Fritz Müller-Partenkirchen
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Kaiser Heinrich IV. aber dachte . . .

Ich habe meinen Neffen, den Studenten, besucht. Wir bummelten friedlich in der Stadt herum. Da kam er auf die sonderbare Idee, mich in eine Vorlesung mitzunehmen.

Neffen nehmen sonst ihren Onkel nicht in Vorlesungen mit. Sie schlagen das Theater vor oder eine Galerie oder das Hofbräuhaus. Auf die Universität aber kommen sie nicht, obgleich es das nächstliegende wäre. Nun, mein Neffe kam darauf und sagte:

»Du, Onkel, in einer Viertelstunde liest der berühmte Soundso, willst du mit?«

»Darf ich denn?«

»Ach, weißt du, wir setzen uns in die letzte Bank.«

»Worüber liest er denn?«

»Über Kaiser Heinrich IV.«

Meine eigene Schulzeit kam mir in den Sinn. Canossa stieg auf. Ein ungewöhnlicher Mensch, der deutscher Kaiser war, wanderte über die Alpen durch den Schnee und stand büßend, bettelnd im Vorhof von Canossa, wo der Papst ihn einen halben Tag lang warten ließ, bevor er ihn empfing . . .

»Ja,« sagte ich, »ich gehe mit.«

Und dann saßen wir in dem großen Hörsaal auf der letzten Bank, ich und mein Neffe. 102 Blutjunge Studentengesichter fuhren alle Augenblicke nach mir herum und staunten: »Was will denn dieser alter Knabe mit dem Vollbart im Kolleg?«

Jedoch ich war kein bißchen verlegen, sah den jungen Leuten fest ins Angesicht und staunte: »Was wollen diese jungen Menschen hier? Niemals können sie diese Vorlesung über eines der abgründigsten Kapitel der Weltgeschichte ganz erfassen.«

Dann aber kam der berühmte Professor, schnitt unser gegenseitiges Erstaunen ab und lenkte es mit einem wundervollen Vortrag auf die verdüsterte Gestalt des vierten Heinrichs. Ein gewaltiges Gemälde rollte auf. Kaisertum und Papsttum führten einen Riesenkampf dort vorn am Katheder. Heere zogen und Schwerter blitzten. Aus Trümmern brennender Städte stieg Rauch. Fanatisch läutete die Kirche ihre Aufruhrsglocken. Und das kaiserliche Schwert hieb sich am Glockenerz die Scharte . . . ein Gebrochener stand im Schloßhof von Canossa und bettelte um Einlaß und Vergebung. Alle Fäden dieses alten Trauerspieles zog der Mann auf dem Katheder aus der Tiefe der Vergangenheit und webte aus ihnen einen Teppich von Brokat. Man sah, wie die Fäden sich zu dem düsteren Muster fügten, das »der vierte Heinrich« heißt. Alle Ränke jener Zeit lagen bloß, und über Alpenkämme sah man ganze Völker wütend sich in die Flanken fahren.

Wir saßen stumm auf unsern Bänken und spürten, wie der Flügelschlag des Mittelalters an uns vorüberrauschte. Mein Neffe sah mir in die Augen:

»Welch ein Mann!« flüsterte er.

103 »Welch ein Mann!« gab ich zurück.

Mein Neffe meinte den Professor und ich den vierten Heinrich.

Und nun zündete der Mann da droben eine neue Fackel an und warf sie in die Seele jenes Kaisers Heinrich. Ein zerrissenes Menschenherz ward sichtbar, in dem schon vorher alle Schlachten ausgefochten wurden, die der Kaiser nachher auf den Feldern schlagen mußte.

Wir saßen atemlos.

Jetzt unternahm es der Professor, die entscheidenden Wurzeln in der Seele seines Helden aufzuzeigen.

». . . Kaiser Heinrich der Vierte aber dachte –,« sagte er – da schlug ihm das schrille Gebimmel der Glocke draußen das Wort aus Hand und Mund. Jäh schloß er mitten in dem Satze und ging. Was Heinrich der Vierte dachte, erfuhren wir nicht.

Still gingen wir aus dem Kolleg. Still gingen wir eine lange Straße hinauf, mein Neffe und ich.

». . . Heinrich der Vierte aber dachte –« klang es nach in uns, »Heinrich der Vierte aber dachte . . .«

Und meine Gedanken liefen weite, weite Wege . . .

»Was glaubst du wohl, Onkel,« unterbrach mein Neffe da mein Denken, »was glaubst du wohl, was Kaiser Heinrich damals dachte?«

»Ich weiß es nicht,« sagte ich fest.

»Der Professor würde –«

»Der Professor weiß es auch nicht,« fuhr es mir heraus.

»Aber Onkel,« sagte mein Neffe betroffen, »du 104 willst doch den Professor nicht erniedrigen. Ich sah doch – du selber warst ganz hingerissen von dem Vortrag.«

»War ich auch, so gut wie du.«

»Dann verstehe ich dich nicht.«

»Der Mann, den der Professor auf dem Katheder meißelte, war nicht der vierte Heinrich.«

»Sondern?« fragte verwundert mein Neffe.

»War er selber, der Professor.«

»Also eine Fälschung, meinst du?«

»Nein, keine Fälschung. Der vierte Heinrich von vorhin war lebendig, wie lebendig –! Aber in ihm pulste nicht Heinrichs Blut, sondern das Blut dieses großen Gelehrten.«

»Du meinst also, es könnte niemand die Geschichte auslegen, ohne –«

»Ohne sich selber mit hineinzulegen, ja, das meine ich.«

»Und was diese Gelehrten in lebenslangen Studien mühevoll errungen haben?«

»Ist im Grunde nur der Herren eigener Geist, der sich im Geiste der Zeiten widerspiegelt.«

»Du hältst es also für unmöglich, die Gedanken eines verstorbenen Herrschers aus den Quellen wieder aufzubauen, Stück für Stück?«

»Lieber Neffe, wir haben vier oder fünf großartige Geschichtswerke über den Untergang des Römerreiches und seine Ursachen. Ein jedes ward von den Zeitgenossen umjubelt. »Hier ist die Wahrheit!« hieß es. Und ein jedes widerlegte nur das andere. Und ein jedes war das Abbild des Verfassers. So viele sich auch befassen mit dem Untergang des Römerreiches, so viele Untergänge gibt es.«

105 »Hm, es ist wahr: was wissen wir von den Gedanken selbst der nächsten Menschen, die mit uns leben?«

»Nichts. Sogar unsre eigenen Gedanken, die wir gestern dachten, sehn uns heute fremd in das Gesicht.«

»Und somit bliebe nichts –?«

»Nichts, was wir wirklich wissen, es sei denn unser eigener Gedanke, wenn er seinen Kopf hebt.«

»Nur wenn er seinen Kopf hebt?«

»Ja, denn wenn er ausgesprochen ist, dann ist er schon nicht mehr unser, schon eine Stunde später kann er unser Feind sein.«

»Also nicht mehr: ›Kaiser Heinrich der Vierte aber dachte –?‹«

»Nein, sondern: ich denke . . .!« 106

 


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