Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
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Die Oberprima

Die Kaisergeburtstagsfeier in dem alten Gymnasium war in diesem Jahre kurz. Der weißhaarige Rektor stand oben in der Aula und überschaute die Versammlung einmal, zweimal. –

Das erstemal blieben seine Augen an ein paar leeren Stühlen hängen. Die standen in den Reihen, wo die Lehrer saßen.

Das zweitemal aber konnte er den Blick kaum losreißen von einem rechteckigen leeren Fleck, rechts hinten im Saale. Links von diesem leeren Rechteck wimmelten die Köpfe der Obersekunda. Vor dem stummen Rechteck reihte sich die Obertertia. Und rechts stand steif und still die Unterprima. Es war klar: Der leere Fleck, das war die Oberprima. Nein, nicht die Oberprima, nur ihr angestammter Platz bei den Versammlungen in der Aula. Die Oberprima selber fehlte. Es schien, als feierten ihre zwanzig jungen Köpfe Kaisers Geburtstag extra irgendwo.

Die weißen Haarsträhnen des Rektors zitterten leicht. Das war immer so, wenn er den Mund zu einer Rede auftat.

Fast widerstrebte es ihm, sagte der Rektor, jetzt zu reden. Reden sei heute nichts, Tun alles. An diesem Tage stille durchzuarbeiten, wäre ihm heute das Liebste gewesen. Was wir jetzt mit unserm Volke fühlten, verlange nicht nach Worten. 153 Wenigstens nicht in dieser friedlichen Aula. Das Tatenwort, das hätten heute die Soldaten draußen. Sie selber, ihr altes Gymnasium, habe freilich heute ein paar besondere Lichtpunkte. Dort in den Lehrerreihen seien sie, die leeren Stühle, und weiter hinten der große lichte Fleck, auf den jetzt die Wintersonne spiele. »Freunde,« schloß der alte Rektor, »nie hat unser altes Gymnasium besinnlichere Lichtblicke gehabt. Auf die leeren Flecke schaut mit Ehrfurcht, Freunde. Die sonst da saßen, hat unsre alte Schule heute ausgeschickt, um den Kämpfern unsere Zuversicht zu überbringen. Diese leeren Flecke machen heute unsere Herzen voll. Schaut genau hin, Freunde: Über manchem dieser leeren Plätze hängt ein eisern Kreuz, könnt ihr's sehen? Und über ein paar andere Plätze ist – ich weiß es – eine Todeskugel hingefegt. Diese Plätze bleiben leer. Solange diese Schule steht, soll keiner sich darauf setzen. Das gelobe ich. Lange nach dem Kriege sollen sich die unbedeckten Augen dieser Plätze auftun, groß und hell für jeden Nachgeborenen: ›Hier saß einer unserer Schule, der für Volk und Reich gefallen ist . . .‹«

Damit schloß die Feier. Die Aula leerte sich. Alle gingen heim. Es war ein Feiertag.

An diesem Nachmittage klappte der alte Professor Breumann, wie immer um 2¾ Uhr, irgend ein wissenschaftliches Buch in seinem Junggesellenheime zu. Dann verglich er, auch wie immer, seine Taschenuhr mit der Wanduhr, nickte, ging an den Wandschrank, holte fast mit einem blinden Griffe ein Buch heraus, steckte es in die Tasche, schlüpfte gemächlich in den Mantel, setzte 154 sich den weichen, breitrandigen Hut auf und stieg gedankenvoll die Treppe hinab.

Als er über den alten Wall kam, fiel der leichte Winterschatten des Bismarckdenkmals über seinen Weg. Er schaute auf. Der eiserne Recke da droben stand wie immer unbewegt und schwer. Aber heute schien er ein wenig zu lächeln. Warum lächelte er auf ihn, den alten Professor für Griechisch, herab? Da war doch nichts Komisches dabei, daß er jetzt in seine Schule ging?

»Guten Tag, Herr Professor.« Jemand hatte ihn gegrüßt und war rasch vorbei gegangen. War das nicht – war das nicht der Notar Möser, dessen Sohn sein Schüler in der Oberprima war? Ja ja, das war er. Schade, daß er gar so schnell vorbeiging. Eigentlich hätte er ihm sagen können, daß sein Sohn, was Griechisch anbetraf, ein wenig nachgelassen hatte in letzter Zeit. –

Der Professor ging versunken durch das alte Tor des Gymnasiums, dann den langen Korridor entlang. Ganz mechanisch bog er jetzt in ein Klassenzimmer ein: »Oberprima« stand darüber. Die Tür stand offen. Nach seiner Gewohnheit schritt er mit gesenktem Kopf einige Schritte gegen das Katheder.

So –! Nun würde er die Hefte im Klassenzimmer korrigieren, wie er das gewohnt war. Na, und hier in der Oberprima war er ja ganz ungestört. Die war ja leer. –

Und mit einem Male stand ihm wieder alles klar in seinem zerstreuten Gedächtnis: Wie erst einer gefehlt hatte – dann zwei – dann drei, wie die Notprüfung stattfand, Schlag auf Schlag – und wie dann eines Tages der Rektor sagte: »Die Oberprima, unsre ganze Oberprima ist 155 im Feld – Herr Kollege, geben Sie mir das Klassenbuch, damit ich es vermerke« – wie dann unter einem dicken Strich im Klassenbuch stand: »Oberprima im Feld. Framm, Rektor.« –

Und während er ins leere Klassenzimmer sah, machte er mechanisch die Schublade auf, wo die Stöße Hefte lagen; der Arm griff herunter, der Kopf sah in das feine Staubgeflimmer der Wintersonnenstrahlen.

Wie das wogte und spielte und durcheinanderquirlte! So seltsam ward dem alten Herrn zumute. Eine bleierne Müdigkeit tastete aus der Schublade mit den blauen Heften an ihm herauf. Noch versucht er so etwas wie seine alte Handbewegung zu tun – nach dem Homer in der Rocktasche – aber schon sank der greise Kopf vornüber – – in seiner leeren Oberprima, an dem Katheder war der alte Lehrer in Schlaf gesunken – – –.

Und dem Träumenden schien es mit einem Mal, als seien die leeren Bänke nicht mehr leer. Als füllten sie sich mit blassen Bildern, die deutlicher wurden, immer deutlicher. Und jetzt saßen sie wieder drin, die Oberprimaner. Feldgrau waren sie angezogen, und ihre hellen Augen sahen aufs Katheder, auf ihn, den alten Professor. Der wurde ängstlich. Was wollen sie von mir, dachte er. »Ich – ich weiß nicht, was Sie wollen – Möser, fahren Sie fort – Vierter Gesang der Iliade, Zeile –.«

»Verzeihen Sie, Herr Professor – ich bin nicht vorbereitet – ich hatte keine Zeit – ich habe heute die ganze Nacht im Schützengraben liegen müssen und –.«

Dieser Krieg, dieser Krieg! Er konnte ihn 156 nicht fassen. Vielleicht war er zu alt geworden. Er hatte versucht, mit seinem Homer darüber wegzukommen. Aber es ging nicht – dieser Krieg wuchs und wuchs, dieser Krieg schwoll herauf und schlug über die Ränder seines Homer, dieser Krieg war größer als die Iliade, größer als die Odyssee, dieser Krieg warf Heldentaten auf, gegen die Leonidas verblaßte, Achilles klein ward und die alten Griechengötter schrumpften. Sicher waren die griechischen Heldentaten ein unsterbliches Lied; aber was da von den Feldern Frankreichs und Rußlands an Taten und Berichten erst stoßweise, dann wie ein Choral herüberbrauste, das war mehr, das war viel mehr und der arme alte Professor hatte zuerst das Gefühl, als wände ihm einer den geliebten Homer aus der Hand – mit seinem Büchlein stemmte er sich gegen die neuen Fluten der Erkenntnis. –

»Im Schützengraben? Die ganze Nacht? Ja dann allerdings! – Schröder, springen Sie ein!« –

»Entschuldigen Herr Professor, aber ich habe heute den Sturm auf Dixmuiden mitgemacht – ich bin noch ein wenig heiser.« –

»Dann der Primus denn – Primus, Sie werden mich doch nicht im Stiche lassen. – Sie werden doch Ihren alten Professor und seinen Homer nicht im Stiche lassen?«

Da erhob sich lang und hager der Primus: »Herr Professor, geben Sie uns frei – wir müssen schießen, schießen, schießen.« –

»Schon gut, schon gut – ich weiß es – aber darüber sollen Sie doch nicht Ihren Homer vergessen und –«

»Nein, Herr Professor, wir haben ihn nicht 158 vergessen – wir haben nicht vergessen, wie Sie uns die alten Heldentaten vom Katheder lebendig machten – wir haben ihn im Herzen auf das Schlachtfeld mitgenommen – wir »übersetzen« ihn mit Bajonetten und mit Kolben – wir tun noch mehr als übersetzen, Herr Professor – wir wollen einen neuen Homer schreiben, einen deutschen Homer, Herr Professor!« –

Und dann war es, daß der Primus plötzlich stockte: daß er ans Herz griff; daß er den Kopf hintenüber in den Nacken warf, – daß sein Bild undeutlich wurde, blaß und immer blasser, bis eine Lücke aus ihm wurde, – –eine Lücke unter seinen Kameraden. – – –

Aufgesprungen waren sie in der Schulbank. Grau strömte es hinaus, grau und grüßend marschierte es stramm vorbei am Katheder, die Hand an der Schläfe:

»Leben Sie wohl, Herr Professor! und wenn wir ihn geschrieben haben, bringen wir ihn mit, den neuen Homer, den deutschen Homer. – Leben Sie wohl, Herr Professor! –

Deutschland, Deutschland über alles . . .!«

Damals war es, daß in der leeren Oberprima Professor Breumann aus tiefem Schlafe plötzlich aufsprang und – wie der Schulwart erzählte – laut aufschrie:

»Nehmt mich mit, Kinder, – – mitschreiben will ich – mitschreiben – – –!«

Und als der Schulwart ins Klassenzimmer kam, saß ein alter Mann auf dem Katheder, allein – einsam – tief gebeugt den lichten Scheitel – und weinte still hinein in seinen Homer. – – – – 159

 


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