Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
Fritz Müller-Partenkirchen

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Kaum genügend

Eben hat die alte Frundsbergerstraße widerhallt vom Gelärm der Gymnasiasten, die in die Weihnachtsferien zogen. Und schon fünf Minuten später war alles wieder still vor dem großen grauen Hause, das sie das Frundsberggymnasium hießen.

Aber halt – da ging nochmal die Mitteltüre auf. Der alte Pedell Mittermaier streckte den Kopf heraus, hielt mit dem linken Fuß die Türe fest und begann umständlich zwischen Tür und Angel zu schnupfen. So eifrig war er bei der Sache, daß er übersah und überhörte, wie ein Mann die sieben ausgetretenen Treppenstufen zum Portal heraufkam:

»Erlauben Sie, ist Herr Rektor Ritz noch oben?«

Der Pedell vergaß aufs Niesen, so war er erschrocken.

»Ja, Herr Rektor Professor Doktor Ritz ist noch im Amtszimmer,« sagte er.

»Danke,« erwiderte der Fremde und war schon in der Halle.

»Zweiter Stock rechts hinten,« rief der Pedell ihm nach.

»Weiß schon, weiß schon, Herr Mittermaier. Halten Sie sich gar nicht auf!«

Zum zweitenmal vergaß der Pedell aufs Niesen, 12 und die schon gehobenen Nasenflügel nahmen enttäuscht die gewohnte Stellung wieder ein.

»Hm,« sagte der Pedell, schüttelte den Kopf und schob im Weitergehen die schwarze Amtsmappe aus der linken Achsel unter die rechte, »hm, woher weiß der fremde Mensch – hm, woher weiß der fremde Mensch . . .?«

Der Pedell Mittermaier hatte nämlich die Angewohnheit, seine Sätze nicht fertig zu machen. Dafür wiederholte er von der Mitte ab die erste Hälfte. Das war dann grad so gut, behauptete der Rektor Professor Doktor Ritz. Denn von diesem hatte er die merkwürdige Angewohnheit angenommen. Wenn man dreißig Jahre lang beisammen ist, kommen solche Angleichungen von selber.

Der Fremde hatte inzwischen nur die ersten Innenstufen eilig erstiegen – so lange ihm nämlich der Pedell noch nachsah. Dann hielt er ein und ließ sich Zeit. Er schaute auf die Stufen und stellte mit einem Lächeln fest, daß sie alle rechts mehr abgenutzt waren, als auf der andern Seite.

Auf dem ersten Treppenabsatz blieb er stehen und sah zum Fenster hinaus. Da lag der Schulhof. Er machte geschwind die Augen zu.

»Woll'n mal sehen,« dachte er für sich hin, »ob ich's noch weiß. Also da käme zuerst ein Streifen gelber Kies –« Er sah mit überdachten Augen hinaus, um nicht weiter schauen zu müssen, als der Streifen breit war. Richtig, da lag der gelbe Kies.

»– und dann, dann käme ein Rasenstück –«

13 Richtig, da lag es, das Rasenstück.

»– und dann ein Bach, ein wirklicher Bach in einem Schulhof; sie sollen mir einmal ein zweites Gymnasium in Deutschland zeigen mit einem Bach im Schulhof –«

Richtig, da glitzerte der Bach herauf mit einem dünnen Rand von Schnee. Und darüber führte eine Brücke zum großen Turn- und Spielplatz des Gymnasiums – Himmel, das war ein Schulhof.

Und dann sah er sich selbst mit dem Kameraden darauf, damals. Dort in der Ecke stand wieder der lange Gunzelmann mit den Händen auf den Knien und ließ ihn Bock springen über seinen Rücken. Und da drüben lernten sie immer noch geschwind den Xenophon in der Zehnuhrpause, ach ja, ach ja . . . Und der kleine Hügel überm Bache stand ja auch noch da. Wo sie kämpften in den untern Klassen. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpften auf Tod und Leben um den Besitz des Hügels, jeden Samstag nachmittag.

Der Fremde fuhr sich über seine Schläfe und lächelte wieder – die Spur von einer Schramme, von einer Siegerschramme aus der Hügelzeit, war jetzt noch fühlbar.

Dann ging er sinnend weiter.

Da lag die Flucht der Klassenzimmer. Ein jedes kannte er. In einem jeden hatte er gesessen, der Reihe nach, neun volle Jahr lang. Er machte eines auf. ›IIIIB‹, stand auf der Türe. Und er wunderte sich wieder, wie damals, daß es vier Striche waren und nicht eine I vor einer V.

14 Dort stand das Katheder – jaja, das Katheder. Und er seufzte ein ganz klein wenig. Und es waren noch vierzehn Bänke, und der Alexander hing noch an der Wand, und die Pallas Athene mit dem Speere in der Hand, und der Zeuskopf mit seiner Lockenfülle, alles, alles . . .

Die alte Schiefertafel sah ihn an, wie damals, halb unvermeidlich und halb drohend. Ein Gesicht hatte sie, ein richtiges Gesicht. Das Gesicht der Wissenschaft, der unerbittlichen, blickte aus den feinen schiefrigen Abblätterungen herunter auf ihn.

Er setzte sich in eine Bank. Natürlich war sie viel zu klein. Die Knie stießen oben an. Aber das machte nichts. Ganz brav und still saß er eine Weile da und sah auf den schwarz lackierten Schultisch hinunter. Das war ja doch sein Platz von damals. Und da – da, unter der Lackschicht sahen noch verschwommene Umrisse durch. Kaum, daß sie noch zu sehen waren. Aber er fühlte sie auswendig nach: Ein ›A‹ und daneben ein ›L‹. Anna Leutwein, ja, so hieß sie, seine erste stille Liebe, von der das blonde Mädel nie etwas erfahren hatte. Trotzdem sie in dem Nachbargrundstück wohnte überm Frundsbergbach, gleich neben dem Schlachtenhügel, wo er seine Siege erstritt. Jawohl, unter ihren Augen erstritt.

Nicht, daß er schüchtern war – o nein, im Gegenteil. Doch an dem Tage, wo er sich ein Herz genommen hatte, sie zu grüßen, ward sie krank. Und war in einer Woche weggestorben . . .

»Wackernagel! Die Odyssee, Seite sechsundneunzig, zweiter Absatz, beginnen Sie!«

Er fuhr zusammen bei der Kathederstimme 15 aus der Vergangenheit. Er, der Mann mit einem schwarzen Vollbart, fuhr zusammen in der Quartaschulbank, weil er ungenügend vorbereitet hatte in der Odyssee.

Aber schon lächelte er wieder wehmütig. Was doch die Erinnerung für Stimmen heraufbeschwören kann. Wie oft war er da drunten in Australien nächtens aus dem Bette aufgefahren, wenn er seine mündliche Prüfung im Traume mit Ach und Krach zum ixten Male bestand. Wenn die sechzehn blitzenden Brillengläser des Prüfungskörpers durchdringend auf ihn gerichtet waren. Weiß der Teufel, so hatte er selbst in Australien nie geschwitzt am Mittag, wie damals in dem kühlen Prüfungssaale.

Nein, nein, Lorbeeren hatte er keine geerntet in diesem grauen Hause, sicher nicht. Eine Kette von schwierigen Übergängen waren ihm die Klassen. Und er sah den Rektor, wie er ihm mehr als einmal auf die Schulter klopfte:

»Mit knapper Not, Wackernagel, mit knapper Not . . .«

Ja, warum war er denn um Himmelswillen hergegangen, jetzt nach achtzehn Jahren? Was hatte ihn getrieben, eine Stätte aufzusuchen, die ihm keine Kränze flocht? – Er lächelte wieder.

Als er vor acht Tagen angekommen war, von Hamburg her, direkt vom Schiffe, hatte er das ›Lokale‹ durchgelesen im ›Tagblatt‹, langsam kostend, wie man Mutters beste Speise kostete, wenn man aus den Ferien kam. Und da war sein Auge hängen geblieben an einer kleinen Notiz:

›Das alte Frundsberggymnasium wird 16 wahrscheinlich an die Stadtgrenze verlegt werden müssen. Den großen Schulhof, der gepachtet war, will der Besitzer der Bebauung zuführen.‹

Der große Schulhof! – Und dann hatte er lange über das Zeitungsblatt hinausgeschaut und geträumt. Herumgetrieben hatte es ihn dann in der Stadt acht Tage lang, dahin, dorthin, und morgen – richtig – morgen mußte er wieder abfahren. Zuerst in die Reichshauptstadt und dann zurück nach Neu-Süd-Wales, wo seine Lebensarbeit lag und auf ihn wartete.

Vorher galt es aber noch, den Rektor aufzusuchen, seinen alten Rektor. Zweiter Stock, rechts hinten.

Leise hatte er das Klassenzimmer IIIIB wieder geschlossen, war noch eine Treppe aufgestiegen und klopfte hinten rechts.

»Herein!«

Ja, das war des Rektors Stimme.

Er war eingetreten und sah den weiß gewordenen alten Rektor schreiben, an langen Bögen schreiben. Er kannte diese Bögen, die Notenlisten der Schüler, die die Schule in ihren Akten behielt. Der Statistik halber, und – man konnte nie wissen, ob nicht vielleicht später der und jener . . .

»Sie wünschen?« Gleichmütig sah der alte Rektor auf. Wie war sein gutes altes Gesicht verrunzelt. Wie war sein Scheitel licht geworden. Aber die Augen, die blauen Augen hinter der goldrandigen Brille waren noch die gleichen.

»Ein ehemaliger Schüler von Ihnen, Herr Rektor, hat mir aufgetragen, einen Gruß zu bestellen.«

»So, so, einen Gruß, einen Gruß?«

17 »Ja, einen Gruß von Fritz Wackernagel, Herr Rektor.«

»Wackernagel – Wackernagel Fritz – warten Sie – Wa–cker–na–gel, jaja, weiß schon, weiß schon  –«

»Er hat mir gesagt, daß er zwar kein guter Schüler war –«

»Hm, kein guter Schüler? Na, es ging – es ging – absolvierte dreiundneunzig, glaube ich – warten Sie – warten Sie –«

Er hatte hoch hinauf gereicht an dem Registraturschrank und einen blauen Akt hervorgeholt. Darin blätterte er. »Uhlig Franz – Ufermann Heinrich – Vlissinger Karl – warten Sie, warten Sie – Vlissinger Karl – da ist er ja schon – Wackernagel Fritz . . .«

Er war ganz versunken in die Notenliste. Da räusperte sich der Fremde.

»Im Lateinischen, glaub ich, war er nicht besonders, Herr Rektor.«

»Im Lateinischen? Kaum genügend – kaum genügend –«

»Und im Griechischen, glaub ich, war er auch nicht viel besser?«

»Im Griechischen? Kaum genügend, steht da, kaum genügend –. Jaja, und in der Mathematik, da steht auch ein Kaum genügend. Überhaupt, überhaupt . . .«

»Aber in der Geographie, sagte er mir –«

»Ja, in der Geographie und im Deutschen, da war er gar nicht übel. Sehen Sie, das riß ihn wieder heraus, damals, in der Abschlußprüfung. Trotzdem er damals die dumme 18 Geschichte hatte mit der Reliefkarte. Aber er hat es wieder in Ordnung gebracht – wirklich auf eine noble Art in Ordnung gebracht, – das muß man sagen – aber . . .« Er sah erschrocken auf.

»Entschuldigen Sie, ich erzähle Ihnen da – ich weiß nicht – es war dumm von mir – vielleicht wissen Sie gar nicht . . .«

Des fremden Mannes Augen glänzten.

»Doch, doch, Herr Rektor. Ich weiß alles, alles. Vor mir hat der Fritz nie ein Geheimnis gehabt. Ich weiß recht gut, daß er die schöne Reliefkarte, auf die er ganz versessen war, einen Tag lang in seinem Zimmer aufgehängt hatte –«

»Leihweise, bitte, leihweise –«

»Und daß Sie dann, Herr Rektor –«

»Ich? Nein, nein, da hat er Ihnen etwas vorgeflunkert, der Wackernagel; das hat er alles selbst ins rechte Blei gebracht, jawohl, ganz von selbst. Und übrigens, das muß ich Ihnen sagen, ich habe ihn sehr gut leiden mögen, den Wackernagel, trotzdem er kein Sitzfleisch hatte damals und es knapp zu ›Kaum genügend‹ – und Sie kennen ihn also? Und einen Gruß an mich hat er Ihnen – hat er Ihnen? So, soso? Und wo ist er denn? Wie ging – wie ging –?«

Er war ganz lebhaft geworden, der alte Herr.

»Der Wackernagel? Oh, dem geht es gut. In Australien sitzt er jetzt und kauft ein Bergwerk um das andre.«

»Der Wacker–, hm, der Wacker–na–gel Fritz?« Und ungläubig ging sein Blick wieder über die Notenliste aus dem Jahre achtzehnhundertdreiundneunzig.

»Ja, der Wackernagel, Herr Rektor. Und ein 19 gehöriges Stück Glück hat er auch gehabt, der Mensch.«

»Und da erinnert er sich noch nach achtzehn Jahren an sein altes Gymnasium – wirklich, das ist – das ist –«

»Ja, und den alten Schulhof, Herr Rektor, hat er mir aufgetragen, den müßte ich noch ganz besonders von ihm grüßen.«

»Den alten Schulhof, so?«

Des Rektors gutmütige Augen bekamen plötzlich einen anderen Ausdruck.

»Ja, ich habe ihn angesehen, Herr Rektor, beim Heraufgehen. Es ist ein wundervoller Schulhof, ein Schulhof mit Bach und Rasen und mit Hügeln –«

»Hat sich was, mein Herr, hat sich was! Mit dem ist's vorbei. Den haben sie uns gekündigt. Jetzt nach dreißig Jahren, mein Herr. Verbauen wollen sie ihn. Hohe Häuser, Mietskasernen. Und wir mitten drin und ohne Hof. Da ist unser Schulhaus auch geliefert. Und das alte Frundsberggymnasium muß hinaus vor die Stadt, wissen Sie, aus der Frundsbergstraße in die Pariserstraße oder so was . . .«

Er war aufgesprungen und hatte bei der ›Pariserstraße‹ zweimal kräftig auf den Tisch geschlagen. Dann aber besann er sich.

»Entschuldigen Sie, mein Herr, daß ich mich vergesse. Sie sind ein Fremder, und was kann Ihnen schließlich an unserm alten Schulhof – an unserm alten Schulhof . . .«

Des fremden Mannes Augen glänzten.

»Aber sehen Sie,« fuhr der Rektor wieder fort, »sehen Sie, ich bin ein alter Mann, und 20 das Haus da und der Schulhof, die sind mir beide ein wenig an das Herz gewachsen. Und ich weiß auch, daß die Jungens – daß die Jungens –. Nun, wenn sogar der Wackernagel, der Wackernagel Fritz aus – was sagten Sie?«

Der Fremde war auch aufgestanden und an das Fenster getreten. Das ging auch auf den Schulhof hinaus. Gelb sah der Kies herauf und wintergrün der Rasen, weiß der Schnee am Rand des Wassers, und der Bach erglänzte . . .

»Herr Rektor,« sagte er, und seine Stimme schwankte ein wenig, »Herr Rektor, seien Sie nicht böse – ich habe die Hofgrundstücke da drunten selber gekauft – aber bauen will ich nicht darauf, wissen Sie – sondern hier habe ich einen Pachtvertrag – einen neuen Pachtvertrag auf zwanzig Jahre – er ist nicht schlechter und nicht besser als der alte – unterschrieben ist er auch schon – von mir, vom Schulrat – nur Ihre Unterschrift fehlt noch, Herr Rektor . . .«

Der Rektor hatte in freudigem Schrecken seine goldene Brille abgenommen und war dem Fremden dicht vor die Augen getreten, dem Fremden, der das alte Schulmännlein um Haupteslänge überragte.

»Entschuldigen Sie – Sie haben mir ja Ihren Namen nicht genannt – ich weiß ja gar nicht – wirklich, ich weiß ja gar nicht –«

Seine zittrigen alten Hände hatte der Rektor halb erhoben. So, wie er's immer machte, wenn er einem Jungen die väterliche Meinung auseinandersetzte.

»Nochmals, seien Sie nicht böse, Herr Rektor, – ich bin der Wackernagel selber.«

22 Da sagte der Rektor gar nichts mehr. Sondern kritzelte seinen Namen unter das Schriftstück, das der alte Schüler auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Und während er mit der rechten Hand unterschrieb, griff die Linke nach der Notenliste des Wackernagel Fritz aus dem Jahre achtzehnhundertdreiundneunzig. Und dieweil dann der Fremde den unterschriebenen Vertrag faltete und in seine Brusttasche schob, hatte der Rektor an den Rand der Notenliste noch einen Vermerk gesetzt, mit tiefgebücktem Kopfe, langsam und deutlich schreibend:

Weihnachten 1911: Wir haben uns in dem Schüler doch geirrt. Nicht ›Kaum genügend‹, sondern ›genügend‹.

»Wissen Sie,« sagte er lächelnd während des Schreibens und ohne aufzusehen, »wissen Sie: mehr als eine halbe Note Verbesserung erlaubt die Satzung unserer hohen Schulbehörde nicht.«

Aber als er aufsah, sah er nur noch, wie sich die Türklinke von draußen bewegte – Fritz Wackernagel hatte sich davongeschlichen. 23

 


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