Fritz Müller-Partenkirchen
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Maurer

So leicht vergesse ich die erste Mathematikstunde nicht. Der Professor kam hereingeschossen wie zu einem Sturmangriff. Aus einem verknitterten Gesicht sah ein böses Auge: »Ich weiß es,« schrillte er, »Mathematik liebt man nicht. Ich seh's euch an, am liebsten tilgtet ihr sie aus dem Stundenplan. Weil sie unbequem ist. Weil sie alle andern Fächer überragt. Was ist Deutscher Aufsatz? – Phrasendrescherei. Was ist Geschichte? – Kaleidoskop für Kinder. Was ist Geographie? – Flüsse, welche heute so und morgen anders laufen.

Bestand allein hat meine Wissenschaft! Was sind Lehrer andrer Fächer? Maurer, bestenfalls Poliere. Der Mathematiker allein ist Architekt. In das Herz der Dinge sieht er, unerbittlich ist er – der erste in der ersten Bank: begreifst du das?«

»Nein,« sagte der Hausmann.

»Hab' ich mir gedacht,« höhnte der Schrillende, »der zweite in der dritten Bank: verstehst es du?«

»Ja,« sagte der Schwegerl.

Der Schrille wurde milder: »Doch einer. Kinder, haltet fest: Wenn ihr heute vor den Richterstuhl des Höchsten trätet und er fragte euch: 208 ›Was ist gewiß?‹ – was gäbst du ihm zur Antwort, Hausmann?«

»N–nichts,« sagte Hausmann.

»Hab' ich mir gedacht. Und was gäbst du zur Antwort, Schwegerl?«

»Die Mathematik.«

»Schön – nun wollen wir ins Reich der Zahl eintreten, wo die Logik herrscht und jeder Irrtum ausgeschlossen ist. Alles lügt, nur wer lügt nicht, Hausmann?«

»I–ich.«

»Unsinn!«

»Sie.«

»Blödsinn! – Schwegerl, wer lügt nicht?«

»Die Zahl.«

»Gut, Schwegerl, lies die Regeldetriaufgabe auf Seite dreizehn.«

»300 Maurer bauen einen Palast in 270 Tagen bei neunstündiger Arbeitszeit. Wieviel Maurer bauen den gleichen Palast in 30 Tagen bei zehnstündiger Arbeitszeit?«

»Hausmann, weißt du, wie man das herausbringt?«

»Man – man probiert's.«

»Was probiert man?«

»Das Bauen.«

»Rettungslos! – Schwegerl, an die Tafel, zeig's ihm.«

Der Schwegerl zeigte es ihm an der Tafel mit hageldichten Kreideziffern: 2430 Maurer.

»Siehst du, Hausmann, so was braucht man nicht probieren, so was macht man aus dem Handgelenk und haargenau mit Zahlen, die –«

»– nicht lügen,« ergänzte Hausmann 210 gehorsam, aber mit einem heimlichen Zwinkern in den Augen. »Darf ich noch was fragen, Herr Professor?«

»Frage!«

»Muß das Resultat bei allen eingesetzten Zahlen stimmen?«

»Wie oft muß ich dir noch sagen: Zahlen irren nicht!«

»Und wenn man den Palast in – in 1 Tage bauen wollte, Herr Professor?«

»So braucht man eben so viel Leute mehr. Einmal wirst du's doch begreifen – an die Tafel!«

Hausmann ging an die Tafel, rechnete und verkündete: »In 1 Tage wird der Palast gebaut von zweiundsiebzigtausendneunhundert Maurern.«

»Stimmt,« sagte Schwegerl.

»Hm,« sagte der Professor.

»Und in einer Stunde, Herr Professor, nein, in einer halben?«

Schwegerls Kreide hagelte: »Eine Million vierhundertachtundfünfzigtausend Maurer!« verkündete er.

»Darf ich noch was fragen, Herr Professor?« sagte der Hausmann scheinheilig.

»Wir kommen jetzt zu andren Dingen,« sagte der Professor eilig.

»Ob ich noch was fragen darf?« beharrte der Hausmann.

»Die ewige Fragerei! – was noch?«

»In der Geschichte haben wir gehabt, daß an einer ägyptischen Pyramide oft viele Königsgeschlechter gebaut haben.«

»Na, und?«

211 »Wenn an unsrem Palast 450 Jahre gebaut worden wäre, kann man da auch die Maureranzahl –?«

»Natürlich kann man – wir kommen jetzt zur Kettenrechnung, Kinder –«

»Können wir nicht vorher die 450 Jahre –?«

»Ich hab's!« schrie der Schwegerl, der's schon vorgerechnet hatte, »der Palast würde in 450 Jahren von – von –« Er stockte.

Hausmann sah ihm ins Heft und ergänzte ehern: »– von Null Komma fünf Maurern gebaut werden.«

Der Professor wurde nervös. Gut, daß es läutete.

Was der Hausmann und der Schwegerl in der Pause miteinander verhandelten, ist eine Geschichte für sich. Nur meinen Traum in dieser Nacht muß ich noch erzählen.

An einem Palast sah ich eine Million viermalhundertachtundfünfzigtausend Maurer bauen. Sie wuhrlten durcheinander, untereinander, übereinander. Sie traten einander auf die Hühneraugen. Sie schrien und schwangen ihre Mörtelkellen. Ein furchtbarer Kampf drohte auszubrechen. Da erschien auf einmal ein einziger Maurer, nein, ein halber Maurer. Einer mit der oberen Hälfte, sonst hätte er nicht seine Stimme erheben können: »Friede sei mit euch. Ich komme euch zu künden, daß der Pharao seinen Sinn geändert hat. Ihr seid entlassen. Ich allein werde den Bau ausführen.«

»Wie!« brüllten die anderthalb Millionen Maurer, »du – du allein?«

212 »Ja, ich kann in der mir bewilligten Bauzeit dasselbe leisten, wie ihr alle zusammen.«

»Er ist verrückt – total verrückt!« rollte es durch die anderthalb Millionen.

»Ich bin nicht verrückt,« sagte gemessen der halbe Maurer, »ein Mann aus dem Westen ist zum Pharao gekommen und hat es ihm berechnet.«

»Wo – wo ist die Rechnung?« rief es durcheinander.

Da hob der halbe Maurer ein Blatt Papier in die Höhe. Ich konnte es im Traume deutlich sehen. Unsre letzte Regeldetriaufgabe stand darauf. Und unterschrieben war sie mit: Theobald Kienzelmann, Professor und Obermaurer am Ludwigsgymnasium in München.

Da ergriff die anderthalb Millionen Maurer ein fürchterlicher Zorn und sie erhoben sich und –

Gut, daß die Mutter mich gerade weckte. 213

 


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