Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
Fritz Müller-Partenkirchen

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Der Sprecher

Ich meine nicht den allmächtigen »Speaker« im englischen Unterhause. Auch den Sprecher meine ich nicht, den man ans Radio anschließt. Noch weniger einen, der sich mausig macht, was wir Münchner Buben damals gleichfalls einen »Sprecher« nannten.

Ich meine vielmehr unsren Rektor selig, der uns alle Nasenlänge – »Anlaß« hieß es amtlich – aus den Klassenzimmern in die Aula sprengte, um zu reden.

»Verährte Ältern, wärtes Lährerkollächium, liebe Schöler! Könich Odo ist dod, äch benötze dese Drauerkonde, . . .«

Ach ja, er hat sie benützt, diese Trauerkunde. Zu einer Rede hat er sie benutzt, die Punkt acht Uhr fünfundzwanzig anfing, und die zu Ende ging um – aber ich will's der Reihe nach erzählen.

8 Uhr 45 gähnte der Zeichenlehrer.

8 Uhr 50 unterdrückte der Naturgeschichtsprofessor einen Gähnkrampf mittels Nasenkitzeln.

8 Uhr 55 hatte das ganze »Lährerkollächium« um die respektiven Nasen was zu kitzeln.

9 Uhr wurde der Göggelmann von der Tertia ohnmächtig und mußte hinausgetragen werden, während es vom Katheder tönte: »Äch komme non zu meiner Räde zweiten Absatz . . .«

47 »Ein Stiefel, dachte ich, hätte nur einen Absatz,« hörte ich neben mir den Aufsatzlehrer brummen.

Um 9 Uhr 10 Minuten hatten die aus der Oberprima ein Mittel erfunden, um sich auf den Beinen zu erhalten. Immer zwei stützten sich Rücken gegen Rücken.

Um 9 Uhr 15 Minuten hörte ich den Wiehrler Max zu seinem Nachbarn sagen: »Schaug, daß d' aa ohnmächtig werst, damit i mit nauskomm.« – »Meinst, des geht so leicht bei mir mit mei'm roten Beli, probier's du, du schaugst sowieso alleweil kaasweiß aus, dir glaubt ma's ehnder.«

Da sie sich nicht einig werden konnten, wurden sie um 9 Uhr 30 alle beide ohnmächtig, der mit dem roten Beli und der mit dem kaasweißen, und wurden unter Beihilfe eines Trauergefolges hinausgebracht, dem sich lawinenartig ganze Erdrutsche von links und rechts anschlossen, während unerschütterlich der Sprecher droben weiterfuhr: »Äch komme non zu den sättlichen Folgerungen, die säch für ons aus däser Drauerkonde ergäben . . .«

Nichts, was um ihn vorging, sah und hörte er.

Um 9 Uhr 40 sagte der Ledermann Karl, der fade Mensch, der die Rede auf der hochgezogenen Kniescheibe nachstenographierte, er fände sie sehr interessant.

Um 9 Uhr 45 als sie sahen, daß der ganze Vormittag dran glauben würde müssen, hatten alle Lehrer heimlich eine Verschwörung geschmiedet. In abgemessenen Zwischenräumen und auf Zehenspitzen räumte eine Klasse nach der andern das 48 Lokal, um in ihren Zimmern unten ihrer Tagesarbeit nachzugehen. Da es Dutzende von Klassen waren, sollte der geheime Wechsel so gedeichselt werden, daß durch die Hinterpforte wieder neugestärkte Klassen einrückten, um die Lücken an der Vorderpforte eine Weile auszufüllen.

Ich bin an diesem Tage dreimal aus der Aula aus- und in die Aula wieder eingerückt . . . ». . . ond so sähen wir denn, verährte Anwäsende –,« scholl's beim Fortgang, » . . . ond so haben wir denn gesähen –,« scholl's beim Eintritt.

Wie ein zäher Gletscherstrom floß es durch diese Aula, indes es droben unbekümmert weitersprach und sprach: »Ond so fassen wir denn, läbe Anwesende, en onseremGeiste zosammen . . .«

Elf Uhr dröhnte es dumpf von der nahen Paulskirche an die Aulascheiben und er faßte noch immer zusammen.

11 Uhr 30 . . . er faßte zusammen.

11 Uhr 40 . . . er faßte.

12 Uhr faßte der Pedell – sich ein Herz und rasselte mit den Schlüsseln. Zum ersten Male, daß der Rektor stutzte. Der alte Pedell stand, wie alle alten Pedelle, heimlich überm Rektor, welcher eilig schloß: ». . . ond in däsem Sänne bätte ich Sä, mit mir einzostämmen en dän Rof –«

Er stockte. Er hatte den Ruf vergessen. Er begann von neuem. Die Aula leerte sich hastig. Ich wurde mit hinausgespült. Ich habe nie erfahren, welchem Ruf wir Folge hätten leisten sollen.

Doch, ich habe es erfahren. Nach der Schule.

49 Wir alle, welche wir uns damals gähnend und mit Wadenkrämpfen Rücken gegen Rücken aufrechthielten, haben es erfahren. Dem Ruf des Lebens hatten wir zu folgen.

Wir folgten ihm. Wir wurden Männer. Wir arbeiteten. Wir wählten Führer in die Parlamente. Wir kamen einmal, als uns alte Oberprimaner der Zufall irgendwo zusammenspülte, auf den schnurrigen Gedanken, die Gewählten anzuhören.

Da standen wir denn eines Tages, vor Ehrfurcht schauernd, auf der Parlamentstribüne.

Jemand redete. »Meine sähr verährten Härren! Könich Odo ist dod . . .« So, oder wenigstens so ähnlich klang es.

3 Uhr 45 gähnte unser alter Klassenerster.

3 Uhr 55 unterdrückte unser alter Klassenletzter einen Gähnkrampf mittels Nasenkitzelns.

4 Uhr, als es von der Rostra tönte: »Äch komme non zom zweiten Ponkt . . .«, sahen wir uns erinnernd an und lehnten Rücken gegen Rücken.

4 Uhr 15 wurde der Göggelmann käsweiß, 4 Uhr 20 der Wiehrler Max krebsrot.

»Äch komme non zo den sättlichen Folgerungen, dä säch aus däser Gesätzesvorlache ergäben . . .«

Wir sahen uns an. Wir blickten nach der Wand, wo von Lenbachs Hand der Bismarck hing. Ach, daß der alte Pedell des Deutschen Reiches mit den Schlüsseln rasselte . . .

Sieh da, hatten die umbuschten Augen nicht geblitzt. Hatte nicht der herbe Mund sich aufgetan. Ward der Mann am Rednerpulte nicht auf einmal seltsam irre: ». . . ond in däsem 50 Sinne bätte ich Sä, mit mir einzustämmen en dän Ruf –«

Er stockte. Er hatte den Ruf vergessen. Er begann von neuem: »– en dän Rof – dän Rof –«

»An die Arbeit, Kinder!« wehte es vom Bild des alten Reichspedellen.

Schweigend sind wir heimgegangen. Zu unserer Arbeit.

»Da rauf bringt mich kein Mensch mehr,« sagte der Göggelmann.

»Keine vierzig Ross',« sagte der Wiehrler Max.

Nur der Ledermann Karl sagte nichts, der fade Mensch.

»Na, warte,« sagten wir und – wählten ihn im nächsten Frühjahr in das Parlament. 51

 


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