Fritz Müller-Partenkirchen
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Fritz Müller-Partenkirchen

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Geographie

Wenn ich an meine Geographiestunden in der Mittelschule zurückdenke, dann wird mir, ich weiß nicht, wie.

»Heute kommen wir zu den Städten am Rhein,« sagte der Geographieprofessor und strich sich seinen Bart, um das erste Gähnen zu verbergen. Dann kam eine Pause. Darauf fing er wieder an:

»Also zu den Städten am Rhein kommen wir heute.« Wieder eine Pause.

»Also, was der Rhein ist, das wissen wir ja schon – Welzel, was ist der Rhein?«

»Der Rhein ist Deutschlands schönster Strom,« schnurrte der Welzel herunter. Elegant umschiffte er die Klippe des Doppelzischlautes innerhalb Deutschlands schönstem Strom. Denn er hatte den Satz vorschriftsmäßig auswendig gelernt für heute.

»Gut,« sagte der Professor, »jetzt soll der Leschner noch die Länge wiederholen.«

Und der Leschner wiederholte die Länge von Deutschlands schönstem Strom:

»Der Rhein ist elfhundertzweiundsechzig Kilometer lang,« sagte der Leschner, wie aus der Pistole geschossen.

»Ist richtig – soo – und jetzt soll mir noch 31 der Hausmann – nein, der Hausmann war schon in der letzten Stunde dran – jetzt soll mir noch der – der Schwegerl etwas sagen –«

Schwegerl war mäßig interessiert. Schwegerl konnte mit den Ohren wackeln. Diese Ohren bewegte jetzt der Schwegerl in der Richtung nach dem Katheder und blinzelte dazu. Natürlich mußten wir lachen.

»Schwegerl, warum lachst du?« sagte der Professor.

»Ich habe nicht gelacht,« sagte der Schwegerl und legte seine Ohren wieder langsam nach rückwärts. Natürlich mußten wir jetzt noch mehr lachen.

Und dann gab es, ebenso natürlich, eine viertelstündige Untersuchung über das Gelächter. Und natürlich kam nichts dabei heraus, denn wir hielten fest zusammen. Aber etwas, dachte der Schwegerl bei der Untersuchung, kommt doch heraus dabei: Er wird seine Frage an mich vergessen. Und verstohlen wollte er sich setzen.

»Halt,« sagte der Professor, »halt, Schwegerl, du hast meine Frage noch nicht beantwortet – auf das Gelächter werde ich später noch zurückkommen. Also, Schwegerl, gib jetzt Antwort auf meine Frage.«

Schwegerl schwieg und bewegte leise seine Ohren, wie zwei Fühler. Und wir zwickten uns erfolgreich in den Oberschenkel, um das Lachen zu unterdrücken.

»Nun, wird's bald, Schwegerl?«

Schwegerl schwieg, nur seine Ohren sprachen eine stumme Sprache.

»Wenn du auf eine solche leichte Frage nicht 32 antworten kannst, Schwegerl, muß ich dir einen Vierer notieren.«

Schwegerls Ohren wurden vor Schrecken starr. Dafür ging jetzt sein Mund auf:

»Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber Sie haben mich noch gar nichts gefragt.«

»Was? Ich hätte dich nichts gefragt? Natürlich habe ich dich gefragt. Sattler, sag ihm meine Frage.«

Sattler war der Erste in der Klasse. Er wußte alles, er wußte mehr als alles, und er kannte den Professor in- und auswendig.

»Als was stürzt sich der Rhein in den Bodensee?« deklamierte Sattler.

»Nun, siehst du, Schwegerl, das habe ich dich gefragt.«

Eine Welle der Empörung ging durch die Klasse. Ein drohendes Gemurmel flog auf.

»Was ist denn los?« sagte der Professor.

Ich hob den Finger, ich schnellte empor, ich haspelte heraus:

»Der Sattler hat etwas gesagt, was Sie gar nicht gefragt haben, Herr Professor.«

Ein anderer Finger flog in die Höhe:

»Der Sattler hat etwas gesagt, Herr Professor, was Sie haben sagen wollen.«

»Was ich sagen wollte?« sagte nachdenklich der Professor, und es gab eine lange Pause des Nachdenkens. Dann sagte der Professor:

»Der Sattler hat recht – das habe ich wirklich fragen wollen. Also, Schwegerl: Als was stürzt sich der Rhein in den Bodensee?«

Dem Schwegerl war die eisern festgelegte Antwort längst eingeflüstert worden:

33 »Als ein Jüngling,« sagte er bedächtig, und seine Ohren legten sich befriedigt wieder nach hinten. Auch der Professor war befriedigt.

»Schön,« sagte er, »als ein Jüngling – soo, und jetzt kommen wir also zu den Städten am Rhein – aufgepaßt, die ganze Klasse!«

Mit dem Zeigestab fuhr er über die Landkarte. Jetzt blieb der Stab auf einem dicken runden Punkte stehen. Die Spitze zitterte darum herum: »Köln ist die größte Stadt am Rhein,« sagte der Professor langsam und feierlich. Und dann noch einmal: »Köln ist die größte Stadt am Rhein – Salzbrunner, wiederhol's.«

Und der Salzbrunner wiederholte:

»Köln ist die größte Stadt am Rhein.«

»Schön,« sagte der Professor, und die Spitze seines Zeigestabes zitterte weiter nordwärts, »schön, und jetzt kommen wir zu Düsseldorf. Aufgepaßt, die ganze Klasse! Düsseldorf ist die schönste Stadt am Rhein.« Dann kam eine Pause. Und dann: »Dort gibt es den besten Weinmostrich – den besten Weinmostrich – Brandstetter, sag's nach.«

»Düsseldorf ist die schönste Stadt am Rhein.« Dann schwieg er.

»Weiter,« sagte der Geographieprofessor.

»Düsseldorf ist die schönste Stadt am Rhein,« wiederholte der Brandstetter zögernd.

»Weiter, weiter, immer weiter!«

»Dort gibt es den besten – den besten Mostrich.«

»Weinmostrich,« verbesserte der Professor.

Und ich kann es wieder beschwören: Das war alles, was wir über Düsseldorf hörten. Neulich 34 hat mich ein Freund, ein alter Klassenkamerad besucht.

»Und wo hast du deinen Wohnsitz jetzt?« fragte ich ihn.

»In Düsseldorf,« sagte er.

»Aha,« sagte ich, »wo es den besten – den besten –«

»– den besten Weinmostrich gibt,« ergänzte er und lächelte.

Aber da fällt mir noch so ein schöner Satz ein, ein Wüstensatz, den wir bei ihm auswendig lernen mußten, als unser Geographieunterricht den afrikanischen Erdteil ausdörrte.

»Gefleckt wie ein Pantherfell liegt die Wüste vor den Augen des Beschauers, gelb der Sand, schwarz die Oasen.« So hieß dieser Satz. Und ihr werdet mir sagen, das ist ein schöner Satz. Und recht habt ihr, es ist ein schöner Satz.

Aber einen Augenblick, bitte – laßt euch diesen Satz fünfmal vorsagen, jedesmal mit einem wuchtigen Akzent vorne und einem unterdrückten Gähnen hinten:

»Hr hrr. Gefleckt wie ein Pantherfell liegt die Wüste vor den Augen des Beschauers, gelb der Sand, schwarz die Oasen, uah . . .« und lernt ihn auswendig bis zum nächsten Freitag (beide Zeigefinger in den Ohren):

»Gefleckt wie ein Pantherfell – gefleckt wie ein Pantherfell – gefleckt wie ein Pantherfell . . .«, und hört ihn wieder am nächsten Freitag, erst vom Schüler:

»Wie ein Pantherfell liegt die Wüste vor den –«

»Falsch! Der Nächste!«

36 »Wie ein –«

»Wieder falsch! Sattler, sag's du!«

Und Sattler, der Erste, sagte stolz und fest.

»Gefleckt wie ein Pantherfell liegt die Wüste . . .« »Brav, Sattler,« sagte der Professor, »soo – jetzt der erste noch einmal . . .,« und schreibt dann den Wüstensatz sauber nieder in eure Klassenarbeit: »Gefleckt wie ein Pantherfell . . .«, und hört ihn wieder bei der allgemeinen Wiederholung:

»Gefleckt wie ein Pantherfell . . .«, und sagt ihn schließlich in der Prüfung vor dem Herrn Inspektor auf:

»Gefleckt wie ein Pantherfell . . .«, und nachdem ihr das alles getan habt, will ich euch wieder fragen:

»Ein schöner Satz, nicht wahr? Ein wundervoller Satz . . .?« Und dazu möchte ich euer Gesicht photographieren, daß ihr's wißt.

Und als eine Rache, freilich, eine vorausgenommene Rache, hätte ich euch erlaubt, daß ihr mein Gesicht, daß ihr die Gesichter unserer Klasse abphotographiert hättet, als eines Tages ein neuer Geographieprofessor in unser Klassenzimmer trat und sagte:

»Nehmt einmal den Atlas, bitte.«

Den Atlas? O, der war noch fast ganz neu. Den Atlas hatten wir doch früher nie gebraucht? Was wollte nur der Neue mit dem Atlas?

»Nun schlagt die Alpen auf.«

»Wir wollen heute einmal eine Wanderung von München nach Venedig machen. Schaut die Karte genau an: Welchen Weg werden wir da wohl machen – der erste in der ersten Bank?«

37 Der erste in der ersten Bank, das war der Sattler:

»Entschuldigen Sie, Herr Professor,« sagte er, »das haben wir noch nicht gehabt.«

»Das weiß ich schon, drum sollt ihr's selber finden lernen auf der Karte.«

Aber der Sattler fand nichts auf der Karte, sondern blieb dabei, wir hätten es noch nicht gehabt. Und da geschah das Merkwürdige, daß der Schwegerl seinen Finger hob. Derselbe Schwegerl, der mit den Ohren wackeln konnte. Derselbe Schwegerl, der noch nie in einer Geographiestunde den Finger gehoben hatte.

Und dann geschah das weitere Wunder, daß der Schwegerl tatsächlich den Alpenweg über die Brennerstraße aus der Karte herauslesen konnte. Fluß für Fluß, und Stadt für Stadt. Und des Schwegerl Ohren haben nicht gewackelt wie früher ›aus Klassenviecherei‹, sondern nur ein wenig gezittert haben sie vor lauter Eifer und vor Aufregung, daß er einen Alpenweg hat finden können, daß er einen Alpenweg hat finden dürfen . . .

Und wie er fertig war, der Schwegerl, wie er angelangt war in Venedig, da sagte der neue Professor:

»Das war ganz richtig aus der Karte herausgelesen. So, und nun will ich euch diesen wichtigen Alpenweg auch noch lebendig machen mit dem, was ich selbst darauf gesehen habe, als ich einmal südwärts zog.«

Und dann erzählte der Neue, erzählte und erzählte . . . Mäuschenstill saßen wir auf unseren Bänken. Der grüne Innstrom rauschte. Innsbruck tauchte auf mit seinen Bergen überm 38 ›Goldenen Dachl‹, seinen erznen Helden in der Hofkirche. Andreas Hofer stand am Iselberg mit seinen Schützen, die so prächtig zielen konnten. In die schweigende Pracht der Alpen ging es hinauf. Schäumend schoß der Eisack durch das Klassenzimmer – Bozen tauchte auf, das alte Bozen – und in der Ferne winkte schon Venedig . . . 39

 


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