Fritz Müller-Partenkirchen
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Fritz Müller-Partenkirchen

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Ihr Heizer

Meine Tochter ist auf den Namen Alwine getauft. Aber gerufen wird sie Bimbi, Bimber, Bimberle, Bimberer, wie's einem gerade einfällt. Der Name Alwine ist im Taufregister festgenagelt. Der verändert sich nicht. Der wartet auf sie. Dessen Zeit wird kommen, wenn ihr Kindskopf aus dem Bachgeplätscher der Kosenamenzeit hinausgetragen wird ins Meer und die erste große Welle hohl und mähnezottelnd auf sie zugerauscht kommt: »Alwine! . . .«

Heute ist sie aber noch die Bimbi, der Bimber und das Bimberle. Alle drei Geschlechter schlummern noch ungeweckt in den großen Frageaugen. »Bimbi« ist kein Weckruf, kein bewußter. Bimbi ist ein Naturlaut, der sich unbewußt aus einem Glockenläuten durch das offene Fenster und einem mütterlichen Flüstern formte, während eine Fliege auf dem Fensteroberlicht ihre Vorderbeine aneinanderrieb und mit dem Kopfe dazu nickte.

Wortwissenschaftler werden damit, ich weiß es, nicht zufrieden sein. Es fehle die vierfache Wurzel vom zureichenden philologischen Grunde, werden sie sagen. Das wird wohl so sein. Aber was hat die Tiefe, aus der Kinderkosenamen lächelnd und voll süßverschwiegener Weisheit steigen, mit philologischem Wissen und Forschen zu schaffen?

Als der Krieg ausbrach, ging die Bimbi in die 134 unterste Volksschulklasse. Dahin dringen vom Krieg nur flatternde Fahnen, helle Kindergesänge und das Wehen einer Pfirsichblüte, die der Luftdruck einer nahen Kugel sachte vom Geäst streifte.

Bimbi hatte niemand, der im Krieg war: ihr Vater nicht, kein Onkel und kein Bruder. Das hat sie betrübt. Denn alle anderen Kinder ihrer Klasse hatten jemand im Krieg, den Vater, den Bruder, den Onkel oder sonst einen Verwandten. Sie kam sich verwaist vor.

Niemand im Krieg haben, war das nicht wie eine Schande? Sogar die Attendorner Marie hatte jemand im Krieg. Und die Attendorner Marie war doch die Dümmste in der Klasse, während die Bimbi die erste war, jawohl, die erste in der Klasse. War das nun etwa eine Gerechtigkeit? Wofür lernte man denn eigentlich und plagte sich mit Lesefibel, Rechenbuch und Schiefertafel, wenn man nicht mal wie die Attendorner Marie sagen durfte: »Ja, und mein Bruder Max hat uns von Arras g'schrieb'n . . . Ja, und mein Vater schreibt, wie sie in Lemberg einzog'n sind . . . Ja, und mein Onkel Xaver sagt, des wär a Gaudi g'wes'n, wie s' in Warschau eing'rückt sind . . .«

Ja, es war wirklich so, die Attendorner Marie hatte die meisten Leute im Kriege, in der ganzen Klasse. Bimbi fand das entsetzlich ungerecht. Nur ganz von ferne dämmerte ihr der Verdacht einer Weltordnung, wonach eben diejenigen, die sich am erfolglosesten in der Schule plagten, die meisten Leute im Krieg haben dürften. Etwa aus einer Art moralischem Ausgleich. Aber sie vermied es, sich selbst darüber ganz klar zu werden. Und sie hatte nur die eine Angst, es könnte in 135 der Klasse offenbar werden, daß sie, die Bimbi, die Klassenerste, nicht eine einzige Seele auf dem weiten Erdenrund im Kriege habe.

Vorwurfsvoll sah sie den Vater an beim Mittagessen. »Nun, Bimbi, fehlt dir was?« fragte ich.

»Vater, warum bist du nicht im Krieg?«

Erschreckt fiel meine Gabel auf den Teller: »Ei, Bimbi,« sagte ich betroffen, »sie haben mich nicht genommen.«

»Und warum ist der Hans denn nicht im Krieg?«

Der zwölfjährige Hans starrte sie fassungslos an. »Mich haben sie auch nicht genommen,« stotterte er endlich.

»Und der Onkel Martin, warum ist der nicht im Kriege?« fragte die Bimbi zähe weiter.

»Aber, Bimbi, der Onkel Martin ist doch schon zwei Jahre tot.«

Die Bimbi war trostlos, wir sahen es ihr an. Sie hätte heulen mögen, wir sahen es ihr an. Aber sie heulte nicht, sondern ging umher und suchte sich einen, der im Kriege war, suchte und suchte, und fand den Heizer ihrer Schule.

Irgendwo mußte sie herausgebracht haben, daß er keine Frau und keinen Bruder hatte, keine Schwester, keine Tante, die sich zu Hause um ihn sorgen, die ihm nach draußen etwas hätten schicken können. Heiß hämmerte an ihre kleine Schläfe die Erkenntnis: Ich hab' keinen draußen, er hat niemand drinnen, wir beide gehören zusammen, ich und der Heizer, der Heizer und ich.

Also setzte sie sich hin und leitete die Verbindung mit einer Feldpostkarte ein. Den 136 Truppenteil hatte sie beim Schreiber in der Kanzlei des Oberlehrers erfragt. »liber Heidser,« schrieb sie, »ich bin fro das wenigstens du von mir in krieg bist un bald schik ich dir was wirst schon sen deine treie bimbi.« Und die Aufschrift auf der Karte hatte gelautet: »an den Heidser von die kreizschul.« Den Namen ihres Heizers wußte sie nicht. Sie hielt ihn auch nicht für nötig. Er war ihr Heizer, das genügte. Ist es schließlich nicht viel mehr, wenn ich von einem Menschen weiß, daß er im Winter Tag für Tag die Klassenzimmer heizt, damit die vielen hundert Patschhändchen nicht blau werden vor Kälte, als wenn ich von diesem Menschen weiter nichts wüßte, als daß er Maier heißt?

Schließlich malte sie in den Vordruck die erfragten Ziffern des Armeekorps, der Division, des Regiments, des Bataillons, der Kompagnie.

Die Karte kam an. Der Soldat, der im Morgengrauen die Post zu der im Wald eingegrabenen Kompagnie brachte, las sie lachend vor: »An den heidser von die kreizschul – he, wo ist der heidser von die kreizschul, he?«

Ernst stand ein Soldat auf und nahm ihm die Karte schweigend aus der Hand. Es war seit Monaten die erste Karte, die an ihn kam. Denn, wie gesagt, der Heizer von der Kreuzschule hatte keine Menschenseele drinnen.

Als der Heizer von der Kreuzschule seine Karte las und wieder las, lächelte er nicht. Sondern er weinte. Ein Kamerad von ihm hat es uns später erzählt. »Ich glaubte, Ihr Töchterl müsse ihm was recht Trauriges geschrieben haben,« setzte er hinzu. Und weiter hat er uns 137 erzählt, daß Bimbis Heizer damals tagelang im Schützengraben hätte liegen müssen. Neben seinem Gewehr im Anschlag hätte die Karte gelegen.

Ein paar Tage später kam auch ein braunes Schächtelchen an den »heidser von die kreizschul«. Darin sei ein zerpflegter und zerküßter Puppenkopf gelegen, ein Radiergummi und ein viereckiges buntes Stück Papier »Dem fleißigen Kinde«. Das Papier sei ein Hauchpapier gewesen, das heißt, es habe sich gekrümmt, wenn man es angehaucht hätte.

Und wieder ein paar Tage später habe den Heizer von der Kreuzschule eine Kugel getroffen, nachdem er selber den Russen an jenem Tage so eingeheizt hatte, daß ihrer sechs in die Ewigkeit gelaufen wären. Den Heizer von der Kreuzschule aber habe man mit dem zerküßten Puppenkopf in der einen Tasche und dem Radiergummi und dem Hauchpapier in der andern Tasche begraben. Nur die Feldpostkarte habe er, sein Kamerad, an sich genommen. Mit dieser sei er in seinen Erholungsurlaub gegangen und habe an der Kreuzschule unsere Wohnung erfragt.

So erzählte es der Soldatenkamerad vom Heizer. »Und wo ist nun die Bimbi?« setzte er hinzu. In diesem Augenblick kam sie ins Zimmer und wollte wieder rasch hinausgehen vor dem fremden Mann. Aber der nahm sie bei der Hand und setzte sie sich aufs Knie.

»Hör mal, Bimbi,« sagte er, »ich komme von deinem Heizer, und ich soll dir etwas von ihm erzählen, willst du?«

Und ob die Bimbi wollte! Mit großen Augen saß sie da, als sie von der Freude hörte, die 138 ihr Schächtelchen dem einsamen Mann da draußen gebracht hatte.

Der Soldat war mit der Erzählung fertig. Wir schwiegen alle. »Aber hat er mir nicht selbst geschrieben?« fragte sie endlich.

»Er hat es wollen, Bimbi, an dem Tage, wo – wo –« Fragend schaute mich der Soldat an. Ich nickte langsam.

»– an dem Tage,« fuhr er fort, »wo ihn die russische Kugel zu Tode getroffen hatte, Alwine.«

Alwine? Nicht mehr Bimbi? Die erste große Welle ihres Lebens kam hohl und mähnezottelnd auf sie zugerauscht. Dem Erzähler rutschte sie vom Knie herab. Mit seltsam großen Augen stand sie vor ihm, ein wenig vornübergebeugt den kleinen Körper, wie das vom Hauch getroffene Fleißpapier, das jetzt mit ihrem Heizer unter Rußlands Erde lag. 140

 


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