Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Die härteste Prüfung der »Fram«.

20. November. Wir befinden uns jetzt nördlich vom 82. Grade.

Am Abend berief Nansen uns alle in den Salon, wo er uns vor einer Karte des Polargebietes einen längern Vortrag hielt. Er begann mit der Geschichte unserer Expedition und den Voraussetzungen für dieselbe, verweilte bei den Kenntnissen, die man von den Eisverhältnissen im Polarmeere hat, und bei unsern in Bezug auf die Eisdrift gemachten Erfahrungen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde die »Fram« ihren Weg wie berechnet fortsetzen und höchstens eine kleine Abweichung nach Süden machen. Doch zu allen Zeiten hätten die Nationen soweit wie möglich nach Norden vorzudringen versucht; der Pol selbst sei das Ziel gewesen, und es handle sich nun darum, ob nicht auch wir den Versuch machen müßten, ihn zu erreichen. Es würde sich kaum in einem Menschenalter wieder eine so gute Gelegenheit bieten wie im nächsten Frühling, da dann eine Schlittenexpedition einen viel nördlichern Ausgangspunkt haben würde als je eine Expedition vor ihr.

Er habe beschlossen, daß zwei von uns, er und ich, auf eine solche Expedition ausziehen sollten.

Er entwickelte dann den Plan der Reise und die von ihm darüber angestellten Berechnungen.

Es sei denkbar, daß der »Fram« auf ihrer Drift etwas zustoße. Die Pressungen könnten zu stark werden, auch könnte sie ans Land gedrückt werden oder gar, was das Allerschlimmste wäre, verbrennen. Er verbreitete sich nun darüber, daß es der Besatzung möglich sein müsse, sich dann auf das nächste Land zu retten; denn es sei wenig oder gar keine Aussicht, daß die »Fram« so weit nach Norden treiben könnte, daß das Erreichen von Land mit ungeheuern Schwierigkeiten verknüpft sei. Dagegen sei es möglich, daß die »Fram« im nächsten Sommer wieder in offenes Wasser käme.

Der Vortrag war sehr interessant, und wir hörten ihm alle mit gespanntestem Interesse zu.

Nun begann an Bord der »Fram« eine emsige Thätigkeit, da die Ausrüstung der Schlittenexpedition beschafft werden sollte. Diese Ausrüstung kostete uns nicht wenig Arbeit und machte dem Chef, der dabei alles aufs beste ausdenken mußte, viel Kopfzerbrechen.

Zu einer solchen Expedition gehören gar manche Dinge und nichts darf übersehen werden. Eine nach Nowaja Semlja abgeschickte russische Expedition z. B. konnte nichts ausrichten, weil die Schneebrillen vergessen worden waren. Es galt, alles so gut, so zweckmäßig und so leicht wie möglich einzurichten. Besonders das Gewicht spielt eine große Rolle; ein paar Kilogramm in der Verpackung weniger bedeuten für uns Proviant für ein paar Tage mehr.

Meine Mitwirkung bei den meteorologischen Beobachtungen an Bord hörte jetzt auf, und Scott-Hansen erhielt in Nordahl einen neuen Gehülfen. Nansen hat ein einsitziges Kajak angefertigt, und Mogstad wird ein zweites bauen. Diese Fahrzeuge sind uns unentbehrlich, da wir über Rinnen zu setzen und es auch in der Nähe des Landes, sei es Spitzbergen oder Franz-Joseph-Land, immer mit offenem Wasser zu thun haben werden.

Die Kajaks werden aus Bambusrohr gemacht und mit Segeltuch überzogen. Nansen und ich selbst sind gerade dabei, die Bezüge zu nähen. Die Kajaks sind breiter als die der Eskimos und nicht so lang, damit sie stabiler und im Eise auf den Schlitten zu manövriren sind. In der Mitte ist eine Oeffnung mit einem Holzringe, über den wir den untern Rand unsers Kajakpelzes ziehen. Schnüren wir dann unsere Kapuze und die Aermel am Handgelenk zu, so sitzen wir beim stärksten Seegange im Trockenen. Vorn und hinten sind Oeffnungen, damit der Proviant und andere Geräthe leicht erreichbar sind.

Scott-Hansen und ich tragen jeder zwei Uhren und vergleichen sie täglich mit den großen Chronometern, um ihren Gang genau zu bestimmen; die beiden besten wollen wir dann mitnehmen. Sverdrup näht zwei Schlafsäcke und nimmt dazu Renthierkalbfell, damit sie recht leicht werden. Juell ist Sattler; er hat den Hunden Maß genommen und macht für sie ein neues starkes Geschirr von Segeltuch. Diejenigen Hunde, die sich gern losbeißen, erhalten einen Einschlag von Stahldraht, an dem sie ihre Zähne versuchen können. Mogstad, der in jeder Hinsicht außerordentlich geschickt ist, wird die Schlitten, die wir mitnehmen, anfertigen.

Die Schlittenexpedition ist selbstverständlich tagsüber das beliebteste Unterhaltungsthema. Wir besprechen das Für und Wider, die Beschaffenheit des Eises, die Rinnen, die Leistungsfähigkeit der Hunde, den Proviant, die Kälte u. s. w. Alle wünschen uns Glück und Erfolg auf den Weg. Ihre Briefe an ihre Lieben daheim werden wir treu befördern. Es wird eine einzig dastehende Postverbindung, die von uns in Betrieb gesetzt werden soll; dicke Briefe können wir natürlich nicht befördern; darum heißt es mit den Worten sparsam sein.


Die Tage gehen schnell dahin; bald sind wir mitten in unserer zweiten Polarnacht. Es ist dieselbe traurige Dunkelheit, aber die Kälte scheint mir nicht mehr so lästig wie im vorigen Jahre; die Kameraden sind anscheinend derselben Ansicht. Im Gegensatz dazu sollen die Theilnehmer der Tegetthoff-Expedition gefunden haben, daß sie die Kälte im ersten Jahre am besten ertragen konnten.

Die Hunde halten jetzt nachts bisweilen Heulconcerte ab, gerade so, wie sie es im vorigen Jahre thaten, als sie auf Deck angebunden waren. Alle an Backbord Einquartierten, die Wand an Wand mit den Hunden wohnen, sind über diese Concerte wüthend, da sie nachts gar nicht schlafen können; wir andern auf Steuerbord hören jedoch kaum etwas davon.

Das Kochen ist auf unserer bevorstehenden Reise ein sehr wichtiges Ding. Wir beschäftigen uns daher mit Kochversuchen in einem Zelte, das wir neben dem Schiffe aufgeschlagen haben. Das Zelt, das wir mitnehmen werden, gleicht ungefähr einem Zelte für vier Soldaten und ist aus einem Stück Rohseide gearbeitet. Zu unterst in einer der Kanten ist ein Schlitz, der als Eingang dienen soll. Wir richten das Zelt mit Hülfe eines Schneeschuhstocks auf und machen die Strippen mit kleinen Holzpflöcken fest.

Nansen und ich machten im Mondscheine einen Schneeschuhausflug, um zu sehen, wie es sich in den Wolfsfellanzügen läuft. Die Bahn war, ausgenommen auf den Rinnen, nicht schön, und die Temperatur betrug -42º. Wir schwitzten beide entsetzlich und fanden die Wolfsfellanzüge für das Schneeschuhlaufen bei dieser Temperatur viel zu warm. Es war aber doch sehr angenehm, wieder einmal hinauszukommen, da sich jetzt bei der Dunkelheit zu weitern Touren selten Veranlassung bietet.

Im December wehten oft südöstliche Winde, und am 13. konnten wir ein Fest feiern zu Ehren der »Fram«, die von allen Schiffen am weitesten nach Norden vorgedrungen war, denn die Ortsbestimmung ergab, daß wir uns auf 82º 30' nördlicher Breite befanden.

Von nun an verfolgten alle Mann die Ortsbestimmungen mit gespanntestem Interesse. Sobald Hansen eine Sternhöhe genommen hatte, mußte er uns unsere gegenwärtige Lage ausrechnen. Besonders nach südöstlichen Winden waren wir auf das Resultat seiner Berechnungen gespannt, und manche Brotration wurde bei den Wetten über unsere Fortschritte verloren.

In dem Wasserloche, aus dem wir unsere Wasserproben holten und in dem die Temperatur des Wassers gemessen wurde, hing an einer langen Leine ein Fangnetz von dünnem Seidenzeug zum Sammeln kleiner Seethiere. Aus der Stellung dieser Leine konnten wir auf den Gang unserer Drift schließen. Zeigte sie nach Süden, so wußten wir, daß die Eisfläche nach Norden vorrückte. Peder konnte aus ihrer mehr oder weniger schrägen Lage sogar bis auf die Minute erkennen, wie weit wir getrieben waren.

Nie waren wir fröhlicherer Laune, als wenn die Leine in südlicher Richtung unter dem Eise »trocken« lag und die Windmühle mit gerefften Segeln von einem scharfen Südost herumgejagt wurde, denn dann wußten wir, daß wir uns dem offenen Wasser im Norden näherten, und wir beide, die wir ausziehen sollten, freuten uns, weil der Wind uns den Weg nach dem Pole verkürzte.

Wiederholt machten wir den Versuch, die Hunde schwer beladene Schlitten ziehen zu lassen, und wechselten dabei die Gespanne, sodaß wir gute und schlechte zusammenbrachten. Die Versuche fielen gut aus: auf ebenem Eise ging es ausgezeichnet; aber Hindernisse nahmen sie noch nicht. Ohne Raufereien geht es dabei natürlich nicht ab; die beiden Todfeinde »Pan« und »Narnet« beißen sich ineinander fest, sowie sich Gelegenheit dazu bietet, und wir können sie oft nur mit größter Mühe wieder auseinander bringen.

Scott-Hansen stellt seine magnetischen Beobachtungen jetzt in der Schneehütte an, die wir beide errichtet haben; es gefällt ihm darin ausgezeichnet. Dort ist es, wie er sagt, so gemüthlich warm, nur einige zwanzig Grad Kälte, und dazu ist es unter der weißen, reinen, gewölbten Decke bei dem Lampenlicht hell und schön. Er steht oft den halben Tag darin, »kratzt sich den Kopf« und lauert auf den Ausschlag der Magnetnadel. Der Mensch besitzt wirklich merkwürdige Geduld und Ausdauer und dabei eine gute Laune, die sich nie trüben läßt.

Weihnachtsabend. Der Wind weht stark aus Südosten, und das Barometer ist bis auf 726,7 Millimeter gefallen. Es ist doch ein gar zu schönes Gefühl, in einem festen, warmen Hause zu sein, wenn hier oben in der Polarnacht der Sturm über die Eisfelder heult!

Uns, die wir vom Lärme der Welt und ihren Weihnachtsvorbereitungen soweit entfernt sind, erscheint der Heilige Abend wie ein gewöhnlicher Tag. Es ist ein stilles Fest, das wir Dreizehn feiern. Heute haben wir im Salon und in den Kabinen rein gemacht; eine gründliche Säuberung ist es allerdings nicht gewesen, aber wir sind doch damit zufrieden.

Augenblicklich ist der Himmel Tag und Nacht so bewölkt, daß wir gar keine Beobachtungen machen können. Doch läßt sich mit Sicherheit behaupten, daß wir schon ein gutes Stück über den 83. Grad hinaus sind; vielleicht wird es sogar unser Weihnachtsgeschenk, daß wir 83° 24' erreichen, die nördlichste Breite, auf der je ein Mensch gewesen ist.

Nansen und Blessing waren den ganzen Tag oben im Arbeitsraume mit einem geheimnißvollen Gebräu beschäftigt. Als die Flaschen am Abend auf den Tisch kamen, zeigte es sich, daß sie nichts Geringeres als Champagner, »Polarchampagner 83. Grad«, enthielten, gewiß ein in der Welt einzig dastehendes Getränk. Es war aus Spiritus, Eingemachtem, Wasser und Backpulver gebraut worden; auf jeden von uns kamen zwei halbe Flaschen.

Aber die rechte Champagnerstimmung schien zu fehlen; es ging am Weihnachtsabend nicht lebhaft her. Wir sind still, und oft entstehen Pausen in der Unterhaltung, die deutlich erkennen lassen, daß wir mit unsern Gedanken anderswo sind. Und ist es denn zu verwundern, daß wir an einem solchen Abend mit unsern Gedanken dort weilen, wo wir am liebsten sein möchten? Nein, niemand kann es uns verdenken, daß wir still sind, trotzdem wir es an Bord so gut haben. Zu essen haben wir vielleicht mehr und besser, als manch einer bei uns in der Heimat am Weihnachtsabend hat, und wir sitzen hier mitten in der Eiswüste im warmen Zimmer, aber Gefangene sind wir doch. Fern von der Welt liegen wir in einem gefrorenen Meere fest, wo alles Leben erstarrt und dessen Untersuchung schon manches Menschenleben gekostet hat. In solcher Umgebung, nach jahrelanger Trennung von der Heimat muß man wol an das denken, was man verlassen hat.

Am ersten Weihnachtstage gab es »Polar-Curaçao«, der wirklich gut war, und abends wurde nach Mogstad's Geige getanzt. Wir lasen dieselben Weihnachtsnummern und besahen dieselben Illustrationen, die wir uns vorige Weihnachten aus der Bibliothek geholt hatten.

Das Eis ist heute Nacht dicht beim Thermometerhause geborsten, sodaß wir die Instrumente schleunigst bergen mußten. Es ist wieder die alte Rinne, die nun schon bald ein halbes Jahr zugefroren war.

Auf den zweiten Weihnachtstag fiel Juell's Geburtstag. Blessing hatte noch zwei Flaschen Cognak und spendirte uns einen richtigen steifen Grog. Unser hauptsächlichstes Weihnachtsspiel ist Halma zu Vieren; Amundsen ist wie gewöhnlich unser Drehorgel-Kapellmeister, besonders ein alter monotoner Walzer spricht ihn so an, daß wir ihn manchmal beim Drehen ablösen müssen.

Die Hunde draußen auf dem Eise in der immerwährenden Dunkelheit kennen freilich kein Weihnachtsfest, aber sie haben auch ihre Aufgabe zu erfüllen, und vielleicht nicht die am wenigsten wichtige. Bei unserer bevorstehenden Expedition erscheint es mir als das Allerschwerste, daß wir diesen Thieren das Leben nehmen müssen, nachdem sie gethan, was in ihren Kräften stand, um uns ans Ziel zu bringen.

Am nächsten Tage lotheten wir mit 3400 Meter Leine, ohne jedoch auf Grund zu stoßen.

Nachmittags wurde die »Fram« durch einen ziemlich starken Stoß erschüttert, der uns daran erinnerte, daß sich das Eis in Bewegung gesetzt hatte, und am Tage darauf preßte es sich in der Rinne so anhaltend und mit solcher Kraft zusammen, daß das Schiff in seinem festen Lager mehrmals schwankte. Nicht weit vom Buge hatte sich ein großer Eisrücken gebildet.

Am 31. December 1894, am letzten Tage des alten Jahres. Willkommen du neues Jahr, möchtest du uns Glück bringen! Licht bringst du uns ja in jedem Falle mit. Könntest du uns nicht auch mehr Licht in das, was uns auf unserer Erde noch dunkel ist, bringen? Wir wollen es hoffen!

Heute sind wir auf 83° 20,7' nördlicher Breite und 105° 2' östlicher Länge. Die Temperatur beträgt -41,5°.

Die Kabinen haben im Laufe der Zeit folgende Namen bekommen: Sverdrup's Kabine heißt »Altersruhe«, die Blessing's »Linderung«, der Schlafraum an Backbord, den Jacobsen, Bentsen, Mogstad, Nordahl und Hendriksen einnehmen, »die ewige Ruhe« und der an Steuerbord, den Amundsen, Juell, Pettersen und ich theilen, »der geheimnißvolle Raum«. Hansen wohnt im »Hotel garni« und Nansen im »Phönix«.

Am Sylvesterabend erwarteten wir bei einer Bowle »Polargrog« das neue Jahr. Nansen brachte ein Hoch auf das alte Jahr aus, das viel schneller hingegangen, als er und wir alle gedacht, und meinte, dies sei dem guten, zwischen uns herrschenden Verhältnisse zuzuschreiben. Wenn auch manchmal Reibungen vorgekommen seien und jeder von uns gelegentlich seine trüben Stunden gehabt habe, so sei das Zusammenleben doch gut gewesen und wir seien dem alten Jahre dafür Dank schuldig. Beim Schlage Zwölf leerten wir unsere Gläser auf das alte Jahr, wozu Blessing Lysholmer Kornbranntwein spendirte.

Zu allgemeinem Erstaunen ergriff Sverdrup sein Glas und sagte in seiner ruhigen Weise, daß er der Expedition, besonders aber den beiden zu Schlitten Ausziehenden, für das nächste Jahr alles Gute wünsche, worauf Nansen die an Bord Zurückbleibenden leben ließ. Nansen sagte, es gäbe ein irisches Sprichwort, das ungefähr so laute: »Sei glücklich; wenn du nicht glücklich sein kannst, sei sorglos; und wenn du nicht sorglos sein kannst, sei wenigstens so sorglos wie möglich.« Dies wolle er denen, welche zurückbleiben, ans Herz legen. Richteten sie sich nach diesem Sprichworte, so würde auch das kommende Jahr ihnen schnell dahin gehen. Und dieses Jahr würde wol das letzte im Eise sein.

Wir wachten noch ein paar Stunden in das neue Jahr hinein, bis die Müdigkeit uns zwang, in die Kojen zu kriechen, um wieder aufzustehen, je nachdem die Reihe des Wachehalten einen jeden traf.

2. Januar 1895. Jetzt haben alle Mann angefangen, nach Hause zu schreiben. Es gilt, soviel als möglich auf möglichst wenig Papier zu schreiben. Nach dünnem, starkem Papier und spitzen Federn ist daher große Nachfrage, und alle üben sich in mikroskopischer Schrift. Hansen hat ein wahres Meisterstück geliefert; er hat so klein geschrieben, daß der Brief mit der Lupe gelesen werden muß.

Das Eis ist in der letzten Zeit in beständiger Bewegung gewesen; gestern bekam das Schiff einen so heftigen Stoß, wie wir ihn seit dem vorigen Winter nicht gehabt haben.

3. Januar. Ueber Nacht war es still, aber von 4 ½ Uhr morgens bis nach 9 Uhr preßte sich das Eis an Backbord stark zusammen. Immer näher und höher wälzte es sich an das Schiff heran, das von Zeit zu Zeit von dem Drucke erschüttert wurde, der sich durch das unten liegende Eis hindurch fortpflanzte.

Hansen und ich machten in der Dunkelheit die Runde, um uns die gräßliche Verheerung anzusehen. An Backbord, ungefähr 18 Schritt vom Schiffe, stand ein ansehnlicher Eisrücken, vor dem an der der »Fram« zugekehrten Seite das Eis auseinandergerissen war. An seiner andern Seite, hinter dem Zelte und dem Beobachtungshause, verlief eine Rinne in schräger Richtung nach dem Achterende des Schiffes.

Im Laufe des Vormittags kam es hin und wieder zu Pressungen, und hinten bei der neuen Rinne barst das Eis an verschiedenen Stellen. Nach Tisch fingen die Pressungen wieder an; der Eisrücken an Backbord glitt bis dicht an den Riß vor dem Schiffe heran. Wir mußten schnell den Samojedenschlitten mit den Lothungsgeräthen und einen zweiten beladenen Schlitten, die wir dort stehen hatten, in Sicherheit bringen.

Während wir beim Abendbrot saßen, gab es wieder einen Stoß; es stellte sich heraus, daß unsere Scholle von neuem an mehrern Stellen in der Mitte und am Buge des Schiffes geborsten war. Unsere feste Scholle, auf die wir so stolz waren und auf der wir uns so sicher fühlten, fängt also nun auch an, sich in kleine Stücke aufzulösen und an den Pressungen theilzunehmen.

Wir haben heute alle Vorbereitungen für den Fall getroffen, daß wir genöthigt sein würden, die »Fram« plötzlich zu verlassen. Die Schlitten liegen auf Deck bereit, der Proviant ist heraufgeholt und vertheilt, die Hundekuchen sind auf das Eis gebracht und die Kajaks gebrauchsfertig gemacht. Noch ist die Hauptmasse unserer Scholle, der feste Kern, in dem die »Fram« liegt, nicht angegriffen worden.

Wir sind alle der Ansicht, daß es ungeheurer Kräfte bedarf, um Eismassen so durcheinanderzuwerfen, wie wir es hier sehen. Millionen Pferdekräfte gehören dazu, meint Amundsen, und hätte die »Fram« sich nicht gehoben, sodaß das Eis unter ihrem Kiele nach Belieben weiter pressen konnte, so würde sie eine solche Pressung wol kaum ausgehalten haben. Aber sie ist so gebaut, daß sie es konnte, und in eine noch gefährlichere Lage, als sie bei diesen Pressungen war, kann sie schwerlich kommen. Liegt sie doch wie in einem Schraubstocke und muß den Druck der von der einen Seite herandrängenden Eisrücken aushalten.

Wir spielten abends gerade Halma zu Vieren, als eine starke Pressung das Schiff erschütterte. Peder stürmte mit der Meldung in die Thür, daß die Hunde im Begriffe seien, zu ertrinken. Alle Mann eilten auf Deck, aber Peder hatte die erschreckten Thiere, die in ihren Hütten bei dem immer höher steigenden Wasser laut winselten, schon befreit.

Wir brachten nun Proviant nach dem 200 Meter vom Schiffe entfernten Großen Hügel, wozu wir uns dreier Schlitten bedienten. Dann holten wir aus dem Großraume und dem Vorraume Lebensmittel für Menschen und Thiere, Pemmikan, Brot, Chocolade und allerlei Fleisch. Die Hunde liefen aufgeregt umher; sie schienen etwas Besonderes zu erwarten und suchten vergeblich nach ihren alten Schlafstätten. Lange dauerte es, bis sie hier und da unter einem Eisblocke zur Ruhe kamen.

Da jeder Mann einen Sack und die nöthige Kleidung bekommen hat, brauchen wir nur die Säcke auf das Eis zu werfen, wenn die Pressungen uns überrumpeln sollten.

Freitag Abend begann die Wache wie gewöhnlich um 11 Uhr. Das Eis war unruhig; schwere Eisrücken drängten auf der Backbordseite heran. Die Partie zwischen dem Schiffe und der Rinne preßte sich zusammen, die auf ihr befindlichen Schneelager stäubten bis zu uns hinüber, und es entstanden Querrisse, deren Ränder sich nach und nach unter dem anhaltenden Drucke der Eisrücken aufwärts bogen.

Ich hatte von 1 bis 2 Uhr die Wache; die Pressungen dauerten fort. Manchmal gab das Eis Laute von sich wie ein lebendes Wesen; es waren hohe und wieder unbeschreiblich tiefe Töne, die sich in der Nacht geradezu abscheulich anhörten. So hielt es die ganze Nacht bis morgens 5 Uhr an, wo alle Mann alarmirt wurden. Der Eisrücken war beinahe bis an die Lenzluke vorgerückt. Wir mußten nun die Proviantkisten nach unserm Depot am Großen Hügel schaffen, und das Hin- und herziehen der Schlitten in der Dunkelheit fing wieder an.

Im Schiffsraume wurde tüchtig herumgewirthschaftet, um die nothwendigen Lebensmittelsorten herauszufinden, und wir hatten bis Mittag recht schwer zu arbeiten. Patronen wurden vertheilt, jeder bekam 10 in seinen Sack, und eine Kiste mit Schrot- und Kugelpatronen wurde nach dem Depot gebracht. Dann aßen wir zu Abend, später als wir es sonst Sonnabends thun, und hofften auf eine gute Nachtruhe. Es sollte aber anders kommen.

Um 8 Uhr begannen die Pressungen wieder, und diesmal wurde es ernst. Die Eismasse zu unserer Linken wälzte sich über das auf dem Vorderdeck ausgespannte Schneesegel hin bis zur Kommandobrücke empor. Jetzt galt es also, sich zu retten; der Ruf »Alle Mann auf Deck« ertönte. Nansen hatte ihn ausgestoßen. Dieser war gleich im Anfang auf Deck geeilt und hatte die Hunde, die das Schneesegel vor dem stürzenden Eise beschützte, losgemacht. Es war wirklich ein Wunder, daß das Segel hielt.

Ich war gerade dabei, die Strümpfe auszuziehen, und stand sehr leicht gekleidet in der Küche, wo ich gewartet hatte, bis nach Sverdrup die Reihe des Waschens an mich kam. Ich hatte mir eben erst die Hände naß gemacht, als der Alarmruf laut wurde. Es war ungemüthlich, dazusitzen und sich wieder anzuziehen, während einer nach dem andern auf Deck verschwand, die Pressungen ein betäubendes Gepolter verursachten und die »Fram« unter dem herandrängenden Eise ächzte. Ich kam nicht früher auf Deck, als bis die Pressung beinahe vorbei war und die andern schon wieder die Treppen hinabstiegen, um die Transportsäcke, die Schlafsäcke und allerlei Kleidungsstücke zu holen. Selbst in diesem Augenblicke, als alles zum Verlassen des Schiffes bereit war, zeigte sich, daß noch mancherlei unbedingt mitgenommen werden mußte.

Zum Glück betrug die Temperatur nicht mehr als einige 20 Grad Kälte. Sollte die »Fram« wirklich draufgehen, so waren wir ja auf dem Eise in Sicherheit und hatten dort Hunde, Schlitten, Segel, Zelte, Schlafsäcke, Kleider und Lebensmittel für ein ganzes Jahr. Allerdings waren wir mitten im Meere und von der nächsten bekannten Küste ungefähr 440 Kilometer entfernt.

Wir waren gar nicht niedergeschlagen, es schien uns nur merkwürdig, daß das Pressen jetzt mit einem male ganz aufhörte. Es war, als sei die Wuth des Eises gestillt, nachdem es uns vom Schiffe gejagt hatte. Nachher stellte sich heraus, daß die »Fram« sich beinahe um einen Fuß gehoben hatte und nach hinten vorgerückt war. Dabei hatte sie sich auch wieder ein bischen nach Steuerbord geneigt, und die Schlagseite, die in der Nacht auf den Sonnabend noch 7° betrug, ist jetzt 6 ½°.

Als alles wieder geborgen war und wir uns nach und nach alle an Bord eingefunden hatten, versammelten wir uns sämmtlich in Sverdrup's Kabine zu einem kleinen fröhlichen Gelage. Sverdrup theilte uns von seinem großen, durch Tauschhandel gewonnenen Honigkuchenlager mit, und wir stießen mit Malzextract darauf an, daß wir noch manches Glas an Bord der »Fram« trinken möchten.

Es wurde bestimmt, daß wir die Nacht über an Bord bleiben sollten. Die Wache wurde in gewohnter Weise angetreten, während wir andern uns in die leeren Kojen legten, bereit, beim ersten Alarmrufe auf Deck zu eilen. Unter den gegenwärtigen Umständen wurde jedoch aus dem Schlafen noch weniger als in der vorigen Nacht. Wir lagen eine Welle im Halbschlummer, mußten dann auf Wache und versuchten nachher wieder einzuschlafen. Aber die Nacht verlief ruhig und bisjetzt, da ich am Sonntag Mittag diese Notizen auf ein Stück loses Papier niederschreibe – unsere Tagebücher befinden sich drüben im Depot – haben die Pressungen noch nicht wieder angefangen.


 << zurück weiter >>