Fritz Müller-Partenkirchen
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Stumm

Die Pause war vorüber. Unser Schönschreiblehrer, der Kallix, kam immer noch nicht. Natürlich wurde Lärm gemacht. Frechdachs Welz hatte sich auf eine Bank geschwungen und machte den Ausrufer am Jahrmarkt:

»Hier ist zu sehen Gorogoro, der Wunderaffe. Er springt so hoch, daß er in der Luft verhungert, weshalb wir zu jeder Vorstellung einen neuen Affen benötigen!«

Gelächter.

»Hier ist zu sehen Mpuapua, die Riesenschlange, sie mißt vom Kopf bis zum Schwanz zwanzig Meter, vom Schwanz bis zum Kopf dreißig Meter, macht zusammen fünfzig Meter – in der Mitte soll sie noch dicker sein!«

Gedröhn.

»Hier ist zu sehen der Ja–guar und der Nein–guar, der Papa–gei und der Mama–gei, der Kaka–du und der Kaka–sie!«

»Bravo, bravo, weiter!«

»Hier ist zu sehen Schiuschiu, die Giraffe, sie hat einen so langen Hals, daß sie eine Tribüne um denselben tragen muß, um beim Hinabsehen nicht schwindlig zu werden!«

Gebrüll.

»Der Laie staunt, der Fachmann schmunzelt, dem Spezialisten rinnen die Tränen über die 24 Wangen, und selbst der zufällig anwesende Landesfürst konnte nicht umhin zu sagen: ›Es ist e–norm!‹«

»Jetzt die Grabrede, die Grab–re–de!«

Unser Kallix hatte nämlich kürzlich eine halten müssen.

Sofort pflanzte sich der Frechdachs aufs Katheder und setzte eine Brille aus Draht auf die Nase. Dann nahm er Trauerhaltung an und spritzte aus einem Glas Wasser in regelmäßigen Zwischenräumen Wasser in die Bänke. Jetzt machte er den Tonfall unseres Kallix täuschend nach: »Värährte Trauerversammlung! Wär stähen hier am Grabe eines Mannes, von däm wär mät Fug ond Rächt bähaupten können, daß är geboren wurde, läbte ond – starb. Nächt väle der värährten Anwäsenden wärden dassälbe von säch behaupten können. Denn könnten sie äs, läbten sie nicht mähr, und läbten sä, könnten sä äs nächt. In däsem Sinne bätte ich das Glas zo erheben und mät mär einzustimmen än dän Ruf –«

Er stutzte. Schon eine Weile war der Beifall ganz verstummt. Was hatten seine Hörer plötzlich? Er las in ihren Augen den Schrecken. Na, von seiner Grabrede brauchten sie doch nicht –

Er warf einen Blick zur Seite und erschrak am meisten. Dort an der Tür stand der Kallix. Regungslos. Schon eine ganze Weile. Das Gesicht des Lehrers war ganz weiß. Der stumme Kummer eines ganzen Lehrerlebens stand darauf gemeißelt.

Die ganze Klasse lag im Starrkrampf. Minuten verstrichen. Dem Welz wurde es unheimlich 26 auf seinem Pultplatz. Er wollte scheu herunterschleichen. Aber wie der Lehrer ihn ansah, gramvoll, unausweichlich, da konnte er es nicht.

Wenigstens das Glas wollte er hinsetzen. Er konnte es nicht. Nicht die kleinste Bewegung floß aus ihm. Vielleicht kam ihm die Ahnung, daß Lehrer keine Feinde sind. Daß sie Menschen sind mit Freud und Qual. Daß ihre Fehler unsere Fehler sind. Daß sie in harten Stunden ihre Hand herüberreichten. Daß sie nicht verstanden wurden. Daß sie seitdem, verhaltener Angst voll, längs des Grabens laufen. Das verzogene Antlitz deuten, die am drübren Grabenrande laufen, als Feindschaft gegen ihre Jugend. Und dazwischen gähnt der Graben – jahrelang.

Nicht, als hätten wir es damals so empfunden. Solche Dinge werden erst viel später klar. Unbewußt noch wehte uns das alte Leid der Schule an. Bewußt ward nur das Bangen.

Und aus dem Bangen ward ein Grauen, als Minute um Minute so verstrich. Als noch immer keiner muckste. Als die jungen Herzen stummen Generalmarsch schlugen, als sie schwächer trommelten vor Erschöpfung im Erleben einer Riesenstunde. Ich bin sicher, so alt wir alle werden, keiner wird die Stunde je vergessen. Keiner wird vergessen, wie nach undenklich langer Zeit die Stundenglocke auf dem Gange schrillte. Wird vergessen, wie der Lehrer wortlos aus der Türe ging, verschwand wie ein Gespenst. Wie wir langsam wieder die Gesichter auf den Hälsen drehen konnten. Wie nur Welz mit seinem Glase noch immer starr dastand.

Jetzt fiel's aus seiner Hand, zerschellte. Vom 27 Gesicht rutschte ihm die Drahtbrille. Ich habe sie aufgehoben und eingesteckt.

Schweigend sind wir alle heimgegangen. Über das Erlebnis haben wir uns niemals ausgesprochen. Jedesmal, wenn wir den Mund auftaten, sahen wir das erstarrte Antlitz unseres Lehrers an der Türe, und das Wort erstarb.

Neulich kramte ich unter Andenken. Da stieß ich auf die Drahtbrille. Ich wollte lächeln. Aber die Brille sah gar nicht mehr komisch aus. Grausam sah durch ihre leeren Löcher das verhängnisvolle Mißverstehen unserer Schulen. 28

 


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