Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
Fritz Müller-Partenkirchen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Betrug

»Geradeaus, zweites Hinterhaus, dritte Tür links, da schafft er immer noch, der alte Krengeldanz,« sagte die Putzfrau und schwabbelte vor Verwunderung, daß der noble Mann den verdrehten Zimmermann besuchen wollte.

»Aber hören tut er so gut wie nix!« rief sie dem Noblen nach. Der drehte sich nicht um. Er hörte selber schlecht, der Professor Waxenstein. »Geradeaus, zweites Hinterhaus, dritte Türe links,« murmelte er, und sein Zylinder zitterte leicht, als er unter der offenen Werkstattüre stand. Der alte Krengeldanz hobelte ein hochgelegnes Brett. Unterm Ellenbogen sah er den Besuch und hobelte ruhig weiter: »Jaja,« sagte er, »ich komme schon, wenn möglich heute nachmittag.« Raaatsch ratsch, raaatsch ratsch, machte der Hobel.

»Sie irren sich –«

»Jaja, ich weiß schon, Lüster in der Aula – also heute nachmittag.« Raaatsch ratsch, raaatsch ratsch . . .

»Du irrst dich wirklich, Krengeldanz,« sagte der Weißhaarige leise, nahm den Zylinder ab, setzte sich auf einen Holzbock, faltete die Hände überm Knie und sah den Hobler traurig an: »Krengeldanz, kennst du mich nicht mehr?«

92 Der Hobler setzte ein paar Hobelstriche aus. Es kam ja früher öfter vor, daß gelehrte Herren mit ihm plaudern mochten. Freilich, jetzt, wo er beinah' taub war – immerhin, man konnte ja dem Rektor den Gefallen tun, sich so zu stellen, als ob –

»Jaja, so geht es halt –«

»Krengeldanz, verstell dich nicht – ich bin der Waxenstein!«

»Jaja, so ist es,« nickte der Hobler, raaatsch ratsch, raaatsch ratsch –

»Krengeldanz, hör' mich an – ich will kein spätes Drama machen – bin zu alt dazu – du auch – will ganz still bekennen – komm, leg deinen Hobel hin –«

Er legte den Hobel wirklich hin. Aber nicht, weil er's gehört hatte – kein Wort verstand er – sondern weil ihm etwas aufgefallen war im Angesicht des Fremden. Fremde Gesichter still studieren war sein einziges Vergnügen geworden, seit er taub war. Nur durfte man's nicht merken lassen – sie könnten's krumm genommen haben – sondern reden lassen und nicken, reden lassen und nicken . . .

»Jaja, Herr Rektor, jaja –«

»Krengeldanz, was soll der ›Rektor‹ – schau, sogar zum Geheimrat haben sie mich längst gemacht da draußen – aber was sind Titel, wenn man beichten geht – ja, beichten. Krengeldanz – wirst zwar sagen, hätt' mir Zeit gelassen, seit ich damals in der Prüfung – du weißt doch noch, im alten Max-Gymnasium –«

»Jaja, Max-Gymnasium, jaja,« sagte der Zimmermann, dessen taube Ohren aus den 93 Wortgeräuschen seltsam dieses eine Wort herausgepickt, »ich weiß schon, Max-Gymnasium – Lüster in der Aula –« raatsch ratsch, raatsch ratsch –

»Du hast's also nicht vergessen, Krengeldanz, wie wir damals in der Prüfung unterm Lüster saßen – komm, hör' auf zu hobeln, Krengeldanz – wie du die Mathematikaufgaben zum Pulte hingetragen hattest, wo der Aktuar die Zeitung las, derweil ich über mein Blatt versehentlich die Tinte goß – nein, das letzte hast du nicht gewußt – warst ja hinausgegangen – hast nicht gewußt, daß sich mir vor Schreck die Haare sträubten – eine Vier im Fach, das sechsmal zählte, um Gottes willen – hast nicht gewußt, daß mein Blatt ganz unlesbar geworden, und daß keine Zeit mehr war, sie neu zu rechnen – wußtest nicht, wie ich doch vom Aktuar neues Papier verlangte – ›Da,‹ sagte er und sah nicht auf, so daß ich mit den leeren Blättern dein abgeliefert Blatt unbemerkt hereingenommen habe, auf das Bänkchen unterm Lüster – hast nie erfahren, daß ich alles abschrieb – daß mir aber plötzlich der Gedanke kam: ›Wie, wenn Fehler drin sind, die dein Abschreiben ans Tageslicht bringen?‹ – daß ich, wie im Fieber, dein Blatt zusammenknitterte und in die Tasche schob – daß ich in fliegender Eile deine Schrift nachahmend, auf dem leeren Blatte deinen Namen schrieb und eben daran war, etwas veränderte Lösungen draufzumalen, als es läutete – als der Aktuar hinter seiner Zeitung auffuhr: ›Einsammeln, rasch, keine Minute darf laut Vorschrift zugegeben werden!‹ – und als er, wie wir zögerten, an den Bänken entlang tigerte und 94 alle Blätter wegriß, darunter auch das angefangene mit deinem Namen!«

Der Sprechende verschnaufte: »Krengeldanz, jetzt ist's heraussen,« setzte er mit einem Blick zum Boden zu.

»Soso ist die Geschichte?« sagte der alte Hobler, der kein Wort verstanden hatte. »Das wird schon passen,« dachte er, »das paßt auf alle hunderteins Geschichten, die die Leute meinen tauben Ohren schon anvertraut haben – schnurrig sind die Leute oft, so schnurrig.« Und laut setzte er hinzu: »Jaja, da kann man halt nichts machen.«

»Krengeldanz, das sagst du jetzt so ruhig? – Freilich hätte ich noch was machen können, damals – hätte vor Verkündigung der Prüfungsnoten hin zum Rektor laufen können: ›Das hab' ich getan, ja das!‹ – aber dann hätten sie mich geschmissen – während so – wer weiß, vielleicht kamst du trotz des leeren Blattes durch – vielleicht ward alles gut – vielleicht konnten meine reichen Eltern deinen armen Eltern ein wenig unter die Arme greifen zum Ausgleich – vielleicht konnte ich – ›. . . und Schüler Krengeldanz ist wegen völligen Versagens in einem Fache durchgefallen,‹ gellte mir des Rektors Stimme in den Ohren – und hat doch nicht so arg gegellt, als was du, totenbleich, neben mir geflüstert hast: ›Weiß schon, es wird der deutsche Aufsatz sein‹ – Krengeldanz, wirst du je verzeihen können, sag?« Den Boden baten seine Augen.

Raatsch ratsch, zwei Hobelstriche: »Hm ja, das ist so eine Sach' – eine Sach' –«

»Schau, Krengeldanz, ich könnte sagen, dein 95 Vater, der kleine Handwerksmann, war damals praktisch am Bankrott – könnte geltend machen, mein Vater hat auf meine flehentliche Bitte helfend eingegriffen – könnte anführen, daß ich als Student von meinem Monatswechsel gut ein Drittel sparte, was dann namenlos an deine Adresse ging, damit du die Lehre, in die du nach dem Durchfall eingesteckt warst, leichter überstehen solltest – all das könnt' ich sagen und noch mehr, womit ich meine Schuld betäubte damals, daß sie wirklich 's Maul nicht aufgemacht hat, viele, viele Jahre – was aber nützt das alles – unterirdisch hat's mich doch herumgetrieben all die Zeit her – gewiß, ich bin vorangekommen in der Welt, was man so heißt – habe Ehren eingeheimst und Titel, Orden – aber glaub mir, Krengeldanz: ich bin nie froh geworden mehr seitdem – weißt du, was das heißt: nie froh – weißt du, was das sagen will: immer wenn eine Freude kam, eine Freude fällig war, die ich mir mit einer Arbeit oder einer Treue verdient zu haben glaubte, wenn das Gesicht die Sorgenfalten abwarf und die Entspannung kommen wollte, die dem Leben erst den Sinn des neuen Quellens gibt – hui, gellte mir das Flüstern in die Ohren: ›Weiß schon, der deutsche Aufsatz wird es sein‹ – ratsch, weg war alle Freude – ja, raatsch ratsch, wie es dein Hobel macht – Krengeldanz, die Strafe war nicht klein – und doch und doch, es soll Leute ohne Freude geben, die damit keine Schuld zu büßen haben – also blieb ein ungetilgter Rest, ein Rest der Reue, den ich mitgeschleppt durchs Leben – schau, Krengeldanz, gewerkelt 96 habe ich wie du durchs ganze Leben, ehrlich mich geschunden, um eine Unehrlichkeit zu vergessen – eine, Krengeldanz, ich habe nur die eine – ich hab' es endlich mit der rastlosen Werkelei dahingebracht, daß dein Flüstern dumpfer ward und dumpfer – daß ich mit Erfolg so tat, als könnt' ich's nicht verstehen – daß ich mich betrog, bis sie mich jetzt am späten Lebensabend pensionierten. – Und was geschah – am ersten arbeitslosen Tage gellte es: ›Weiß schon, der deutsche Aufsatz wird es sein!‹ – Als alten Mann hat es mich hergetrieben in die lang gemiedne Vaterstadt, an die mich nichts mehr band, als ein Gymnasialverbrechen – hergetrieben, um's dir in die Ohren abzubeichten: ›Nein, Krengeldanz, der deutsche Aufsatz war es nicht, ich bin es gewesen, der Geheimrat Waxenstein, der die Leiter aufstieg hinter dem Betrug, indessen der Betrogene sich durchs Leben hobeln mußte!‹ – Einmal hat es ja so kommen müssen, das war klar – nur was mir nie recht klar geworden draußen, Krengeldanz, das war: ›Warum hat's der Krengeldanz in seinem Fach nicht hochgebracht, warum ist er seiner Lebtag – sei nicht bös – ein Flickzimmermann geblieben, der sich von den Sorgen für den nächsten Tag nie los hat schuften können mit aller Arbeit?‹ – Gar zu gerne hätt' ich mein Gewissen damit ausgestopft: ›Also hätte es der Krengeldanz, auch wenn er durch die Prüfung damals durchgekommen wäre, auch nicht weitgebracht‹ – grausam hat man mir den bequemen Star gestochen, als ich herkam: ›Jaja, der Krengeldanz hat sich damals, als er durchfiel, dem Alkohol ergeben vor Verzweiflung, und des Vaters Kampf dagegen war ein Schlag ins Wasser deshalb, weil der Junge monatlich geheimnisvolle Gelder kriegte . . .‹ – meine Gelder, Krengeldanz – ich auch daran schuld – die Folgen einer bösen Tat sind eisern, selbst darin, was wir gutzumachen hoffen – Krengeldanz, ich frag' dich nicht mehr: ›Kannst du mir vergeben?‹ – was ich tat, ist unvergebbar – nein, nicht zu winseln bin ich hergekommen, sondern zu bekennen: ›Krengeldanz, ich habe dich vernichtet, vernichte mich auch, strafe mich, züchtige mich, tu was du willst mit dem Betrüger deiner Jugend!‹«

Erschüttert hatte es der Alte hingeflüstert, nicht die Augen wagte er zu heben. Der Hinterhauswind strich durch das offene Werkstattfenster und zauste leicht an weißen Locken, ließ unbewegt den starren kahlen Schädel des alten Zimmermanns, der ein wenig unbehaglich dachte: »Komisch, daß der Rektor mir so langen Sums erzählt – scheint sich in irgend etwas Luft zu machen – keine Ahnung, was es sein mag – wird ein Tratsch sein, wie bei den alten Weibern, die ihr Herz mit Vorlieb' grad in meine tauben Ohren schütten – Tratsch, wie fast alles in dem Leben, nur ein wenig feiner – heißt das, sein Gesicht ist anders als die andern – studier' es jetzt seit einer halben Stunde, was besonders daran ist – ja, jetzt weiß ich's: keine Freude hat es, nicht die Spur von Freude! – soll oft so sein in hohen Ständen, sagen sie – na, da haben wir's doch schöner an den Hobelbänken dieses Lebens: wenn's auch knorrig kommt mit harten Ästen, ein Stückel Freud' ist manchmal 98 doch dabei – jaso, eine Antwort scheint er zu erwarten, der Herr Rektor?«

»Raatsch ratsch, hm ja, das ist so eine Sach' –«

»Sieh, Krengeldanz, ich hab' dir eine Rente ausgesetzt – heute oder morgen kannst du deinen Hobel in die Ecke werfen – kannst behaglich leben bis ans Ende – dennoch, dennoch, meine Strafe will ich, meine Strafe!«

»Ja, heute nachmittag um drei Uhr also in der Aula – nichts für ungut, ich muß weiterhobeln – raatsch ratsch, raatsch ratsch . . .«

Der Herr mit dem Zylinder ging gedrückt durch die Hinterhöfe: »An die Stätte meiner Schandtat hat er mich bestellt? – gut, gut – was er mir auch auferlegt, wenn ich darnach nur einmal wieder Freude –« Sein Zylinder schwankte leise. »Sonderbar,« guckte ihm die Putzfrau nach, »sonderbar, sollte dieser feine Herr mit dem alten Saufaus eins gemeinsam hinter die Binde . . .?«


Es war fünf Minuten vor drei Uhr, als der Pedell des Max-Gymnasiums mit dem Zimmermann Krengeldanz mürrisch die Aulatreppe hinauf stieg: »Jetzt, wo die Ferien kaum begonnen haben,« brummte er, »hätten Sie auch später –«

»Jaja,« sagte der Kahlkopf, »um drei Uhr hat er mich bestellt, der Rektor.«

»Dummes Zeug, der ist ja in den Ferien!«

»Jaja, wird schon so sein – also das da ist der Lüster?« Er schaute ein wenig stier auf die Decke der Aula, in der sie seinen frühen Jungenehrgeiz elendiglich ersaufen hatten lassen. Aber 99 es zuckte nichts in seinem Gesicht. Alles weggehobelt, glatt weggehobelt – raatsch ratsch –

»Den Fußboden darüber hab' ich selber freigelegt,« sagte der Pedell, »Sie haben nur das Sperrholz nachzusehen, das die Verschraubung hält – nach meiner Meinung hält der Lüster ja noch lange, aber der Herr Rektor hat nun einmal die Vermutung, daß er sich gelockert haben könnte – kommen Sie ins obere Stockwerk, bitte.«

Sie stiegen auf den Speicher. Sie bückten sich im Zwielicht über eine aufgerissene Diele. »Jaja,« sagte der alte Zimmermann und fuhr mit einer Zange in den Fehlboden, »jaja, man kann schlecht sehen.«

Der Pedell horchte in das Loch hinunter. »Da drunten ist eine Tür gegangen,« sagte er ärgerlich, »sicher haben Sie die Aulatür' nicht hinter sich geschlossen, und jetzt spielt der Wind mit –«

»Jaja, recht schlecht sehen kann man – wenn Sie ein Zündholz –?«

Ein Streichholz flammte auf. Die Zange fuhr an eine eiserne Verschraubung, die in einen hölzernen Querbolzen eingelassen war. Aber sie griff daneben an das Holz. Das zerbröselte wie Zunder.

»Mensch!« schrie der Zimmermann den erschrockenen Pedell an, »wissen Sie auch, daß das die höchste Zeit – heißt das, wenn's nicht überhaupt zu spät –«

Die Zange klopfte auf die doppelte Verschraubung, die heraufglotzte wie die beiden Augen eines wilden Tieres. Da – jetzt ächzte das Tier – nein, das zundrige Querholz – die Augen 100 sanken ein – wie durch Butter sanken sie – verschwanden – Moder wirbelte aus dem Fehlboden – das Knirschen der zerbissnen Auladecke wurde hörbar – ein Krach, ein fürchterlicher Schrei – von unten her –

Die beiden standen entgeistert in der Aulatüre und starrten auf den weißhaarigen Mann, dem die Spitze des herabsausenden Lüsters haargenau im Scheitel den Schädel zerspalten hatte. Wie zwei aufgeschlagene Blätter sah es aus: ein weißes, unbeschrieben glänzendes, links vom Scheitel – und rechts vom Scheitel ein dunkles, vom Blut beschriebenes . . . 101

 


 << zurück weiter >>