Fritz Müller-Partenkirchen
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Das zweite Blühen

Kürzlich hieß es: Der Zürichberg blüht! Das weiße und das rote Frühlingswunder des Zürichberges, die duftgesättigte Frühlingspracht, ward beschrieben. Es waren begeisterte Worte. Und der Zürichberg im Frühling hat sie auch verdient. Reichlich und redlich.

Inzwischen sank die Blütenpracht dahin. Es ward zur grämlichen Gewißheit: Hunderrtausende von jenen Blütenträumen reifen nicht. Hunderttausende von jenen Blütenträumen waren eine Täuschung.

Und ich war eben dabei, Ihnen eine traurige Epistel darüber zu schreiben, da hub – ein neues Blühen an, da blühte der Zürichberg zum zweiten Male.

Ja, ja, zum zweiten Male. Auch wenn Sie den Kopf darüber schütteln. Und wenn ich es recht überschaue, so will es mich bedünken, als ob dies zweite Blühen länger dauern würde, als das erstemal. Den ganzen Sommer über dauern würde, weit in den Herbst hinein, und – hier bin ich ein Prophet, der aus Erfahrung spricht – und noch im Winter seh' ich's rot und weiß vom Zürichberge leuchten.

Es sind eigene Blüten, die ich meine. Nicht still und träumend hängen sie an Bäumen wie die Frühlingsblüten. Meine Blüten sind nicht 214 starr an einen Ort gebannt und müssen nicht geduldig warten, ob sie reifen oder fallen. Nein, meine Blüten können mehr als warten, meine Blüten sind lebendiger. Sie können trippeln, trappeln. Flink und zierlich, mit Nachdruck und manierlich. Plappern können sie und schnattern. Und sie können singen. Jawohl, auch singen.

Ich sehe schon, wie Sie am grünen Tische lächeln, wie Ihre Lippen halblaut sprechen: »Na, der Phantast!« Oder, für den Fall Sie auch ein Münchener sind wie ich: »Aber den hat's!«

Es liegt mir nichts daran, – sagen Sie es immerhin. Denn ich bin meiner Sache sicher. Und wenn ich jetzt gleich meine Blüten, die zweiten Blüten von dem Zürichberge, an Ihrem grünen Tische vorbeischneien lassen könnte, so fünf Minuten oder eine Viertelstunde lang, ich bin gewiß, Sie wären gar nicht bös und würden mir bezeugen: »Recht hat er – er hat wirklich recht!« Oder falls Sie ein Münchener sind: »Weiß der Deixel – 's stimmt!«

Aber leider muß ich Ihnen den Beweis jetzt schuldig bleiben. Sintemalen diese Blüten sich nicht mir nichts dir nichts schicken lassen. Und alldieweilen diese Blüten eben jetzt vor meinem Fenster den Zürichberg hinauf-, hinübertrappeln, krabbeln, singen und den ganzen Berg lebendig überziehen.

Die Kinder vom Zürichberge sind es, die Schulkinder der Stadt Zürich sind es.

Die Schulkinder der untern Klassen haben nämlich in Zürich ein herrliches Vorrecht. Ihre Lehrer und Lehrerinnen haben es in der Gewalt, an einer erklecklichen Anzahl von 215 Vormittagen oder Nachmittagen vom Katheder herabzusteigen, weit die Tür aufzumachen und zu sagen: »Kinder, heute wollen wir aber einmal –« Weiter kommen sie nicht mit dem Reden. Denn es bricht ein Jubel los, ein Jubel . . . Und aus den Bänken quillt es, über die Gänge flirrt es, die Treppen hinunter schießt es, aus den Toren strömt es, und über den Zürichberg flutet es . . .

Und denk einmal: Der Tag, wo der Lehrer solches zu den Kindern spricht, wird nicht von einer Schulbehörde festgesetzt, wie in – wie in – na, sagen wir einmal, wie anderswo. Kein Lehrerrat beschließt vorher: In Anbetracht des derzeitigen Sonnenscheins und unter tunlicher Würdigung des registrierten Thermometerstandes habe heute nachmittag . . . Nicht die Idee davon, ihr Freunde. Der Hergang spielt sich vielmehr so ab: Eben läßt der Lehrer dividieren. Dividieren ist eine elende Sache. Bei den Großen und bei den Kleinen. Bei den Großen, wenn der Geldvorrat davon betroffen wird, so gegen Monatsende, oder wenn bei einer Erbschaft der Divisor groß und immer größer wird. Bei den Kleinen, wenn die Sonne draußen scheint, oder wenn mit einem Male ein Vögelchen durchs vordere offene Fenster des Klassenzimmers fliegt, rasch und trillernd dem Erstaunen Ausdruck gibt, daß an einem solchen Tage so viel kleine Menschenkinder auf der Schulbank angenagelt sind, und mit einem »Kidiwitt!« als Lockruf durch das letzte offene Fenster wieder aus der Klasse schwirrt. In einem solchen Augenblicke ist es, daß der kleine Bindschedler 216 Maxel im Dividieren plötzlich stecken bleibt, daß der Lehrer prüfend aus dem Fenster nach dem Himmel sieht, die Divisionen von der Tafel wischt und anstatt der Division eine Exkursion auf den Zürichberg ankündigt. Einfach aus dem Handgelenke und ohne die geringste Anordnung von oben – es sei denn die vom Himmel. Wie würden sich darob in – in – na, sagen wir halt wieder: anderswo die Rektorenbrauen runzeln und Erlasse aus den Ministerien in die Klassenzimmer rascheln: »Wo kämen wir da hin? – Wir bitten zu bedenken – und überhaupt –« Beruhigt euch. Auch in Zürich ist da eine Grenze. Oder vielmehr zwei. Einmal das schlechte Wetter, das es auch in Zürich gibt. Und dann: Der Lehrer kriegt am Jahresanfang eine Handvoll solcher Tage zugebilligt, die er nicht überschreiten darf. Freilich, aus der Handvoll dieser Tage schöpft er wie ein König.

Heute, ja, da sind sie schon am frühen Nachmittage in hellen Scharen heraufgezogen. Eine Klasse nach der andern. Jetzt ein Lehrer mit Buben und mit Mädchen. Dann eine Lehrerin mit Mädchen und mit Buben. Richtig – das habe ich vergessen: In Zürich ist man gar der Ansicht, daß das, was im Leben später auch beisammen ist, im Leben später beieinander schafft, sich freut und leidet, die Frauen nämlich und die Männer – daß die auch als Buben und als Mädel beieinander in der Schule sitzen dürfen. In Freude und in Fröhlichkeiten über den Zürichberg klettern dürfen. Ich weiß schon, daß man anderswo – na, Sie wissen schon.

Überhaupt, es ist so vieles anders in den 217 Schulen in den Schweizer Bergen. Darf ich rasch noch eine solche – eine solche Unstimmigkeit – nicht wahr, sagt man bei Ihnen? – hier erzählen? Muß ich da mein kleines Töchterchen in der Schule anmelden. Sie kommt aus einer Schule in dem großen Nachbarkanton, wie sie scherzhaft hier das Deutsche Reich auch heißen. Sittsam geht sie mit mir in das Klassenzimmer, wo der Oberlehrer oder Rektor unterrichtet. Das heißt, so heißen sie im Süden und im Norden Deutschlands stolz und würdig. Hier heißen sie: Der Hausvorstand und weiter nichts. Bedenken Sie, der Hausvorstand, nicht Schulvorstand. Nun stellen Sie sich einmal vor, man hieße die Rektoren und die Oberlehrer in dem großen Nachbarkanton auch nur einfach Hausvorstand. Um Gottes willen. (Sie können diesen Satz auch streichen, wenn Sie glauben, daß die Vorstellung, die er hervorruft, zu aufregend ist.) Nun also, dieser Hausvorstand hat gerade Pause. Er sitzt an seinem Pult und trägt die Anmeldung meines Töchterchens in ein Buch ein. Unterdessen ist die Klasse voller Leben. Zwei Mädchen üben mit verschränkten Armen einen knixigen Tanzschritt ein hinter den letzten Bänken, andere erzählen sich etwas, worüber sie nicht mehr aufhören können vor Lachen, ein paar Musterschüler vorn haben sich ihre Zeigefinger in die Ohren gestopft und »ochsen« in einer Fibel, daß der Kopf raucht, und wieder einer – ich sehe, wie sich die Augen meiner Tochter schreckhaft erweitern – nimmt den steifen Hut des Lehrers von der Fensterklinke, setzt sich ihn auf und macht eine komische Verbeugung gegen die Klasse. 218 Und dies alles, während der Lehrer in der Klasse ist. Und dies alles, weil der Lehrer halt der Meinung ist, daß eine Pause eben eine Pause sei. Und wie mich jetzt der Lehrer wegen meiner Tochter fragt: »Geboren am –?« kann ich deutlich sehen, wie er den kühnen Lehrerkopfbedeckungsusurpator aus dem linken Augenwinkel erspäht, und – kein Wörtlein sagt. Bedenken Sie, kein Wörtlein sagt, sondern nur ein wenig lächelt und überlegt: Der Junge hat ganz recht; warum habe ich auch meinen Hut statt an den Kleiderhaken neben dem Pult, dort hinten an den Fenstergriff gehängt?

Ich hab' das rasch erzählen müssen, weil das Geschichtchen einen so deutlichen Schluß zuläßt auf die ausgelassene Fröhlichkeit, womit der Zürichberg sich hier bedeckt, wenn Ausflugstag ist.

Hundert Meter von dem Zimmer, wo ich schreibe, hat sich eben eine singende Klasse ins Gras gelagert. Sie haben gesungen, als ich sie weit weg, dort drüben, über die Böschung heraufkommen sah. Sie sangen, als sie bei mir vorbeikamen. Sie singen jetzt, wo sie im Grase liegen. Sie werden singen, wenn sie nach ein paar Stunden heimwärts ziehen. Und da fällt mir eben ein: Herrgott, wird in der Schweiz was gesungen! Noch mehr, als es Sonntags von den Schweizerbüchsen an den Bergeshängen knallt. Und das will etwas heißen in einem Lande, wo der Gymnasiast im Klassenzimmer sein Gewehr – ein richtiges Gewehr – neben seinem Mantel hängen hat, weil er gleich nach der Griechischstunde hinüber nach dem Ütliberg 219 zum Knabenschießen geht. Sie zwinkern mit den Augen? Aber kommen Sie doch selber – ich will es Ihnen zeigen.

Auch die Kinder auf dem Zürichberge, die zweiten Blüten auf dem Zürichberge. Wir werden dann zusammen die vielverschlungenen Wege auf dem Zürichberge gehen. Neben den Kindern. Vor den Kindern. Hinter den Kindern. Wo Sie immer wollen. Und wenn wir an den Lehrern und den Lehrerinnen vorbeikommen, so werden Sie gegrüßt mit »Grüezi!«, wenn Sie gegrüßt sein wollen. Und dann müssen Sie wieder »Grüezi!« sagen; ich weiß, Sie werden das tun, ja, ich weiß noch mehr. Wenn Sie das kleine wimmelnde Volk auf dem Zürichberge singen und immer wieder singen hören werden, dann werden Sie Ihre Kehle räuspern und werden auch ein bissel singen. Oder wenigstens, wenn Sie so wenig singen können wie ich, so werden Sie wenigstens ein wenig mitbrummen.

Das wird viel, viel schöner sein, als wenn Sie zu Hause Manuskripte prüfen, wie jetzt. Oder als wenn ich an der Schreibmaschine klappere, wie jetzt. Auch wenn es auf der Veranda ist, auf die ich meine Schreibmaschine jetzt hinausgetragen habe. Und unter der jetzt gerade wieder eine singende Kinderschar vorüberzieht, und von denen jetzt ein paar Nachzügler das Geknatter der Schreibmaschine gehört haben und zu mir heraufschauen. Und jetzt hat ein kleines Mädchen den Finger gehoben und zeigt zu mir herauf. Und sie sagt auch was zu ihren Kameraden. Aber ich kann es nicht hören vor Geknatter.

220 Jedoch mit meinem zweiten Gehör habe ich es hinterher doch noch aufgefangen, was das kleine Mädchen sagte: »Jetzt so was Dummes – schreibt der alte Mensch bei diesem Wunderwetter auf seiner alten Schreibmaschine, anstatt daß er . . .«

Und sehen Sie, darum muß ich jetzt schnell schließen. Ich kann doch so was nicht auf mir sitzen lassen. Ich muß gleich hinunter und hinauf auf den Zürichberg. Unbedingt, sehen Sie, dort drüben – das kleine Mädchen wartet noch . . .

 


 


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