Fritz Müller-Partenkirchen
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Das eiserne Gedächtnis

Als er ein Knabe war, spielte er mit andern auf der Straße. Am liebsten tollte er den langen Zaun entlang, hinter dem die Eisenwerke lagen. Es ging nicht immer friedlich zu. Räuber und Gendarmen spielten sie. Das waren wilde Jagden. Am tollsten aber ging es zu, wenn die Losung ›Deutsche und Franzosen‹ war.

Da stürzten sich die jungen Heere aufeinander, als gälte es Tod und Leben. Im Nahkampf wirbelten die Fäuste und Füße. Man zeigte sich mit Stolz die blauen Male auf den Heldenhäuten.

Immer siegten Deutsche über die Franzosen. Das war recht natürlich. Denn man stellte stets die Schwächeren auf der andern Seite ein. Einmal aber ging's verkehrt. Da tat der kleine Doppler Emil auf der andern Seite mit, der neue Schüler, den man noch nicht kannte. Und der entwickelte strategische Talente mit einem Löwenmute, daß die Wage nach der andern Seite ausschlug: Die Deutschen mußten fliehen. Welche Schande!

Sie rannten regellos den langen Zaun entlang. Und immer dichter kam der Feind auf ihre Fersen. Da raffte er, der Riesenhofer August, im blinden Zorne einen Eisenstein vom Boden, der von den Erzvorräten seines Vaters an den Zaun gekollert war. Den schmiß er in die Reihen der Verfolger.

70 Niemand sah es in dem Durcheinander, wer den Eisenstein geworfen hatte. Der flog dem Doppler Emil auf die Stirne, prallte ab und sprang im Bogen wieder übern Zaun aufs Eisenlager. An seinem Rande war Blut.

Was folgte war nicht lustig. Der Doppler Emil brach zusammen. Man trug ihn heim. Gehirnentzündung, wochenlanges Krankenlager, und am Ende noch Verlust der Sehkraft eines Auges.

In der Schule, bei den Eltern gab es eine lange Untersuchung. Ohne Ergebnis natürlich. Denn der Riesenhofer August schwieg.

Dann flossen Jahre darüber hin. Schwächer wurde das Gedächtnis an den unheilvollen Wurf. Schließlich wischte es der Werfer selbst aus seinem Kopfe. Er sprach sich frei und hatte es vergessen.

So der Mensch. Nicht so der Stein von Eisen.

Den faßten Eisengreifer auf dem Lager, wo er hingefallen war, und warfen ihn auf einen Wagen. Der Wagen ward elektrisch über eine schiefe Bahn gezogen und kippte auf der Höhe seine Last in ein dunkles Maul. Das war die Gicht eines Hochofens. Da kollerte der Eisenstein auf silbergrauen Koks, der glühend wurde von den heißen Winden, die vom Ofen unten in die Höhe strichen.

Der kleine Blutfleck zischte auf und sott sich in den Eisenstein hinein. Unauslöschlich, unausrottbar.

Jetzt war die Lohe stärker. Der Eisenstein erweichte. In einer dicken Träne rann er durch den Ofen und tropfte durch die Schlacke in das untere Becken.

71 Da floß er an das Stichloch, ward abgelassen und rieselte mit Funkensprühen durch den Sand zur Pfanne. Die führte ihn ins Stahlwerk. In einer Riesenbirne ward er dort zu Stahl geblasen, war ein Stück von einem Block in weißer Glut, erkaltete zur Rotglut, knirschte unterm Walzwerk und verließ als Stückchen einer Stange die Fabrik.

Nur um in eine andere zu wandern. Da ging er nochmals durch die Hitze, durch Pressen und durch Stanzen und durch hundert Hände. Und am Ende ward es eine saubere, spitze, kleine Feder.

Die lag im Federkasten bei dem Händler vor der Schule. Die sah den Riesenhofer August eines Tags durch die Türe kommen und hörte, daß er Federn kaufen wollte. Da blitzte sie ihn an, so daß er unwillkürlich nach ihr griff und sie erstand.

»Wissen Sie,« sagte der Riesenhofer August zu dem Händler, »ich will mein Examen morgen damit schreiben.«

»Ei, da wünsche ich Glück, Herr Riesenhofer,« sagte der Händler und unterstrich das Herr.

»Danke,« sagte der Riesenhofer August lächelnd, denn er hatte ein gutes Gewissen.

Ein gut Gewissen? War da nicht ein dunkler Punkt . . .?

Ach was, ein gut Gewissen zum Examen. Denn er war der Erste in den Klassen stets gewesen.

»So,« sagte der Rektor am andern Tage und teilte die Prüfungsblätter für den deutschen Aufsatz aus, »das Thema heißt: ›Unauslöschlich sind des Menschen Taten‹. Ihr habt vier Stunden. Nehmt euch zusammen. Der deutsche Aufsatz zählt am meisten.«

72 Die Federn der Gymnasiasten setzten sich langsam in Bewegung auf den weißen Blättern.

›Unauslöschlich sind des Menschen Taten‹, ei, das ist ein schönes Thema, dachte der Riesenhofer August und begann zu schreiben. Er machte einen Schwung zu einem U.

Aber sonderbar – es ward ein D daraus; n schrieb er, und es war ein o. Mit Erstaunen sah er, wie da plötzlich Doppler Emil auf dem weißen Bogen stand. Die Feder hatte es geschrieben. Es war ihm sonderbar zumute.

»Herr Professor, einen neuen Bogen, bitte,« sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig.

Wieder setzte er die Feder an, und wieder stand ganz deutlich Doppler Emil auf dem Bogen. Mit zusammengebissenen Zähnen schrieb er weiter.

Doppler Emil – Doppler Emil – Doppler Emil – . . . bedeckte sich die Seite, unermüdlich, unerbittlich.

Dem Primus brach der Schweiß aus. Jetzt stockte seine Feder. Hängen blieb sie an einer losen Faser am Papier, bog sich und – schnellte weiter – Doppler Emil.

Und mit dem Schnellen seiner Feder schnellten auch die Gedanken des Riesenhofer August um Jahre rückwärts zu einem langen Zaun, zu einem wilden Knabenspiel, zu einem bösen Steinwurf, zu einem böseren Verschweigen . . .

»Ich bitte um die Erlaubnis, Herr Professor, einen Augenblick zum Rektor gehen zu dürfen,« sagte der Primus.

Erstaunt sah ihn der aufsichtsführende Professor an.

»Sie sind ganz weiß, fehlt Ihnen was?«

73 »Ich muß dem Rektor etwas sagen, Herr Professor.«

»Dann machen Sie geschwind, Riesenhofer, die Zeit ist kostbar.«

Ein Gymnasiast stürmte über die Treppen und den Gang ins Rektorzimmer.

»Herr Rektor,« quoll es aus bedrängter Brust, »Herr Rektor, ich habe zu bekennen, daß ich vor fünf Jahren den Stein geworfen habe, wovon der Doppler Emil blind auf einem Auge wurde. Ich bitte, es bekannt zu geben. Meinem Vater will ich es bekennen. Ich will ihn herzlich bitten, für den Doppler Emil auch zu sorgen, der sich hart tun soll in einer Lehre. Und ich bitte auch um meine Strafe, Herr Rektor.«

Der Rektor runzelte die Stirne und besann sich.

»Geh zurück an deinen Aufsatz,« sagte er langsam, »nach der Prüfung wird sich alles finden.«

Wieder stürmte ein Gymnasiast über die Treppen und die Gänge. Diesmal mit einer freien Brust.

Wieder saß der Riesenhofer August in dem Prüfungssaal auf seiner Bank vor einem neuen Bogen und setzte seine Feder an zum Schreiben. Ein freier Schwung – da stand das U, da stand das n, da stand das a . . .

›Unauslöschlich sind des Menschen Taten‹, leuchtete schwarz vom Papier.

Und dann schrieb der Riesenhofer August einen Aufsatz, der durchglüht war vom erstrittenen Mute. Es war sein bester Aufsatz. Und als er fertig war damit, wischte er die Feder wieder glänzend.

Und diese Feder hat der Riesenhofer August heute noch. 74

 


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