thätigkeit genug. Und die Stunden, die nicht der Pflichtarbeit geopfert werden, verwenden wir zu etwas anderm. Blessing und Mogstad z. B. sind im Revolverschießen gewaltige Rivalen um den Titel »Champion of the Northpole«.

Eines Tages sollte entschieden werden, wer ein Recht auf diesen Titel hatte und wer nicht. Ich hatte die Ehre, zum Präsidenten des Schiedsgerichts ernannt zu werden. Der Wettkampf fand auf dem Eise statt. Blessing blieb Sieger, und Mogstad war genöthigt, sich für überwunden zu erklären, worüber er sich nachher beständig Sticheleien gefallen lassen mußte.

Natürlich wurden auch specielle Vergnügungen arrangirt. So sollten wir am Sonntag den 5. November einen großen Wettlauf abhalten. Eine 500 Meter lange Bahn wurde auf dem Eise abgesteckt und Fahnenstangen an den beiden Enden aufgerichtet. Juell, der gerade die Küchenwoche hatte, backte dreizehn Kuchen von verschiedener Größe, die als Preise vertheilt werden sollten. Das Wetter war freilich die ganze Woche ziemlich kalt, aber sonst ganz beständig gewesen, und wir freuten uns daher alle auf das Fest am Sonntag.

Aber Prosit! Der Sonntag brachte uns eine Eispressung, die uns das ganze Vergnügen verdarb. Wir fanden am Morgen die ganze abgesteckte Bahn als ein Chaos von Eistrümmern vor, und so gewaltsam war die Bewegung im Eise, daß wir nicht einmal die aufgerichteten Fahnenstangen rechtzeitig an Bord bringen konnten. Dort, wo wir mit so vieler Mühe und so großen Erwartungen die nördlichste aller Wettlaufbahnen eingerichtet hatten, gähnten nun Spalten und Risse, die sich unaufhörlich öffneten und schlossen.

Der Wettlauf mußte also aus zwingenden Gründen aufgeschoben werden. Nun waren aber doch die Preise da! Sie waren weder von Gold, noch von Silber, sondern aus einem Material, das zwar nicht Motten und Rost, aber doch Schimmel und Feuchtigkeit »verzehren« konnten. Wir zogen es daher vor, sie lieber selbst vorher zu verzehren, weshalb wir sie noch am selben Abend beim gemüthlichen Abendessen verlosten.

Das Verlosungssystem kam übrigens auch sonst stets zur Anwendung, sobald es sich um Delikatessen wie Pudding und dergleichen handelte. Einer machte davon so viele Stücke, wie wir Mann waren, und ein anderer mußte mit abgewandtem Gesichte »blind« entscheiden, wer dieses Stück haben sollte und wer jenes.

Unsere Mahlzeiten nahmen wir genau zur bestimmten Stunde ein, und auch dann wurde darin keine Aenderung vorgenommen, als beständig Nacht herrschte. Der eigentliche Tag sollte für uns ebenfalls Tag sein und die Nacht auch Nacht.

Um 8 Uhr morgens aßen wir unser Frühstück. Es bestand aus Chocolade, Butterbrot, mehrern Sorten Käse und allerlei kaltem Aufschnitt. Das Mittagessen gab es um 1 Uhr; wir hatten dazu stets eine reichliche Auswahl von Gerichten, zum Beispiel Bouillon, Fisch-Pudding, Renthierbraten, Birnengrütze, die alle zusammen zu einer einzigen Mahlzeit gehörten. Um 7 Uhr wurde Abendbrot gegessen. Die Bewirthung war dabei ungefähr dieselbe wie beim Frühstück, nur wurde abends statt der Chocolade Thee getrunken.

Dann blieben uns die Stunden nach dem Abendessen und vor dem Schlafengehen. Wie brachtet ihr sie hin? Wurden sie euch nicht bisweilen recht lang? O, nicht doch, wenigstens nicht in diesem ersten Jahre. Nachher trat ja mit der Zeit in vielem eine Veränderung ein und zum Theil auch wol hierin.

Mehrern von uns war das Kartenspiel natürlich ein angenehmer Zeitvertreib für die Abendstunden. Wir bildeten zwei Partien, an jedem Tischende eine. Hier wurde Whist und Boston, dort Manage gespielt. Das letztere Spiel erfreute sich keines besondern Ansehens, weshalb die Theilnehmer daran zum Spielen nur alte Karten bekamen. Als freilich im Laufe der Zeit in alle Kartenspiele, eines nach dem andern, »Löcher gegriffen« worden und sie theilweise ganz zerrissen waren, verwischte sich auch der Unterschied zwischen »alten« und »neuen« Karten beinahe ganz, und von denen, welche wir wieder mit nach Hause brachten, hätte eine, wenn auch nicht kräftige, so doch jedenfalls fette Suppe gekocht werden können.

Die Spieler am Whist- und Boston-Ende waren ursprünglich Scott-Hansen, Messing, Johansen und ich. Nansen, Bentsen und Mogstad, bisweilen auch Sverdrup und Juell, traten hin und wieder als Gäste ein. Später, nachdem Nansen und Johansen uns verlassen hatten, trat Bentsen an Stelle des letztern fest ein, und Mogstad nahm Nansen's Platz als Gast ein.

Die Mariage-Partien bestanden von Anfang an aus Juell und Bentsen, sowie aus Petterson und Hendriksen oder Heika, wie er an Bord stets genannt wurde.

Sverdrup betheiligte sich ziemlich oft an dieser Mariage, Jacobsen ab und zu wol auch, Amundsen hingegen niemals. Dieser verbrachte den ganzen Abend entweder schreibend oder »denkend«. Jacobsen legte sich gern in seine Koje und las, während er seine Pfeife rauchte.

Die Whist- und Boston-Partien wurden zu einer vollständig clubartigen Institution. Es wurde über den Verlauf der Spiele genau Protokoll geführt und sowol ein Präsident wie ein Schriftführer gewählt, welche Ehrenämter der Reihe nach von allen Haupttheilnehmern bekleidet wurden. Das Protokoll enthält nicht nur trockene Berichte, sondern auch Aussprüche über die Spiele und – die Spieler, und zwar nicht allein in Prosa, sondern auch in Versen. Aus einem der Protokollzusätze geht leider hervor, daß wir uns mit der Zeit gelegentlich auch wol einmal dem Hazardspiele hingegeben haben. Denn es steht dort Folgendes:

Wir sprechen es hier als Vermuthung aus, daß die wiederholten »Bétes«, die heute Abend umgingen und an denen die beiden Mitglieder Bl(essing) und Joh(ansen) bedeutenden Antheil haben, sich möglicherweise durch leichtsinniges Spiel erklären lassen, das seinerseits wahrscheinlich wieder dem Ansteckungsstoffe zugeschrieben werden kann, der von dem in unserm kleinen Gemeinwesen in der letzten Zeit eingeführten verderblichen Hazardspiel, an dem die angeführten Mitglieder, wie wir wissen, theilgenommen haben, herrührt. Daß das Spiel des Mitglieds C. H(ansen) im allgemeinen leichtsinnig ist, ist in diesem Kreise eine so wohlbekannte Sache, daß er als immun für derartigen obenerwähnten Ansteckungsstoff angesehen werden muß, und man braucht also nicht zu befürchten, daß seine Besuche in diesen obenerwähnten Spielhöllen noch größere Waghalsigkeit in den Gang des Spieles bringen könnten.

Dies nur, damit die Verhandlungen der Sitzung auch heute Abend in optima, forma, unterzeichnet werden können.

S. Scott-Hansen, Präsident.

Das Protokoll ausgefertigt

Hjalmar Johansen, Schriftführer.

In diesen Spielprotokollen wimmelt es auch sonst von lustigen Einfällen, die Zeugniß dafür ablegen, daß wir uns sehr gut amüsirten. Ich bekomme natürlich auch meinen Antheil, z. B. in folgenden, nicht gerade übertrieben schmeichelhaften Knittelversen:

Dicht oben unter Backborddeck
Im Sack mit einem großen Fleck
Da steckt ein Körper wohlgemuth,
Der hat es ausgezeichnet gut.

Fett und dick, und kugelrund.
Schwitzt er quick. Und schläft gesund.
Der kleine Dicke heißt B. N.
Geh' zum Sack, dort kannst ihn seh'n.

Dies mag als Probe des Geistes, in dem dieses Protokoll geführt wurde, genügen – allerdings ist es eins der am wenigsten steifen Protokolle, die wir vorlegen können. Es fehlte nicht viel, daß diese Protokolle unserm großen Zeitungsunternehmen, der »Framsjaa«, auf das ich später zurückkommen werde, gewissermaßen Concurrenz machten.

Am 7. November hatten wir einen Schneesturm aus Westnordwest, der später nach Nordwest herumging. Es war der gewaltigste Sturm, den wir bisher erlebt hatten. Dabei betrug die Temperatur – 26° C., es war also oben auf Deck nichts weniger als angenehm.

So meinten wir, aber unsere Hunde schienen anderer Ansicht zu sein. Sie tummelten sich mitten im ärgsten Sturme auf dem Eise herum und schienen sich dabei außerordentlich wohl zu fühlen. Sie dachten gar nicht daran, wieder an Bord zu kriechen und dort Schutz vor dem Unwetter zu suchen. Sie rauften sich und zerrten einander aus Leibeskräften.

In der Nacht brachten die Bestien wieder einen ihrer Kameraden, »Ulabrand«, um. Dieser Hund hatte seinen stolzen Namen daher bekommen, weil er zweimal hintereinander ins Meer gesprungen und sich gar nichts aus dem Bade gemacht hatte, obgleich an jenem Tage eine nette kleine Kälte von ungefähr 26° war. Er war groß, rothgefleckt und langhaarig; sein Verlust that uns sehr leid.

Mit einzelnen »Pausen zum Verpusten« dauerte der Sturm volle zwei Tage. Aber nichts ist so schlecht, daß es nicht etwas Gutes mit sich brächte. Die Mühle, von der ich bei Windstille gar keinen Nutzen hatte und die bei schwacher Brise recht schwer in Gang zu bringen war, arbeitete nun wie ein Riese. Ich konnte die Batterie vollständig laden, sodaß wir jetzt das prachtvollste elektrische Licht an Bord hatten. Wie uns dies belebte, davon werden sich andere wol kaum einen Begriff machen können.

Nun muß ich im Namen sämmtlicher Framleute noch ein Bekenntniß ablegen, bei dem vielleicht manche meiner Leser die Nase rümpfen und ausrufen werden: »Pfui, wie konntet ihr solche Ferkel sein!«

Mit der zunehmenden Winterkälte führten wir nämlich die Sitte ein, uns nur aller acht Tage zu waschen! Jedenfalls thaten wir es stets so selten wie möglich, da wir gar bald dahinterkamen, daß nichts Gesichtshaut und Hände so gut gegen Frost schützte wie die Fettschicht, mit der die Haut allmählich ganz überzogen wurde und die Seife und Wasser entfernt haben würden.

Die Hundehütten, die bis jetzt auf dem Vorderdeck gestanden hatten, wurden nun nach dem Achterdeck gebracht und dort um das Oberlicht herum aufgestellt. Die bissigsten Thiere erhielten je einen Stall für sich, während die übrigen gruppenweise auf zwei größere Räume vertheilt wurden.

»Kvik« hielt sich noch immer in gemessener Entfernung von dem »Pack« und bekam eine besondere Wohnung für sich im Kartenhaus. Dies geschah hauptsächlich, weil Ihre Majestät bald Allerhöchstihre Niederkunft erwartete.

Der November verlief ruhig und ohne besondere Ereignisse, und der December kam. Am 5. befanden wir uns auf 78° 50' nördlicher Breite, ein uns sehr befriedigendes Resultat, da es von einer recht schnellen beständigen Drift in der rechten Richtung zeugte.

Wir bohrten theils für die Tiefenmessungen, theils für mögliche Feuersgefahr ein tiefes, großes Loch in das Eis, durch das wir jederzeit schnell zum Wasser gelangen konnten. Dieser Brunnen machte natürlich viel Arbeit und Mühe, da er uns, ehe wir uns dessen versahen, zufror und wir ihn täglich mehrmals aufhacken mußten. Die Eispressungen zerstörten ihn ebenfalls oft, sodaß wir wiederholt einen ganz neuen Brunnen bohren mußten.

Am 12. December abends gegen 10 Uhr, als wir beim Kartenspiel saßen, hörten wir die Hunde auf einmal einen entsetzlichen Lärm machen. Da wir fürchteten, es möchte ein Bär gekommen sein, eilten wir alle auf Deck, um nachzusehen, konnten aber in der pechschwarzen Finsterniß nichts entdecken. Wir gingen wieder hinunter und legten uns schlafen, aber die Hunde fuhren noch immer mit ihrem Höllenspektakel fort. Ich hatte an jenem Abend die erste Wache und war deshalb zu wiederholten malen auf Deck, konnte aber noch immer nichts Außergewöhnliches entdecken, außer, daß einer der Hunde sich von seiner Koppel losgerissen hatte. Ich legte sie ihm wieder an.

Gegen Mitternacht wurde das Wuthgeheul der Hunde noch ärger. Um diese Zeit löste Hendriksen mich ab, und wir versuchten nun beide gemeinschaftlich, uns Gewißheit darüber zu verschaffen, was die Thiere so rebellisch machte. Aber immer noch ohne Resultat. Erst am Morgen, als die Hunde wieder auf das Eis hinuntergelassen werden sollten, entdeckten wir, daß drei von ihnen fehlten.

Es war also doch wieder ein Bär dagewesen, und zwar nicht nur in der Nähe des Schiffes; er mußte sich seine Beute an Bord selbst geholt haben.

Als Mogstad am Morgen die Hunde nach der Fütterung losgelassen hatte, sah er, daß sie, soweit er vom Schiffe aus in der Dunkelheit unterscheiden konnte, alle in wildem Eifer nach einer bestimmten Stelle auf dem Eise hinstürmten, dann aber ebenso schnell wieder zurückkamen.

Er nahm an, daß die Hunde dort einen Bären erblickt hätten, und rief deshalb zu Hendriksen, der nicht weit von ihm ebenfalls auf dem Eise stand, sie wollten sich schnell ihre Flinten von Bord holen.

Doch gerade, als sie diesen Vorsatz ausführen wollten – Mogstad voran, Hendriksen hinterdrein –, kam der Bär angelaufen und packte Hendriksen mit der Schnauze in der Seite.

Dort stand er, Aug' in Aug' mit dem König der Polarregion und ohne andere Waffe zur Vertheidigung als eine Laterne. Aber diese benutzte er nun gegen diesen »Teufel« auf dieselbe Weise, wie Vater Luther der Ueberlieferung nach sein Tintenfaß dem wirklichen Höllenfürsten gegenüber. Er schlug dem Petz ebenso kurz entschlossen mit der Laterne auf den Schädel, und gleichzeitig begannen auch die Hunde, dem Zottelbären die Hölle heiß zu machen. Das eine in Verbindung mit dem andern bewirkte, daß der Bär Hendriksen los ließ, vielleicht aus Verwirrung, hauptsächlich aber wol, um über die Hunde herzufallen.

Hendriksen versuchte, so gut er konnte nach dem Schiffe zu retiriren, aber immer wieder stellte sich der Bär ihm in den Weg, sodaß er wieder dicht bei ihm war. Dann aber waren die Hunde auch immer gleich wieder da und machten Hendriksen dadurch Luft, daß sie den Bären so lange reizten, bis er ihnen von neuem nachsetzte. Dies wiederholte sich mehrmals; bei jedem mal aber benutzte Hendriksen die sich ihm bietende Gelegenheit, näher ans Schiff heranzukommen, bis er schließlich mit einem Satze durch die Lenzluke sprang und gerettet war; »'s war aber auch die höchste Zeit«, wie es im Liede heißt.

Inzwischen hatte Mogstad ein Gewehr erwischt, das ihm jedoch zweimal hintereinander versagte. Nun aber kam Johansen herbei und sandte dem Bären zwei Kugeln zu, die seiner Aufdringlichkeit und seinem Leben ein Ende machten.

Später, gegen Abend, fanden wir draußen auf dem Eise die Ueberreste von zweien der in der vergangenen Nacht verschwundenen Hunde. Den dritten hingegen konnten wir nirgends entdecken, bis er am Tage darauf hechtgesund und kreuzfidel wieder an Bord zurückkehrte.

Wir hatten jetzt acht von unsern Hunden eingebüßt. Doch als Ersatz hierfür schenkte uns »Kvik« in derselben Nacht nicht weniger als dreizehn hoffnungsvolle vierbeinige Weltbürger, sodaß es wirklich den Anschein hatte, als habe die vornehme Dame jeden einzelnen von uns allergnädigst mit einem Weihnachtsgeschenk zu beehren beabsichtigt.

Leider mußten wir freiwillig auf einen Theil dieser großen Freigebigkeit verzichten und fünf der Jungen tödten, damit die Mutter nicht mehr Kinder zu ernähren hatte, als sie bequem im Stande war.

Die Zeit vor Weihnachten war sonst insofern recht traurig, als der Himmel beständig bewölkt war, sodaß uns die Polarnacht mit ihrer allerdichtesten Finsterniß umgab. Weder Mond, noch Nordlicht brachten uns einige Aufheiterung. Unter solchen Verhältnissen konnten die Bären – wie die eben erzählte Begebenheit beweist – uns leicht überrumpeln, und hiergegen versuchten wir so gut wie möglich unsere Vorkehrungen zu treffen.

Deshalb machten wir eine Bärenfalle und thaten angebrannten Speck hinein, damit der Geruch möglichst stark und möglichst weit zu verspüren sei. Diese Falle stellten wir in einiger Entfernung auf dem Eise auf, aber nicht so weit fort, daß wir vom Schiffe aus nicht deutlich hätten sehen können, ob etwas bei der Falle war.

Unsere Erfindung erwies sich als sehr zweckmäßig. Allerdings ging kein Bär in die Falle, denn das Ziel der Petze war ja eigentlich das Schiff, aber sie konnten es doch nicht lassen, diese Rarität zu beschnüffeln und nachzusehen, was es denn eigentlich sei. Dadurch aber gewahrten wir sie von Bord aus so rechtzeitig, daß wir, wenn sie schließlich auf uns lossteuerten, vorbereitet waren und ihnen einen recht heißen Empfang bereiten konnten.

Einen Tag vor dem Weihnachtsabend hatten wir einen solchen Besuch. Vier von der Mannschaft standen zur Begrüßung bereit, als die Majestät kam. Hendriksen sandte ihr den ersten Salutschuß, der auch der letzte blieb. Petz fiel um und stand nicht wieder auf.

Es war unser zehnter Bär.


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